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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 22|2020

Update Arbeitsrecht 22|2020 vom 28.10.2020

Entscheidungsbesprechungen

Das BAG bittet den Europäischen Gerichtshof um Klärung, ob Urlaubsansprüche verjähren können

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 29.09.2020, 9 AZR 266/20 (A)

Werden Arbeitnehmer nicht zum Urlaub aufgefordert, kann der Urlaub gemäß dem EU-Recht nicht verfallen, aber ist auch eine Urlaubsverjährung europarechtlich ausgeschlossen?

Art.7 Richtlinie 2003/88/EG; Art.31 Abs.2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union; § 7 Abs.3 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG); §§ 195, 199 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

Rechtlicher Hintergrund

§ 7 Abs.3 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) sieht vor, dass der gesetzliche Mindesturlaubsanspruch von vier Wochen an das Kalenderjahr gebunden ist. Daher verfällt der Anspruch kraft Gesetzes automatisch Ende Dezember, wenn er bis dahin nicht in Anspruch genommen worden ist.

Kann der Urlaub wegen dringender betrieblicher oder persönlicher Gründe nicht bis zum Jahresende genommen werden, wird er auf das Folgejahr übertragen. Er verfällt dann aber doch, wenn er nicht spätestens bis Ende März des Folgejahres genommen wird (§ 7 Abs.3 Satz 2 und 3 BUrlG).

Arbeitgeber können sich auf diese Verfallsregelungen aber nur berufen, wenn sie ihre Arbeitnehmer zuvor rechtzeitig darauf hingewiesen haben, dass ein ungenutzter Urlaubsanspruch gemäß § 7 Abs.3 BUrlG am Ende des Kalenderjahres (bzw. Ende März des Folgejahres) verfällt. Der Hinweis ist mit der Aufforderung zu verbinden, den Urlaub zu beantragen. Diese Verfahrensregeln hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) aus Art.7 Richtlinie 2003/88/EG hergeleitet, der allen Arbeitnehmern der EU einen vierwöchigen Mindesturlaub garantiert (EuGH, Urteil vom 06.11.2018, C-684/16 [Shimizu], Rn.45). Dementsprechend musste das Bundesarbeitsgericht (BAG) seine Rechtsprechung zu § 7 Abs.3 BUrlG anpassen (BAG, Urteil vom 19.02.2019, 9 AZR 541/15, Rn.30).

Da die Obliegenheit des Arbeitgebers, auf einen drohenden Urlaubsverfall am Jahresende hinzuweisen, vor den o.g. beiden Urteilen des EuGH und des BAG unbekannt war, und da auch seitdem solche Hinweise in vielen Unternehmen nicht gegeben werden, kommt es vor, dass Arbeitnehmer über Jahre hinweg immer größere Urlaubsansprüche ansammeln. Denn wenn der Urlaub am Jahresende nicht verfällt, weil der Arbeitgeber davor nicht gewarnt hat, tritt der nicht verbrauchte Urlaub zum Urlaubsanspruch des Folgejahres hinzu (BAG, Urteil vom 19.02.2019, 9 AZR 541/15, Rn.46).

Daher stellt sich die Frage, ob der Urlaubsanspruch, auch wenn er über Jahre hinweg nicht gemäß § 7 Abs.3 BUrlG verfällt, möglicherweise verjährt. Nach deutschem Recht ist das drei Jahre nach Ablauf des Urlaubsjahres - eigentlich - der Fall. Denn die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre (§ 195 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB), und sie beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt (§ 199 Abs.1 BGB).

Allerdings würde die Anwendung dieser Verjährungsvorschriften im Ergebnis den Arbeitnehmer- und Gesundheitsschutz wieder beschränken, den der EuGH aus Art.7 Richtlinie 2003/88/EG herleitet. Daher könnte die Verjährung des vierwöchigen Mindesturlaubsanspruchs gemäß §§ 195, 199 BGB gegen Art.7 Richtlinie 2003/88/EG verstoßen.

Sachverhalt

Eine Angestellte war von November 1996 bis Juli 2017 in einer Steuerkanzlei beschäftigt und hatte über Jahre hinweg ihren Urlaub von 24 Arbeitstagen pro Jahr nur teilweise genommen. Im März 2012 bescheinigte ihr der Kanzleiinhaber, dass der Resturlaubsanspruch von mehr als 70 Tagen aus 2011 und den Vorjahren Ende März 2012 nicht verfallen werde, weil die Angestellte ihren Urlaub wegen des hohen Arbeitsaufwandes nicht antreten konnte. In den Folgejahren nahm die Angestellte ihren Urlaub weitgehend in Anspruch, teilweise wurde er bei ihrem Ausscheiden abgegolten.

Im Februar 2018 klagte die Angestellte auf Abgeltung von 101 Urlaubstagen aus dem Jahr 2017 und aus den Vorjahren, die aus ihrer Sicht noch offen waren. Der Arbeitgeber berief sich u.a. auf die Verjährung der Urlaubsansprüche, die aus seiner Sicht schon vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses eingetreten war.

Das Arbeitsgericht Solingen verurteilte den Arbeitgeber zur Abgeltung von lediglich drei Urlaubstagen (Urteil vom 19.02.2019, 3 Ca 155/18). Dagegen sprach das Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf der Angestellten eine Abgeltung von weiteren 76 Tagen zu und damit immerhin 17.376,64 EUR (Urteil vom 02.02.2020, 10 Sa 180/19). Denn die streitigen Resturlaubstage waren nicht verjährt, da Urlaubsansprüche, so jedenfalls das LAG, generell nicht der Verjährung unterliegen (LAG, Urteil, Rn.71-75).

Entscheidung des BAG

Das BAG setzte das Verfahren aus und legte den Fall dem EuGH vor.

Denn es stellt sich hier nach Ansicht des BAG die Frage, ob es mit Art.7 Richtlinie 2003/88/EG und mit Art.31 Abs.2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar ist, wenn der gesetzliche Mindesturlaub von vier Wochen bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers zwar vor dem Verfall am Jahresende gemäß § 7 Abs.3 BUrlG sicher ist, dafür aber gemäß § 195 BGB nach drei Jahren verjährt.

Praxishinweis

Voraussichtlich wird der EuGH die Frage des BAG in dem Sinne beantworten, dass der vierwöchige Mindesturlaub gemäß Art.7 Richtlinie 2003/88/EG nicht infolge von nationalen Verjährungsvorschriften der EU-Staaten verjähren kann, wenn der Arbeitgeber über Jahre hinweg seine dem Arbeitnehmerschutz dienende Pflicht missachtet hat, auf eine Beurlaubung des Arbeitnehmers hinzuwirken.

Denn der EuGH hat bereits vor einigen Jahren in einem ähnlichen Fall entschieden, dass nicht erfüllte Urlaubsansprüche, die jahrelang rechtswidrig nicht erfüllt wurden, ohne zeitliche Grenze zugunsten des Arbeitnehmers rechtlich gesichert sein müssen (EuGH, Urteil vom 29.11.2017, C 214/16 - King).

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 29.09.2020, 9 AZR 266/20 (A)

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