UPDATE
ARBEITSRECHT
Ausgabe
ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 02|2019

Update Arbeitsrecht 02|2019 vom 16.10.2019

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Sachverhaltsaufklärung vor fristloser Kündigung und Persönlichkeitsrechte des Hinweisgebers

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.06.2019, 2 ABR 2/19

Bittet eine Arbeitnehmerin nach einer sexuellen Belästigung um Vertraulichkeit, kann die Anhörung des Verdächtigen um eine angemessene Zeit verschoben werden.

§ 626 Abs.2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); §§ 102, 103 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)

Rechtlicher Hintergrund

Arbeitnehmer können auch nach langer Dauer des Arbeitsverhältnisses außerordentlich und fristlos gekündigt werden, wenn ein wichtiger Grund im Sinne von § 626 Abs.1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) vorliegt. Ein wichtiger Grund sind Tatsachen, die es dem Arbeitgeber unzumutbar machen, das Arbeitsverhältnis auch nur bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen, was vor allem bei (sehr) schwerwiegenden Pflichtverletzungen wie z.B. bei Straftaten der Fall ist.

Bei solchen Pflichtverstößen wäre es widersprüchlich, wenn sich der Arbeitgeber monatelang Zeit lassen würde mit seiner Kündigung. Gemäß § 626 Abs.2 BGB kann eine fristlose Kündigung daher nur innerhalb von zwei Wochen ausgesprochen werden, wobei die Zweiwochenfrist in dem Moment beginnt, in dem der Kündigungsberechtigte den Kündigungssachverhalt kennt.

Vor Ausspruch einer fristlosen Kündigung sollte der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zu den Vorwürfen anhören. Oft lässt sich ein Pflichtverstoß (z.B. ein Diebstahl oder eine sexuelle Belästigung) nämlich nicht mit letzter Sicherheit beweisen, denn zum Pflichtverstoß gehören ja auch die Absichten und Motive des Verdächtigen. Streitet er den Pflichtverstoß ab, bleibt meist nur ein dringender Tatverdacht. Eine fristlose Kündigung wegen des dringenden Verdachts einer Pflichtverletzung (Verdachtskündigung) setzt aber immer die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers voraus.

In solchen Fällen verlangt das Bundesarbeitsgericht (BAG) vom Arbeitgeber, wenn er einen Arbeitnehmer zu bestimmten Verdachtsmomenten anhören will, dass er die Anhörung innerhalb einer Woche durchführt, nachdem er den Kündigungssachverhalt bzw. die Verdachtsmomente in groben Zügen kennt. Der Arbeitgeber darf den Sachverhalt zwar weiter aufklären, doch muss er das zügig machen.

Hier kann eine Pflichtenkollision für den Arbeitgeber entstehen, wenn er dem Hinweisgeber, der den Stein ins Rollen gebracht hat, Vertraulichkeit zugesichert hat. Denn solange der Arbeitgeber die Pflicht zur Vertraulichkeit beachtet, kann er den belasteten Arbeitnehmer nicht anhören, was er aber nach der BAG-Rechtsprechung muss, und zwar möglichst rasch. Über einen solchen Fall hatte das BAG vor kurzem zu entscheiden (Beschluss vom 27.06.2019, 2 ABR 2/19).

Sachverhalt

In dem Fall des BAG hatte der Vorsitzende eines neunköpfigen Betriebsrats gegenüber einer Kollegin, die ebenfalls Mitglied des Betriebsrats war, eine sexuell anstößige Bemerkung gemacht, was diese deutlich zurückwies. Trotzdem übersandte der Betriebsratsvorsitzende seiner Kollegin am Abend des folgenden Tages auf deren private Handy-Nummer über WhatsApp Videoclips mit pornografischem Inhalt.

Darüber informierte die Arbeitnehmerin am nächsten Morgen ihren Vorgesetzten und eine Prokuristin, wobei die Prokuristin die Videoclips durchsah und sicherte. Vor dem Hintergrund einer Konzernbetriebsvereinbarung (KBV), die eine vertrauliche Bearbeitung von Hinweisen über sexuelle Belästigungen vorsah, wurde der Sachverhalt zunächst vertraulich behandelt. In der KBV hieß es, dass die mit der Entgegennahme von Beschwerden befassten Mitarbeiter

„zur Verschwiegenheit über die ihnen gegenüber offenbarten Sachverhalte verpflichtet [sind], solange und soweit der oder die Betroffene sie nicht von der Verschwiegenheitspflicht entbindet.“

Ab dem folgenden Tag war die Arbeitnehmerin arbeitsunfähig erkrankt. Drei Wochen später teilte sie dem Arbeitgeber mit, dass sie den Fall jetzt doch offiziell untersuchen lassen wolle, und übermittelte ihm per E-Mail einen dreiseitigen Bericht über das Geschehen. Zwei Tage später hörte der Arbeitgeber den Betriebsratsvorsitzenden zu den Vorwürfen an und entschloss sich zu einer außerordentlichen fristlosen Kündigung.

Wiederum drei Tage nach der Anhörung des Betriebsratsvorsitzenden hörte der Arbeitgeber den Betriebsrat (das Gremium) zu der geplanten Kündigung seines Vorsitzenden an und bat um Zustimmung, ohne die die außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds rechtlich ausgeschlossen ist (§§ 102 Abs.1, 103 Abs.1 Betriebsverfassungsgesetz - BetrVG).

Der Betriebsrat verweigerte die Zustimmung, woraufhin der Arbeitgeber die arbeitsgerichtliche Ersetzung der Zustimmung beantragte. Damit hatte er vor dem Arbeitsgericht Stralsund Erfolg (Beschluss vom 09.01.2018, 4 BV 2/17), während das Landesarbeitsgericht (LAG) Mecklenburg-Vorpommern zugunsten des Betriebsrats und seines Vorsitzenden entschied (Beschluss vom 16.10.2018, 5 TaBV 7/18).

Argument des LAG: Der Arbeitgeber war, nachdem die Prokuristin von der unerwünschten Übersendung der pornographischen Videoclips erfahren hatte, entgegen § 626 Abs.2 BGB drei Wochen lang untätig geblieben und hatte damit die Frist des § 626 Abs.2 BGB nicht eingehalten.

Entscheidung des BAG

Das BAG hob die LAG-Entscheidung auf und verwies den Fall zurück zum LAG. Denn, so das BAG:

Arbeitgeber müssen eine Anhörung rasch bzw. im Allgemeinen binnen einer Woche ab Kenntnis der wesentlichen Verdachtsmomente durchführen (Urteil, Rn.23). Haben sie sich zur vertraulichen Behandlung von Hinweisen verpflichtet, müssen sie dem Hinweisgeber eine „angemessen kurze“ Frist setzen, innerhalb deren er sich über die Beibehaltung der Vertraulichkeit zu erklären hat (Urteil, Rn.28). Ohne eine solche rasche Klärung der (weiteren) Pflicht zur Vertraulichkeit laufen Arbeitgeber Gefahr, die Zweiwochenfrist zu versäumen.

Hier im Streitfall hatte der Arbeitgeber die sexuell belästigte Betriebsrätin zwar nicht in dieser Weise (d.h. mit Fristsetzung) gefragt, ob sie weiter auf vertrauliche Behandlung ihrer Hinweise bestehe, doch hatte das BAG aufgrund der speziellen Umstände des Streitfalls Verständnis mit dem Arbeitgeber. Denn die Arbeitnehmerin war erkrankt, so dass eine Kontaktaufnahme nicht bzw. nur eingeschränkt zulässig war, und zudem war ihre Erkrankung anscheinend auf die Belästigung und die damit verbundene Belastung zurückzuführen (Urteil, Rn.33).

Praxishinweis

Compliance-Regelungen ermutigen Hinweisgeber typischerweise durch die Zusicherung von Vertraulichkeit dazu, Pflichtverstöße bei den dafür vorgesehenen Stellen im Betrieb bzw. Unternehmen anzuzeigen. Im Falle von (behaupteten) sexuellen Belästigungen, Körperverletzungen oder Beleidigungen muss der Arbeitgeber aber bei der Anhörung des möglichen Täters die Identität des Hinweisgebers (= des oder der Betroffenen) wohl oder übel offenlegen. Dann ist der Hinweisgeber vor der Anhörung unter Fristsetzung aufzufordern, sich über die Beibehaltung der Vertraulichkeit zu erklären.

Damit liegt die Entscheidung über das weitere Vorgehen aber nicht allein in der Hand des Hinweisgebers. Denn der Arbeitgeber muss immer prüfen bzw. bewerten, ob der Hinweisgeber ein berechtigtes Interesse für seine Bitte um Vertraulichkeit hat und um welche Vorwürfe es bei seiner Mitteilung geht. Sind infolge des Hinweises konkrete Gefährdungen anderer Arbeitnehmer zu befürchten, kann sich der Arbeitgeber über die Bitte des Hinweisgebers um Vertraulichkeit hinwegsetzen (Urteil, Rn.28).

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.06.2019, 2 ABR 2/19

Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de

IMPRESSUM