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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 25|2020

Update Arbeitsrecht 25|2020 vom 09.12.2020

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Crowdworker sind doch Arbeitnehmer

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 01.12.2020, 9 AZR 102/20

Ist eine Online-Plattform darauf ausgerichtet, dass möglichst gut eingearbeitete Nutzer viele detailliert vorgegebene Kleinstaufträge persönlich erledigen, kann ein Arbeitsverhältnis vorliegen.

§ 611a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 17 Abs.3 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG)

Rechtlicher Hintergrund

Arbeitnehmer sind aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags zu Dienstleistungen verpflichtet, und darin unterscheiden sie sich erst einmal nicht von freiberuflichen bzw. selbständigen Dienstvertragsnehmern. Im Unterschied zu Freiberuflern sind Arbeitnehmer aber von ihrem Auftraggeber persönlich abhängig. Das wiederum ist man, wenn man die Weisungen seines Brötchengebers befolgen muss, und zwar nicht nur in Bezug auf die Arbeitsinhalte, sondern auch in Bezug auf den Ort und die zeitliche Lage der Arbeitszeit, wenn man in den Betrieb des Auftraggebers „eingegliedert“ ist und wenn man kein eigenes unternehmerisches Risiko trägt, also v.a. nicht selbst Arbeitnehmer beschäftigt.

Diese Unterscheidungsmerkmale wendet das Bundesarbeitsgericht (BAG) seit langem an, um zu klären, ob ein Dienstvertragsnehmer im Arbeitsverhältnis steht (und daher Urlaub, Lohnfortzahlung bei Krankheit und meist auch Kündigungsschutz beanspruchen kann), oder ob ein freiberufliches Vertragsverhältnis vorliegt. Zu Anfang April 2017 wurden diese vom BAG entwickelten Abgrenzungsmerkmale in das Gesetz übernommen, nämlich in § 611a Abs.1 Satz 1 bis 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Diese Vorschrift lautet:

„Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen. Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann.“

Seit einigen Jahren ist umstritten, ob Crowdworker als Arbeitnehmer oder als Selbstständige anzusehen sind. Crowdworker nehmen über eine Internetplattform einzelne kleine Aufträge an, z.B. die Fotodokumentation von Ladengeschäften oder Auslagen. Dahinter stehen Kunden des Plattformbetreibers, die wissen möchten, ob ihre Markenartikel und/oder Werbetafeln vor Ort in der vereinbarten Weise präsentiert werden.

Vor einem Jahr hatte das Landesarbeitsgericht (LAG) München entschieden, dass Crowdworker keine Arbeitnehmer sind (LAG München, Urteil vom 04.12.2019, 8 Sa 146/19, s. dazu Update Arbeitsrecht 07|2020 vom 01.04.2020). Vor einigen Tagen hat der Neunte Senat des BAG den Fall des LAG München andersherum entschieden: Der im Streitfall klagende Crowdworker war Arbeitnehmer, so das BAG.

Sachverhalt

Ein Crowdworker hatte einen Plattformbetreiber verklagt, u.a. auf Feststellung eines Arbeitsverhältnisses. Der Betreiber kontrolliert für seine Kunden die Präsentation von Markenprodukten im Einzelhandel und an Tankstellen. Die Kontrollen werden von Crowdworkern erledigt. Sie müssen Fotos von der Warenpräsentation anfertigen und Fragen zur Bewerbung von Produkten beantworten.

Grundlage dafür waren im Streitfall eine „Basis-Vereinbarung“ und allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) des Plattformbetreibers, der die Aufträge über seine Online-Plattform anbietet. Wer sich dort registrieren lässt und die erforderliche Handy-App bei sich installiert, kann die auf der Plattform angebotenen Aufträge annehmen, ohne dazu verpflichtet zu sein. Übernimmt man einen Auftrag, muss man ihn meist binnen zwei Stunden nach genauen Vorgaben erledigen. Für erledigte Aufträge gibt es Geld und Erfahrungspunkte auf dem Nutzerkonto. Je höher das erreichte Level an Erfahrungspunkten („XPs“), desto mehr Aufträge kann man gleichzeitig annehmen, so dass man bei einem höheren Level Routen mit mehreren Aufträgen zusammenzustellen und diese effektiver erledigen kann.

Der klagende Crowdworker war von Juli 2016 bis April 2018 für den Plattformbetreiber tätig. Im April 2018 kündigte der Plattformbetreiber, entsprechend seinen AGB per E-Mail. Im Juli 2018 erhob der Crowdworker vor dem Arbeitsgericht München Klage auf Feststellung eines Arbeitsverhältnisses, auf Weiterbeschäftigung und auf Zahlung entgangener Vergütung. Während des Prozesses, im Juni 2019, kündigte der Plattformbetreiber ein möglicherweise bestehendes Arbeitsverhältnis vorsorglich.

Das Arbeitsgericht München (Urteil vom 20.02.2019, 19 Ca 6915/18) und das LAG München wiesen die Klage ab (LAG München, Urteil vom 04.12.2019, 8 Sa 146/19). Dabei stützte sich das LAG v.a. auf die Überlegung, dass der Kläger selbst über seine Zeit entscheiden konnte (LAG, Urteil, Rn.138).

Entscheidung des BAG

In Erfurt hatte der Kläger Erfolg, allerdings nur teilweise, denn das BAG hielt die im Prozessverlauf erklärte Kündigung des Plattformbetreibers vom Juni 2019 für wirksam. Immerhin war das BAG der Meinung, dass der Kläger Arbeitnehmer war. Dazu heißt es in der derzeit allein vorliegenden Pressemeldung des BAG:

Die Gesamtwürdigung der tatsächlichen Durchführung des Vertragsverhältnisses kann ergeben, dass Crowdworker als Arbeitnehmer anzusehen sind. So war es auch hier im Streitfall. Der Kläger leistete, so das BAG, weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit, obwohl er zur Annahme von Aufträgen nicht verpflichtet war.

Entscheidend war für die Erfurter Richter, dass die Organisationsstruktur der Plattform darauf ausgerichtet ist, dass registrierte und gut eingearbeitete Nutzer fortlaufend bündelweise Aufträge annehmen, die sie dann umgehend in einer genau vorgegebenen Weise persönlich abarbeiten müssen. Zur Abhängigkeit trug hier auch das Punktesystem bei, da man erst bei einem höheren Erfahrungslevels gleichzeitig mehrere Aufträge annehmen kann, so dass man durch eine bessere Routenplanung einen höheren Stundenlohn erzielt. Dieses „Anreizsystem“ veranlasste den Kläger, so das BAG, in der Nähe seiner Wohnung kontinuierlich Aufträge zu erledigen.

Praxishinweis

Der wirtschaftliche Nutzen des vor dem Neunten BAG-Senat gewonnenen Prozesses ist für den Kläger noch offen, denn das BAG gab seiner Zahlungsklage nicht statt, sondern verwies den Rechtsstreit in diesem Punkt wieder zurück an das LAG.

Offenbar folgt der Neunte BAG-Senat, wie der Pressemeldung zu entnehmen ist, der geänderten Rechtsprechung des Fünften BAG-Senats, der im Sommer 2019 entschieden hat, dass die mit einem Scheinselbständigen vertraglich vereinbarte Bezahlung nicht immer als rechtlich gültiger Arbeitslohn anzusehen ist, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass das vermeintlich freie Dienstverhältnis ein Arbeitsverhältnis ist (BAG, Urteil vom 26.06.2019, 5 AZR 178/18, s. dazu Update Arbeitsrecht 05|2019 vom 27.11.2019).

Daher muss jetzt das LAG München aufklären, wie hoch die „übliche Vergütung“ für Tätigkeiten wie die des Klägers war, wenn er als Arbeitnehmer gearbeitet hätte, d.h. wie hoch der übliche Arbeitslohn für vergleichbare Tätigkeiten war (§ 612 Abs.2 BGB).

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 01.12.2020, 9 AZR 102/20

 

Handbuch Arbeitsrecht: Arbeitnehmer

Handbuch Arbeitsrecht: Scheinselbstständigkeit

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