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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 02|2021

Update Arbeitsrecht 02|2021 vom 27.01.2021

Entscheidungsbesprechungen

LAG Nürnberg: Klageverzichtsprämien dürfen nicht aus dem Sozialplantopf bezahlt werden

Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 14.10.2020, 2 Sa 227/20

Ergeben Sozialplan und Betriebsvereinbarung zur Klageverzichtsprämie eine einheitliche Gesamtregelung, ist die Klageverzichtsprämie Teil der Sozialplanabfindung.

§§ 75 Abs.1, 111, 112 Abs.1 Satz 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG); §§ 1, 7 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)

Rechtlicher Hintergrund

Sozialpläne sollen die wirtschaftlichen Nachteile ausgleichen oder mildern, die den Arbeitnehmern infolge einer Betriebsänderung wie z.B. einer Kündigungswelle oder Betriebsschließung entstehen, §§ 111, 112 Abs.1 Satz 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Die wichtigste Sozialplanleistung ist normalerweise eine Abfindung für Arbeitnehmer, die betriebsbedingt entlassen werden.

Trotz des Abfindungsanspruchs gemäß Sozialplan steht es gekündigten Arbeitnehmern (selbstverständlich) frei, Kündigungsschutzklage zu erheben. Ein solches Vorgehen ist, abgesehen von den Prozesskosten, mit keinen Risiken verbunden. Denn wenn die Klage verloren geht, bleibt ja immer noch - als rechtliches Auffangnetz - der Abfindungsanspruch gemäß Sozialplan bestehen.

Arbeitgeber versuchen daher bei Verhandlungen über einen Interessenausgleich und Sozialplan oft, mit dem Betriebsrat eine zusätzliche Regelung zu treffen, die Arbeitnehmern einen finanziellen Anreiz gibt, von einer Kündigungsschutzklage abzusehen (sog. „Turboregelung“).

Dabei müssen die Betriebspartner aber nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) den Gleichbehandlungsgrundsatz beachten (§ 75 BetrVG). Sie dürfen daher die eigentlichen Sozialplanleistungen nicht von einem Klageverzicht abhängig machen. Das Verbot der Koppelung von Sozialplanabfindungen und Klageverzicht darf auch nicht umgangen werden (BAG, Urteil vom 31.05.2005, 1 AZR 254/04, Rn.23).

Eine Turboprämie muss daher immer Gegenstand einer vom Sozialplan getrennten, freiwilligen Betriebsvereinbarung (BV) gemäß § 88 BetrVG sein. Außerdem müssen die Arbeitnehmer nach Erhalt der Kündigung frei darüber entscheiden können, ob sie auf eine Klage verzichten und die Turboprämie einstreichen oder aber klagen wollen, d.h. ein Klageverzicht darf den Arbeitnehmern nicht vor Zugang der Kündigung abverlangt werden.

Oft lässt sich darüber streiten, ob eine konkrete Turbo-Betriebsvereinbarung das Verbot umgeht, Sozialplanleistungen von einem Klageverzicht abhängig zu machen. Denn die Vorgaben des BAG sind nicht wirklich klar. Laut BAG kann eine verbotene Umgehung vorliegen, wenn der Sozialplan keine „angemessenen“ (?) Leistungen vorsieht, oder wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dem eigentlich zur Verfügung stehenden (?) Sozialplantopf durch eine Turbo-BV Gelder entzogen werden (BAG, Urteil vom 31.05.2005, 1 AZR 254/04, Rn.32). Immerhin hat das BAG eine Turbo-Prämie von 0,1 Gehältern pro Beschäftigungsjahr einmal abgesegnet (Urteil vom 09.12.2014, 1 AZR 146/13).

In einer aktuellen Entscheidung kam das Landesarbeitsgericht (LAG) Nürnberg zu dem Ergebnis, dass eine Turbo-Prämie gegen das Umgehungsverbot verstieß und daher unzulässig war (Urteil vom 14.10.2020, 2 Sa 227/20).

Sachverhalt

Vor dem Hintergrund einer Betriebsschließung vereinbarten Arbeitgeber und Betriebsrat in den Verhandlungen vor der Einigungsstelle einen Sozialplan und gleichzeitig eine BV zu einer Klageverzichtsprämie, die ebenso wie der Sozialplan vom Einigungsstellenvorsitzenden unterschrieben wurde. Die Sozialplanabfindungen betrugen - je nach Alter - zwischen 0,25 bis 0,95 Monatsgehälter pro Beschäftigungsjahr.

Die BV Klageverzichtsprämie verwies auf die Abfindungsformel im Sozialplan und erhöhte den altersabhängigen Faktor (von 0,25 bis 0,95) um satte 0,25. Wer z.B. im Alter von bis zu 40 Jahren an sich eine Sozialplanabfindung von 0,25 Gehältern pro Beschäftigungsjahr erhalten hätte, konnte die Abfindung durch den Klageverzicht um 0,25 Gehälter pro Jahr aufstocken und damit verdoppeln. Allerdings waren alle Abfindungen - einschließlich des Klageverzichtsanteils - auf maximal 75.000,00 EUR begrenzt.

Ein etwa 60jähriger Arbeitnehmer mit langer Betriebszugehörigkeit erhob nach Erhalt der Kündigung keine Kündigungsschutzklage, klagte dann aber auf eine höhere Abfindung, und zwar u.a. mit dem Argument, die Klageverzichtsprämie sei ihm infolge der Deckelung der Abfindung nicht effektiv zugutegekommen. Die Deckelung auf 75.000,00 EUR sei eine mittelbare Altersdiskriminierung, da sie im Ergebnis zu denselben Abfindungen für ältere wie für jüngere Arbeitnehmer führe. Das Arbeitsgericht Weiden wies die Klage ab (Urteil vom 10.03.2020, 1 Ca 815/19).

Entscheidung des LAG Nürnberg

Auch das LAG entschied gegen den Kläger.

Anders als der Kläger war das LAG der Meinung, dass die BV zur Klageverzichtsprämie unwirksam war, die Deckelung der Gesamtabfindungen auf 75.000,00 EUR aber wirksam. Hätten die Betriebspartner daher keine Deckelung der Abfindungen vereinbart, hätte das LAG dem Kläger eine erhöhte Abfindung - im Umfang der Klageverzichtsprämie - zugesprochen, da es die Aufspaltung von Sozialplanabfindung und Klageverzichtsprämie als unzulässige Umgehungskonstruktion ansah (LAG, Urteil, Rn.42).

Denn es war im Verlauf des Prozesses unstreitig geworden, dass das verfügbare Gesamtvolumen von Abfindungsleistungen bei acht Millionen Euro lag, weshalb das LAG - angesichts der beträchtlichen Höhe der Klageverzichtsprämie - meinte, dass ein wesentlicher Teil dieses vorgegebenen Finanzvolumens zweckwidrig für eine Klageverzichtsprämie eingesetzt worden war (LAG, Urteil, Rn.49).

Die Klageverzichtsprämie wurde dem von vornherein mit acht Millionen Euro festliegenden Sozialplanvolumen entnommen, weshalb der Arbeitgeber während der Verhandlungen auch durch laufende Kontroll-Berechnungen sicherstellte, dass die Gesamt-Obergrenze eingehalten würde (LAG, Urteil, Rn.59). Hinzu kam, dass Klageverzichtsprämie und Sozialplanformel zu einer einheitlichen Gesamtabfindung führten, so dass beide Regelungen nur gemeinsam einen Sinn ergaben (LAG, Urteil, Rn.56-58).

Da somit der Sozialplan und die BV zur Klageverzichtsprämie als einheitliche Regelung anzusehen waren, fiel auch die Klageverzichtsprämie als Teil der Sozialplanabfindung unter die Kappungsgrenze von 75.000,00 EUR.

Die Kappungsgrenze beinhaltete entgegen der Ansicht des Klägers keine unzulässige Altersdiskriminierung im Sinne von §§ 1, 7 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), so dass die Klage letztlich keinen Erfolg hatte (LAG, Urteil, Rn.68-83). Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da das LAG die Revision zum BAG zugelassen hat, wo der Fall inzwischen liegt (Aktenzeichen des BAG: 1 AZR 570/20).

Praxishinweis

Sollen mit einer freiwilligen Turbo-Betriebsvereinbarung Gerichtsprozesse vermieden werden, müssen die Betriebsparteien Sozialplan und Turbo-Betriebsvereinbarung klarer trennen als dies hier im Fall des LAG Nürnberg geschehen ist.

Dabei lässt es sich meist nicht vermeiden, dass im Laufe der Verhandlungen bestimmte maximale Gesamtsummen im Raum stehen und dann gemeinsam mit dem Betriebsrat „verteilt“ werden, u.a. auf eine Turbo-Betriebsvereinbarung.

Angesichts des damit immer bestehenden Risikos, dass die Turbo-Betriebsvereinbarung als unzulässige Mittelverschiebung zulasten des Sozialplans angesehen wird, sollten die Turboprämien anders als die Sozialplanabfindungen berechnet werden und sich in Grenzen halten, also z.B. pauschal mit zwei oder drei Gehältern festgelegt werden.

Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 14.10.2020, 2 Sa 227/20

 

Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsvereinbarung

Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsstilllegung, Betriebsschließung

Handbuch Arbeitsrecht: Sozialplan

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