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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 04|2019

Update Arbeitsrecht 04|2019 vom 13.11.2019

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Kündigungsschutz von Mitgliedern eines Betriebsrats, der auf tariflicher Grundlage für eine besondere Organisationseinheit zuständig ist

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27.06.2019, 2 AZR 38/19

Kein stärkerer Sonderkündigungsschutz bei Betriebsstilllegungen aufgrund der Mitgliedschaft in einem Betriebsrat im Sinne von § 3 Abs.1 BetrVG

§ 3 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG); § 15 Kündigungsschutzgesetz (KSchG)

Rechtlicher Hintergrund

§ 1 Abs.1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) sieht vor, dass in Betrieben ab einer bestimmten Arbeitnehmerzahl Betriebsräte zu wählen sind. Nach der Rechtsprechung ist ein „Betrieb“ im Sinne des BetrVG eine „organisatorische Einheit“, in der der Arbeitgeber allein oder zusammen mit seinen Mitarbeitern bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt, die sich nicht in der Befriedigung des Eigenbedarfs erschöpfen.

Welche Zweigstellen, Abteilungen oder Filialen eines Unternehmens als betriebsratsfähige Betriebe anzusehen sind, richtet sich nach dieser Definition. Im Zweifel müssen darüber die Arbeitsgerichte entscheiden. Traditionell spielt das räumliche Beisammensein am Arbeitsplatz dabei eine wichtige Rolle.

§ 3 Abs.1 BetrVG erlaubt es, auf tariflicher Grundlage von der Regel abzuweichen, dass pro Betrieb ein Betriebsrat zu bilden ist. Wenn ein Tarifvertrag dies vorsieht, kann ein Betriebsrat auch betriebsübergreifend bzw. unternehmenseinheitlich gebildet werden (§ 3 Abs.1 Nr.1 a) BetrVG), oder es können unternehmensübergreifende Betriebsräte in einem Konzern gewählt werden (§ 3 Abs.1 Nr.2, Nr.3 BetrVG).

Die in dieser Weise festgelegten betriebsverfassungsrechtlichen Organisationseinheiten gelten als Betriebe im Sinne des BetrVG (§ 3 Abs.5 Satz 1 BetrVG). Die Mitglieder eines so gebildeten Betriebsrats sind vor Kündigungen und Versetzungen ebenso geschützt wie „normale“ Betriebsratsmitglieder. Denn auf sie

„finden die Vorschriften über die Rechte und Pflichten des Betriebsrats und die Rechtsstellung seiner Mitglieder Anwendung“ (§ 3 Abs.5 Satz 2 BetrVG).

Gesetzlich nicht klar geregelt ist die Frage, wie weit der besondere Kündigungsschutz von Mitgliedern eines Betriebsrats geht, der auf tariflicher Grundlage für mehrere Betriebe zuständig ist, wenn einer dieser Betriebe stillgelegt wird, andere aber weiterbestehen.

Aus Arbeitgebersicht könnte man sagen: Hier liegt eine Betriebsstilllegung im Sinne von § 15 Abs.4 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) vor, so dass die in dem geschlossenen Betrieb beschäftigten Betriebsratsmitglieder ordentlich gekündigt werden können, denn das erlaubt § 15 Abs.4 KSchG bei Betriebsstilllegungen.

Aus Sicht der betroffenen Betriebsratsmitglieder könnte man dagegenhalten: Wenn gemäß Tarif ein für mehrere Betrieben zuständiger Betriebsrat gebildet ist, ist die Stilllegung eines dieser Betriebe allenfalls als Schließung einer Betriebsabteilung anzusehen, so dass die Betriebsratsmitglieder in die verbleibenden Betriebe zu übernehmen sind (§ 15 Abs.5 KSchG). Die Kündigung eines Betriebsratsmitglieds wegen Stilllegung „seines“ Betriebes wäre dieser Meinung nach nicht möglich.

Sachverhalt

Drei Konzernunternehmen, die jeweils Betriebsstätten in Hamburg, Berlin und Leipzig unterhielten, vereinbarten mit der zuständigen Gewerkschaft im März 2016 einen Strukturtarifvertrag gemäß § 3 BetrVG. Danach wurden die Betriebsstätten der betreffenden Unternehmen in Hamburg, Berlin und Leipzig ab Mai 2016 zu einer (unternehmensübergreifenden) betriebsverfassungsrechtlichen Organisationseinheit zusammengefasst, für die ein Betriebsrat gewählt werden sollte.

Einer der in Berlin tätigen Arbeitnehmer, der als Nachrücker dem Betriebsrat angehörte, wurde wegen Schließung des Berliner Betriebs (Juni 2017) ordentlich gekündigt, nämlich mit Kündigung vom November 2017. Dagegen reichte er Kündigungsschutzklage ein und berief sich auf seinen besonderen Kündigungsschutz als Betriebsratsmitglied. Denn er hatte noch im April 2017 an einer Betriebsratssitzung teilgenommen, so dass ihm nach seiner Ansicht der einjährige nachwirkende Kündigungsschutz zustand (§ 15 Abs.1 Satz 2 KSchG).

Das Arbeitsgericht Berlin (Urteil vom 28.03.2018, 54 Ca 15017/17) und das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg gaben der Klage statt (Urteil vom 07.12.2018, 6 Sa 709/18). Denn, so das LAG: Eine Betriebsstillegung gemäß § 15 Abs.4 KSchG lag nicht vor, weil der durch den Strukturtarifvertrag gebildete „Gemeinschaftsbetrieb“ nicht insgesamt stillgelegt worden war (LAG, Urteil, Rn.39).

Entscheidung des BAG

Das BAG hob die Entscheidung des LAG auf und verwies den Fall zurück nach Berlin.

Denn die Bildung einer betriebsübergreifenden Organisationseinheit auf tariflicher Grundlage gemäß § 3 Abs.1 BetrVG hat nur Auswirkungen für die Arbeit des Betriebsrats im Rahmen des BetrVG, so das BAG. Für den Kündigungsschutz von Betriebsratsmitgliedern gemäß § 15 KSchG spielt ein betriebsverfassungsrechtlicher Strukturtarifvertrag dagegen keine Rolle (Urteil, Rn.22).

Würde man eine tariflich vereinbarte Organisationseinheit zugunsten der für sie zuständigen Betriebsratsmitglieder als „Betrieb“ im Sinne von § 15 Abs.4 KSchG ansehen, würde das den Kündigungsschutz über § 15 Abs.4 KSchG hinaus erweitern. Mittelbar käme es zu einer rechtlichen Belastung der Arbeitnehmer der verbleibenden Betriebe, denn diese müssten die Betriebsräte des stillgelegten Betriebs aufnehmen und dazu möglicherweise Arbeitsplätze freikündigen (Urteil, Rn.28).

Ergänzend weist das BAG darauf hin, dass der hier im Streitfall vereinbarte Strukturtarifvertrag nicht als Bildung eines Gemeinschaftsbetriebes der beteiligten drei Unternehmen anzusehen ist (Urteil, Rn.14).

Praxishinweis

Strukturtarifverträge können Betriebe bzw. Betriebsstätten eines Unternehmens oder verschiedener (Konzern-)Unternehmen zwar zu einer betriebsverfassungsrechtlichen Organisationseinheit und damit zu einem „Betrieb“ im Sinne des BetrVG zusammenfassen, doch wird dadurch die kündigungsrechtliche Absicherung der Mitglieder des Betriebsrats nicht über § 15 KSchG hinaus erweitert.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27.06.2019, 2 AZR 38/19

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