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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 12|2023

Update Arbeitsrecht 12|2023 vom 14.06.2023

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Belastungsausgleich bei Abweichungen vom Equal-pay-Grundsatz

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 31.05.2023, 5 AZR 143/19

Die Leiharbeitstarifverträge des Interessenverbandes Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ) und der Gewerkschaft ver.di führen zu einem europarechtlich ausreichenden Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern.

§§ 3a, 8, 9, 10, 11 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG); §§ 3 Abs.1; 4 Abs.1 Tarifvertragsgesetz (TVG); Art.3 Abs.1 Buchst. f); Art.5 Abs.2, 3 Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit

Rechtlicher Hintergrund

Grundsätzlich haben Leiharbeitnehmer Anspruch auf gleiche Behandlung („equal treatment“) und Bezahlung („equal pay“) wie vergleichbare Stammkräfte des Einsatzbetriebs. 

Von diesem Grundsatz kann in Deutschland auf der Grundlage spezieller, für die Leiharbeitsbranche geltender Tarifverträge zu Ungunsten der Leiharbeitnehmer abgewichen werden. Dies geschieht oft auf der Grundlage von Tarifverträgen, die der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ) mit der DGB-Gewerkschaft ver.di aushandelt.

Seit der letzten größeren, zum 01.04.2017 in Kraft getretenen Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) sind Gleichstellungsgrundsatz und Abweichungsmöglichkeiten in § 8 AÜG geregelt. 

Hinter den deutschen Ausnahmen vom Equal-pay-Grundsatz stehen Art.5 Abs.2 und Abs.3 der Richtlinie 2008/104/EG (Leiharbeitsrichtlinie). Danach setzt eine schlechtere (tarifliche) Bezahlung von Leiharbeitnehmern im Vergleich zu Stammkräften voraus, dass Leiharbeitnehmer auch während der Zeit Geld bekommen, in der sie nicht verliehen werden (Art.5 Abs.2 Leiharbeitsrichtlinie). Das ist in Deutschland durch § 8 Abs.5 AÜG gewährleistet. 

Darüber hinaus müssen Abweichungen vom Equal-pay-Grundsatz die „Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ gewährleisten (Art.5 Abs.3 Leiharbeitsrichtlinie).

Da diese europarechtliche Bedingung („Achtung des Gesamtschutzes“) in § 8 Abs.2 Satz 2 AÜG nicht erwähnt wird, legte das Bundesarbeitsgericht (BAG) dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Dezember 2020 einige Fragen dazu vor, wie dieser „Gesamtschutz“ umzusetzen ist (BAG, Beschluss 16.12.2020, 5 AZR 143/19 (A), s. dazu Update Arbeitsrecht 01|2021). 

Darauf antwortete der EuGH, dass es auf einen Gesamtvergleich der Arbeitsbedingungen im Einzelfall ankommt, und dass die in Art.5 Abs.2 Leiharbeitsrichtlinie enthaltene (Mindest-)Bedingung einer Vergütung zwischen den Einsatzzeiten nicht ausreicht, um eine geringere Bezahlung auszugleichen. 

Andererseits ist auch ein unbefristetes Arbeitsverhältnis mit dem Zeitarbeitsunternehmen nicht unbedingt für den „Gesamtschutz“ erforderlich (EuGH, Urteil vom 15.12.2022, C-311/21 - TimePartner, s. dazu Update Arbeitsrecht 01|2023).

Auf der Grundlage des o.g. EuGH-Urteils konnte das BAG den Streitfall jetzt abschließend entscheiden: BAG, Urteil vom 31.05.2023, 5 AZR 143/19.

Sachverhalt

Eine Leiharbeitnehmerin klagte gegen ihren (Ex-)Arbeitgeber, das Zeitarbeitsunternehmen TimePartner Personalmanagement GmbH, für die Zeit von Januar 2017 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 04.04.2017 auf die Lohndifferenz, die sich zwischen ihrem Tariflohn gemäß dem iGZ-Lohntarifvertrag und dem Lohn vergleichbarer Stammarbeitnehmern des Entleihers ergab.

Da die Leiharbeitnehmerin Mitglied der ver.di war, galten für sie wegen beiderseitiger Tarifbindung die Normen des Leiharbeitstarifvertrags, den iGZ und ver.di vereinbart hatten (§§ 3 Abs.1, 4 Abs.1 Tarifvertragsgesetz - TVG). Außerdem war im Arbeitsvertrag eine Bezugnahme auf die iGZ-Tarife enthalten.

Vor dem Arbeitsgericht Würzburg (Urteil vom 08.05.2018, 2 Ca 1248/17) und dem Landesarbeitsgericht (LAG) Nürnberg hatte die Klage keinen Erfolg (LAG Nürnberg, Urteil vom 07.05.2019, 5 Sa 230/18). 

Entscheidung des BAG

Das BAG wies die Revision der Leiharbeitnehmerin unter Beachtung der vom EuGH im Streitfall gemachten Vorgaben zurück. In der derzeit allein vorliegenden BAG-Pressemitteilung heißt es zur Begründung:

Aufgrund der Anwendbarkeit des Tarifwerks von iGZ und ver.di war der Arbeitgeber gemäß § 8 Abs. 2 Satz 2 AÜG (bzw. gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG alte Fassung) nur zur Zahlung des Leiharbeits-Tariflohns verpflichtet. Der Leiharbeitstarifvertrag von iGZ und ver.di genügt zusammen mit den gesetzlichen Schutzvorschriften für einen ausreichenden „Gesamtschutz“ im Sinne von Art.5 Abs.3 Leiharbeitsrichtlinie.

Dabei unterstellt das BAG zugunsten der Klägerin, dass sie eine geringere Vergütung als vergleichbare Stammarbeitnehmer erhalten hatte.

Eine solche Schlechterstellung lässt Art.5 Abs.3 Leiharbeitsrichtlinie aber zu, sofern dies unter „Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“ erfolgt. Das war hier der Fall, so das BAG.

Ein Ausgleichsvorteil besteht in der Fortzahlung der Vergütung auch in verleihfreien Zeiten. Wird ein Leiharbeitnehmer nicht ausschließlich für einen bestimmten Einsatz eingestellt oder behält sich der Entleiher ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Leiharbeitnehmer vor, sind verleihfreie Zeiten auch bei befristeten Leiharbeitsverhältnissen stets möglich.

Der Leiharbeitstarifvertrag von iGZ und ver.di gewährleistet die Fortzahlung der Vergütung in verleihfreien Zeiten, so das BAG. Außerdem schreibt § 11 Abs.4 Satz 2 AÜG zwingend vor, dass der Anspruch auf Annahmeverzugsvergütung nach § 615 Satz 1 BGB, der im Allgemeinen abdingbar ist, im Leiharbeitsverhältnis nicht abbedungen werden kann. 

Weiterhin gelten zugunsten der Leiharbeitnehmer zwingende Leiharbeits-Mindestlöhne (auf der Grundlage von § 3a AÜG und den Verordnungen über Lohnuntergrenzen in der Arbeitnehmerüberlassung), sowie der allgemeine gesetzliche Mindestlohn. 

Schließlich ist seit dem 01.04.2017 eine Unterschreitung des Equal-pay-Lohns auf tariflicher Grundlage gemäß § 8 Abs.4 Satz 1 AÜG auf die ersten neun Monate des Leiharbeitsverhältnisses begrenzt.

Praxishinweis

Das BAG stellt mit seinem Urteil unter Berücksichtigung der Vorgaben des EuGH klar, dass die für die Leiharbeitsbranche geltenden Tarifverträge von iGZ und ver.di - zusammen mit den vom BAG genannten gesetzlichen Schutzvorschriften - einen europarechtlich ausreichenden „Gesamtschutz“ der Leiharbeitnehmer bewirken, die auf der Grundlage der iGZ-Tarifverträge und abweichend vom Equal-pay-Grundsatz bezahlt werden.

Da sich die Ausführungen des BAG auf die allgemeine gesetzliche und tarifliche Rechtslage beziehen, schafft das BAG-Urteil Rechtssicherheit für Leiharbeitsunternehmen, die iGZ-Tarifverträge anwenden.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 31.05.2023, 5 AZR 143/19 (Pressemitteilung des Gerichts)

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 15.12.2022, C-311/21 (TimePartner)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss 16.12.2020, 5 AZR 143/19 (A)

 

Handbuch Arbeitsrecht: Arbeitnehmerüberlassung (Leiharbeit, Zeitarbeit)

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