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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 12|2024

Update Arbeitsrecht 12|2024 vom 12.06.2024

Leitsatzreport

BAG: Weitere Vorlagefragen an den EuGH wegen Fehlern bei der Anzeige von Massenentlassungen

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 23.05.2024, 6 AZR 152/22 (A)

§ 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); Art.2, 3, 4 Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie - MERL); § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 45 Abs.3 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG)

Leitsätze des Gerichts (Entscheidungsformel):

I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um Vorabentscheidung über folgende Fragen ersucht:

1. Ist der Zweck der Massenentlassungsanzeige erfüllt und somit eine Sanktion entbehrlich, wenn die nationale Arbeitsagentur eine – objektiv fehlerhafte – Massenentlassungsanzeige nicht beanstandet und sich damit als ausreichend informiert betrachtet, um ihren Aufgaben innerhalb der Fristen des Art. 4 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) nachkommen zu können?

Gilt dies jedenfalls dann, wenn die Erreichung des Zwecks von Art. 3 MERL durch eine nationale arbeitsförderungsrechtliche Vorschrift sichergestellt ist und/oder die nationale Arbeitsagentur eine Pflicht zur Amtsermittlung hat?

2. Sofern die erste Frage verneint wird: Kann der Zweck von Art. 3 MERL noch erfüllt werden, wenn eine fehlerhafte oder gänzlich fehlende Massenentlassungsanzeige nach Zugang der Kündigung korrigiert bzw. ergänzt oder nachgeholt werden kann?

3. Wenn bei einer fehlerhaften oder fehlenden Massenentlassungsanzeige die Entlassungssperre nach Art. 4 Abs. 1 MERL die Sanktion für Fehler bei der Anzeige sein sollte, welcher Anwendungsbereich verbleibt dann insoweit noch für Art. 6 MERL?

II. Das Revisionsverfahren wird bis zu der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.

Hintergrund:

In einem Hamburger Fall hatte der Insolvenzverwalter eines Betriebs mit 22 Arbeitnehmern wegen der geplanten Betriebsschließung den Arbeitnehmern gekündigt, allerdings ohne vorherige Anzeige der geplanten Massenentlassung bei der Arbeitsagentur gemäß § 17 Abs.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG). Die Klage eines gekündigten Arbeitnehmers hatte daher vor dem Arbeitsgericht Hamburg und dem Landesarbeitsgericht (LAG) Hamburg Erfolg und landete beim Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Der fragte den Zweiten BAG-Senat, ob er an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten möchte, der zufolge eine fehlerhafte oder ganz unterlassene Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der später erklärten Kündigungen führt (BAG, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B), s. dazu Update Arbeitsrecht 01|2024). Diese Frage wollte der Zweite BAG-Senat nicht ohne vorherige Stellungnahme des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu den hinter § 17 KSchG stehenden Regelungen der Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie - MERL) entscheiden und legte daher den Fall dem EuGH vor (BAG, Beschluss vom 01.02.2024, 2 AS 22/23 (A), s. dazu Update Arbeitsrecht 03|2024). Nunmehr wiederum hat der Sechste BAG-Senat beschlossen, dem EuGH - ergänzend zu der EUGH-Vorlage des Zweiten Senats - eigenständige Fragen zur Auslegung der MERL zu stellen. Diese Fragen betreffen nicht den Hamburger Fall, sondern einen Düsseldorfer Kündigungsfall. Denn der Sechste Senat hat Bedenken, ob die Vorlage des Zweiten Senats rechtlich zulässig ist, da nur „Gerichte“ dem EuGH Fälle vorlegen können. In dem recht speziellen Verfahren, in dem ein BAG-Senat einen anderen befragt, ob dieser an seiner Rechtsprechung festhalten möchte, geht es aber um eine abstrakte Rechtsfrage. Wenn der angefragte Senat erklärt, an seiner Rechtsprechung nicht festhalten zu wollen, ist eine Entscheidung des Großen BAG-Senats überflüssig; andernfalls muss der Große Senat zusammentreten. In dem Anfrageverfahren, das der Zweite Senat vor kurzem wegen einer EuGH-Vorlage ausgesetzt hat, ist der Zweite Senat möglicherweise nicht „Gericht“ im Sinne der Vorschriften über die EuGH-Vorlagen. Das jedenfalls befürchtet der Sechste Senat, der daher vorsichtshalber eine eigenständige EuGH-Anfrage beschlossen hat.

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 23.05.2024, 6 AZR 152/22 (A)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 01.02.2024, 2 AS 22/23 (A)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 01.02.2024, 2 AS 22/23 (A) (Pressemitteilung des Gerichts)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B) (Pressemitteilung des Gerichts)

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 13.07.2023, C-134/22

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A)

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.11.2012, 2 AZR 371/11

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 27.01.2005, C-188/03 (Junk)

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