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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 15|2024

Update Arbeitsrecht 15|2024 vom 30.09.2024

Entscheidungsbesprechungen

LAG Köln: Wartezeitkündigung ohne vorheriges Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs.1 SGB IX

Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 12.09.2024, 6 SLa 76/24

§ 167 Abs.1 SGB IX enthält keine zeitliche Einschränkung der Pflicht zum Präventionsverfahren. Arbeitgeber sind daher auch in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses zu einem Präventionsverfahren verpflichtet.

§§ 164 Abs.2; 167 Abs.1; 168; 173 Abs.1 Satz 1 Nr.1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX); § 1 Abs.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); §§ 1, 2, 3, 7 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG); Art.5 Richtlinie 2000/78/EG; §§ 134, 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

Rechtlicher Hintergrund

Treten personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Schwierigkeiten im Beschäftigungsverhältnis eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen auf, die zur Gefährdung des Beschäftigungsverhältnisses führen können, ist der Arbeitgeber gemäß § 167 Abs.1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zum sog. Präventionsverfahren verpflichtet.

Konkret heißt das, dass er unter Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung (SBV), des Betriebs- bzw. Personalrats sowie des Integrationsamts alle Möglichkeiten und alle zur Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen erörtern muss, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Beschäftigungsverhältnis dauerhaft fortgesetzt werden kann.

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist das Präventionsverfahren als solches keine „angemessene Vorkehrung“ im Sinne von Art.5 Richtlinie 2000/78/EG, um behinderten Menschen den Zugang zum Beruf oder seine Ausübung zu erleichtern. Die Aufgabe des Präventionsverfahrens besteht vielmehr darin, solche möglichen Maßnahmen zutage zu fördern (BAG, Urteil vom 21.04.2016, 8 AZR 402/14, Leitsatz 1, Rn.23-25). 

Außerdem begrenzt das BAG den Anwendungsbereich des § 167 Abs.1 SGB IX auf die Zeit nach Ablauf der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses. Denn in den ersten sechs Monaten besteht gemäß § 1 Abs.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) noch kein Kündigungsschutz („Wartezeit“). 

Daher brauchen Arbeitgeber für eine Kündigung während der Wartezeit keinen Kündigungsgrund im Sinne des § 1 Abs.2 KSchG, d.h. auf die soziale Rechtfertigung der Kündigung durch einen personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Kündigungsgrund kommt es rechtlich nicht an. 

Da § 167 Abs.1 SGB IX die drei Kündigungsgründe des § 1 Abs.2 KSchG als mögliche Gefahr für das Beschäftigungsverhältnis nennt, hat das BAG daraus den Schluss gezogen, dass Arbeitgeber während der Wartezeit nicht zu einem Präventionsverfahren verpflichtet sind (BAG, Urteil vom 21.04.2016, 8 AZR 402/14, Leitsatz 2).

Diese Rechtsprechung wird in letzter Zeit von einigen Gerichten infrage gestellt. 

So entschied das Arbeitsgericht Freiburg vor knapp drei Monaten, dass Arbeitgeber auch in der Wartezeit zur Durchführung eines Präventionsverfahrens verpflichtet sein sollen (Arbeitsgericht Freiburg, Urteil vom 04.06.2024, 2 Ca 51/24; s. dazu Update Arbeitsrecht 14|2024). Dabei berief sich das Arbeitsgericht Freiburg auf ein Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom Dezember 2023, das ebenfalls in diesem Sinne entschieden hatte (Arbeitsgericht Köln, Urteil vom 20.12.2023, 18 Ca 3954/23; s. dazu Update Arbeitsrecht 03|2024).

Vor kurzem musste das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln in der Berufung über den Fall des Arbeitsgerichts Köln entscheiden und gab dem Arbeitgeber recht (LAG Köln, Urteil vom 12.09.2024, 6 SLa 76/24). In der Begründung stimmt das LAG dem Arbeitsgericht Köln aber in einigen Punkten zu.

Sachverhalt

Ein 1984 geborener, mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 80 schwerbehinderter Mensch war seit dem 01.01.2023 bei der beklagten Kommune als „Beschäftigter im Bauhof“ angestellt. 

Auf das Arbeitsverhältnis war der TVöD-VKA anzuwenden. Die Behinderung des Angestellten war unter anderem auf einen frühkindlichen Hirnschaden zurückzuführen.

Nachdem es beim Einsatz des Angestellten in verschiedenen Kolonnen Probleme gab und sich der Angestellte beim Radfahren das Kreuzband riss und anschließend für längere Zeit krankgeschrieben war, kündigte die Kommune das Arbeitsverhältnis nach Anhörung des Personalrats, der Schwerbehindertenvertretung (SBV) und der Gleichstellungsbeauftragten mit Schreiben vom 22.06.2023 ordentlich zu Ende Juli 2023.

Vom den Gründen für den GbB 80 erfuhr die Kommune erst im Prozess, d.h. nach Ausspruch der Kündigung.

Die dagegen erhobene Kündigungsschutzklage hatte, wie erwähnt, vor dem Arbeitsgericht Köln Erfolg.

Entscheidung des LAG Köln

Das LAG Köln hob das Urteil des Arbeitsgerichts auf und wies die Klage ab. Außerdem ließ es die Revision zum BAG zu. In den Urteilsgründen heißt es:

Dass die Kommune vor Ausspruch der Kündigung kein Präventionsverfahren durchgeführt hatte, war für sich genommen keine behinderungsbedingte Benachteiligung des Klägers, so das LAG.

Allerdings ist die Nichtdurchführung des Präventionsverfahrens ein Indiz für eine solche behinderungsbedingte Benachteiligung im Sinne von § 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG).

Das gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber während der Wartezeit kein Präventionsverfahren durchführt.-Denn dazu ist er, hier stimmt das LAG dem Arbeitsgericht zu, verpflichtet.

Denn entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BAG lässt sich § 167 Abs.1 SGB IX keine zeitliche Einschränkung der Pflicht zum Präventionsverfahren entnehmen. Und ein solches Verfahren kann gerade auch in der Einarbeitung bzw. Erprobung sinnvoll sein, so das LAG, damit die Erprobung gelingt.

Allerdings halfen diese rechtlichen Überlegungen des LAG dem Kläger letztlich nicht. Denn das LAG meinte, dass der Arbeitgeber im Streitfall die Vermutung einer behinderungsbedingten Diskriminierung widerlegt hatte.

Denn der Kläger hatte dem Vorbringen des Arbeitgebers nicht widersprochen, dem zufolge er allein wegen mangelnder Eignung des Klägers eine Wartezeitkündigung ausgesprochen hatte, d.h. nicht wegen der Schwerbehinderung. Dieser Vortrag war plausibel, denn die medizinischen Hintergründe der Schwerbehinderung hatte der Arbeitgeber erstmals im Gütetermin vor dem Arbeitsgericht erfahren, d.h. nach Ausspruch der Kündigung.

Weiterhin entlastete es den Arbeitgeber auch, dass seine Personalverantwortlichen erst am 19.06.2023 von den negativen Beurteilungen des Klägers durch seine Vorgesetzten erfahren hatten, d.h. elf Tage vor Ablauf der Wartezeit am 30.06.2023. Während einer so kurzen, bis dahin noch verbleibenden Zeit konnte der Arbeitgeber die Durchführung des Präventionsverfahrens als unmöglich ansehen.

Praxishinweis:

Das LAG Köln hat für den Angestellten die Revision zum BAG zugelassen. Möglicherweise wird daher demnächst das BAG (nochmals) über die Frage entscheiden, ob Arbeitgeber auch während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses zu einem Präventionsverfahren verpflichtet sind.

Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 12.09.2024, 6 SLa 76/24 

Arbeitsgericht Köln, Urteil vom 20.12.2023, 18 Ca 3954/23 

Arbeitsgericht Freiburg, Urteil vom 04.06.2024, 2 Ca 51/24

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.04.2016, 8 AZR 402/14

 

Handbuch Arbeitsrecht: Behinderung, Menschen mit Behinderung

Handbuch Arbeitsrecht: Diskriminierungsverbote - Behinderung

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