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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 07|2021

Update Arbeitsrecht 07|2021 vom 07.04.2021

Entscheidungsbesprechungen

LAG Niedersachsen: Information der Arbeitsagentur über den Beginn der Massenentlassungsgespräche

Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 24.02.2021, 17 Sa 890/20

Erhält die Arbeitsagentur keine Abschrift der Information des Betriebsrats über eine geplante Massenentlassung, führt dies nicht zur Unwirksamkeit der später erklärten Kündigungen.

§§ 1 Abs.5, 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); §§ 134, 613a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 111 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG); § 125 Abs.1 Insolvenzordnung (InsO); Richtlinie 98/59/EG vom 20.07.1998 (Massenentlassungsrichtlinie)

Rechtlicher Hintergrund

Damit sich die Arbeitsagentur frühzeitig auf einen bevorstehenden Zugang vieler neuer Arbeitsuchender einstellen kann, muss der Arbeitgeber ihr eine geplante Massenentlassung vorab schriftlich anzeigen. Diese Pflicht trifft Arbeitgeber ab einer Betriebsgröße von 21 Arbeitnehmern, falls die in § 17 Abs.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) festgelegte Anzahl von Entlassungen überschritten wird. Besteht ein Betriebsrat, ist der Arbeitgeber außerdem verpflichtet, ihn über die geplanten Kündigungen zu informieren und sich mit ihm darüber zu beraten (§ 17 Abs.2 KSchG).

Die Pflicht zur Information und „Konsultation“ des Betriebsrats steht zeitlich an erster Stelle: Zunächst muss der Arbeitgeber den Betriebsrat über seine Entlassungspläne informieren und sie mit ihm besprechen. In einem nächsten Schritt, d.h. wenn die Planungen des Arbeitgebers feststehen, hat er die Arbeitsagentur in Form einer Massenentlassungsanzeige davon in Kenntnis zu setzen. Die gesetzliche Mindestfrist für die Gespräche mit dem Betriebsrat beträgt zwei Wochen (§ 17 Abs.3 Satz 3 KSchG).

Verstößt der Arbeitgeber gegen die Pflicht zur Information und Konsultation des Betriebsrats oder zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige, führt dies nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Unwirksamkeit der später ausgesprochenen betriebsbedingten Kündigungen. Denn die Vorschriften zur Information, Konsultation und Massenentlassungsanzeige (§ 17 Abs.1, Abs.2, Abs.3 Satz 2 bis 4 KSchG) sind Schutzgesetze zugunsten der von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer im Sinne von § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).

Hinter § 17 KSchG steht nämlich die Richtlinie 98/59/EG vom 20.07.1998, die sog. Massenentlassungsrichtlinie (MERL), und der von ihr bezweckte Arbeitnehmerschutz ist unter Beachtung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nur gewährleistet, wenn Verstöße gegen die o.g. drei Arbeitgeberpflichten die Unwirksamkeit der später ausgesprochenen betriebsbedingten Kündigungen zur Folge haben.

Fraglich ist, ob eine so einschneidende Rechtsfolge, d.h. die Unwirksamkeit betriebsbedingter Kündigungen im Rahmen einer Massenentlassung, auch dann angemessen ist, wenn der Arbeitgeber es unterlässt, gleichzeitig mit der ersten schriftlichen Information des Betriebsrats über die geplante Massenentlassung der Arbeitsagentur eine Abschrift dieses (an den Betriebsrat gerichteten) ersten Informationsschreibens zuzusenden.

Dazu ist der Arbeitgeber zwar gemäß § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG verpflichtet, doch hat diese Pflicht zur Vorab-Information der Arbeitsagentur eine geringere Bedeutung als die Pflicht zur Massenentlassungsanzeige. Daher hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen vor kurzem entschieden, dass ein Verstoß gegen § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der späteren Kündigungen führt (Urteil vom 24.02.2021, 17 Sa 890/20).

Sachverhalt

Ein Hersteller von landwirtschaftlichen Bodenbearbeitungsgeräten war insolvent geworden und beschloss daher, seinen Betrieb mit knapp 190 Arbeitnehmern stillzulegen. Eine Anfang 2020 geplante Betriebsübernahme durch einen Investor scheiterte.

Daher vereinbarte der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich, dem eine Liste der zu kündigenden Arbeitnehmer im Sinne von § 1 Abs.5 KSchG und § 125 Abs.1 Insolvenzordnung (InsO) beigefügt war, sowie einen Sozialplan. Außerdem informierte er den Betriebsrat rechtzeitig über die bevorstehende Entlassung sämtlicher Arbeitnehmer des Betriebs, einer Massenentlassung im Sinne von § 17 Abs.1 Satz 1 Nr.2 KSchG, und konsultierte ihn gemäß § 17 Abs.2 KSchG, was der Betriebsrat im Interessenausgleich ausdrücklich bestätigte.

Allerdings hatte es der Arbeitgeber unterlassen, bei Beginn der Konsultation mit dem Betriebsrat der Arbeitsagentur eine Abschrift des an den Betriebsrat gegangenen Informationsschreibens zuzusenden, d.h. der Arbeitgeber verstieß gegen § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG.

Nach vorheriger Anhörung des Betriebsrats zu den einzelnen betriebsbedingten Kündigungen (§ 102 BetrVG) sprach der Arbeitgeber diese fristgemäß aus. Einer der betroffenen Arbeitnehmer erhob Kündigungsschutzklage, wobei er u.a. argumentierte, dass die Kündigung wegen § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG in Verb. mit § 134 BGB unwirksam sei. Das Arbeitsgericht Osnabrück wies die Klage ab (Urteil vom 16.06.2020, 1 Ca 79/20).

Entscheidung des LAG Niedersachsen

Auch das LAG Niedersachsen entschied gegen den Kläger. Zur Begründung heißt es:

Die Weiterleitung der an den Betriebsrat gegangenen schriftlichen Unterrichtung an die Arbeitsagentur soll diese frühzeitig von den Massenentlassungen unterrichten. Allerdings nützt das der Arbeitsagentur praktisch nichts, denn im Zeitpunkt dieser Unterrichtung steht noch nicht fest, ob und wie viele Arbeitnehmer auf den Arbeitsmarkt gelangen werden und welche Arbeitnehmergruppen betroffen sind (Urteil, Rn.51).

Genau darüber ist ja noch im Konsultationsverfahren zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat zu verhandeln. Erst wenn diese Gespräche abgeschlossen sind, liegt der genaue Umfang der bevorstehenden Entlassungen fest. Davon erfährt die Arbeitsagentur durch die Massenentlassungsanzeige.

Praxishinweis

Das Urteil des LAG Niedersachsen ist nachvollziehbar begründet, und in diesem Sinne hatte bereits vor einigen Jahren das LAG Hamm entschieden (LAG Hamm, Urteil vom 13.01.2015, 7 Sa 900/14). Das LAG Niedersachsen hat die Revision zum BAG zugelassen, wo der Fall inzwischen liegt. Daher wird voraussichtlich demnächst das BAG die Frage verbindlich entscheiden, welche Folgen ein Verstoß des Arbeitgebers gegen § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG hat (Aktenzeichen des BAG: 6 AZR 155/21).

Arbeitgebern ist zu raten, das Verfahren der Konsultation (gemäß § 17 Abs.2 KSchG) strikt von den Verhandlungen über einen Interessenausgleich (gemäß § 111 BetrVG) zu unterscheiden. Denn für beide Verfahren gelten unterschiedliche formale Anforderungen, wie der vorliegende Streitfall zeigt. Diese Anforderungen kann man nur einhalten, indem man zwei getrennte „Checklisten“ abarbeitet.

Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 24.02.2021, 17 Sa 890/20

 

Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsrat

Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Betriebsbedingte Kündigung

Handbuch Arbeitsrecht: Massenentlassung

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