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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 07|2025

Update Arbeitsrecht 07|2025 vom 31.07.2025

Entscheidungsbesprechungen

BAG lehnt kündigungsrechtliche Pflicht zum Präventionsverfahren in der Wartezeit und im Kleinbetrieb weiterhin ab

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 03.04.2025, 2 AZR 178/24

Arbeitgeber sind während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses nicht verpflichtet, vor Ausspruch einer ordentlichen Kündigung ein Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs.1 SGB IX durchzuführen.

§§ 164 Abs.2; 167 Abs.1; 168; 173 Abs.1 Satz 1 Nr.1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX); §§ 1, 23 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); §§ 1, 2, 3, 7 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG); § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); Art.5 Richtlinie 2000/78/EG; Art.2 Unterabsatz 3, 4; Art.27 Abs.1 Satz 2 Buchstabe i Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK)

Rechtlicher Hintergrund

Gemäß § 167 Abs.2 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) müssen Arbeitgeber, wenn ein Mitarbeiter in den letzten zwölf Monaten länger als sechs Wochen krank war, ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) durchführen.

Die Pflicht zum BEM bzw. dazu, es dem betroffenen Arbeitnehmer wenigstens anzubieten, gilt in Bezug auf alle „Beschäftigten“, d.h. für länger erkrankte behinderte wie nicht behinderte Mitarbeiter.

Der kleine Bruder des BEM ist das sog. Präventionsverfahren, das in § 167 Abs.1 SGB IX vorgeschrieben ist. Anders als das BEM gilt das Präventionsverfahren bzw. die Pflicht, es durchzuführen, nur gegenüber schwerbehinderten und gleichgestellten Mitarbeitern. § 167 Abs.1 SGB IX lautet

„Der Arbeitgeber schaltet bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeits- oder sonstigen Beschäftigungsverhältnis, die zur Gefährdung dieses Verhältnisses führen können, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung und die in § 176 genannten Vertretungen sowie das Integrationsamt ein, um mit ihnen alle Möglichkeiten und alle zur Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen zu erörtern, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeits- oder sonstige Beschäftigungsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann.“

Fraglich ist, ob die Pflicht zum Präventionsverfahren auch außerhalb des Anwendungsbereichs des allgemeinen Kündigungsschutzes gemäß § 1 Abs.2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) gilt, d.h. in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses (Wartezeit) und/oder auch in Kleinbetrieben mit weniger als elf Arbeitnehmern im Sinne von § 23 Abs.2 KSchG. 

Dann könnten schwerbehinderte und gleichgestellte Arbeitnehmer, denen in der Wartezeit ohne vorheriges Präventionsverfahren eine ordentliche Kündigung ausgesprochen wurde, gegen deren Wirksamkeit möglicherweise einwenden, dass § 167 Abs.1 SGB IX missachtet wurde, was die Kündigung wegen Gesetzesverstoßes gemäß § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) unwirksam machen könnte.

Das würde den Kündigungsschutz schwerbehinderter und gleichgestellter Arbeitnehmer erheblich ausweiten. 

Denn in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses brauchen Arbeitgeber noch keine vorherige Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung (§ 173 Abs.1 Satz 1 Nr.1 SGB IX). Sie müssten aber stattdessen ein - anspruchsvolles und zeitaufwendiges - Präventionsverfahren durchführen, wenn sie nicht die Unwirksamkeit einer Wartezeitkündigung riskieren wollen.

In diesem Sinne haben in den letzten Jahren das Arbeitsgericht Köln (Urteil vom 20.12.2023, 18 Ca 3954/23, s. dazu Update Arbeitsrecht 03|2024) und das Arbeitsgericht Freiburg entschieden (Urteil vom 04.06.2024, 2 Ca 51/24; s. dazu Update Arbeitsrecht 14|2024). 

Auch das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln hat sich für eine solche Ausweitung des Anwendungsbereichs von § 167 Abs.1 SGB IX ausgesprochen, den Fall des Arbeitsgerichts Köln in der Berufung aber trotzdem zugunsten des Arbeitgebers entschieden (LAG Köln, Urteil vom 12.09.2024, 6 SLa 76/24; s. dazu Update Arbeitsrecht 15|2024).

Vor kurzem hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) dieser Rechtsmeinung einer Absage erteilt.

Sachverhalt

Ein zum 01.01.2023 eingestellter schwerbehinderter Leiter für die Haus- und Betriebstechnik wurde vom Arbeitgeber in der Wartezeit, am 30.03.2023, ordentlich gekündigt. 

Da die Parteien eine Probezeit gemäß § 622 Abs.3 BGB vereinbart hatten, betrug die Kündigungsfrist zwei Wochen, so dass der Arbeitgeber zum 15.04.2023 kündigen konnte.

Ein vorheriges Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs.1 SGB IX hatte der Arbeitgeber nicht durchgeführt. 

Der Leiter für die Haus- und Betriebstechnik erhob Kündigungsschutzklage unter Berufung auf die angebliche Pflicht des Arbeitgebers zur Durchführung eines Präventionsverfahrens in der Wartezeit. Der Arbeitgeber berief sich darauf, dass sich der Kläger als fachlich ungeeignet erwiesen habe.

Das Arbeitsgericht Nordhausen (Urteil vom 30.08.2023, 2 Ca 293/23) und das Thüringer LAG (Urteil vom 04.06.2024, 1 Sa 201/23) entschieden gegen den Kläger.

Entscheidung des BAG

Auch in Erfurt hatte der Kläger kein Glück. Das BAG wies seine Revision zurück. Denn, so das BAG:

Die Pflicht zum Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs.1 SGB IX gilt weder in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses noch in Kleinbetrieben (Urteil, Rn.15 f.). 

Dies folgt nach Ansicht des BAG bereits aus dem klaren Wortlaut des § 167 Abs.1 SGB IX, dem zufolge es darauf ankommt, ob „personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten“ aufgetreten sind. 

Damit verweist § 167 Abs.1 SGB IX auf die drei möglichen Gründe für eine soziale Rechtfertigung einer Kündigung gemäß § 1 Abs.2 KSchG, d.h. der Präventionsparagraph knüpft an die Begriffe des Kündigungsschutzrechts an.

Daher ist ein Präventionsverfahren wegen der in § 167 Abs.1 SGB IX genannten „Schwierigkeiten“ nur vorgeschrieben, wenn das KSchG anwendbar ist und es auf die Rechtfertigung der Kündigung gemäß § 1 Abs.2 KSchG ankommt, d.h. auf einen tragfähigen personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Kündigungsgrund.

Hier verweist das Urteil auf die bisherige BAG-Rechtsprechung, in der das BAG bereits entschieden hat, dass eine Pflicht zum Präventionsverfahren nur im Anwendungsbereich des KSchG gilt (BAG, Urteil vom 21.04.2016, 8 AZR 402/14, Leitsatz 1)

Im Übrigen ist das Präventionsverfahren selbst auch keine „angemessene Vorkehrung“ zur beruflichen Förderung von Menschen mit Behinderung im Sinne von Art.5 Richtlinie 2000/78/EG und im Sinne von Art.2 Unterabsatz 3, 4 und Art.27 Abs.1 Satz 2 Buchstabe i Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Vielmehr dient das Präventionsverfahren dazu, solche (möglichen) angemessenen Vorkehrungen zu ermitteln.

Abschließend stellt das BAG klar, dass die streitige Kündigung auch nicht wegen des Unterlassens von angemessenen Vorkehrungen im Sinne von Art.5 Richtlinie 2000/78/EG und der Vorschriften der UN-BRK unwirksam ist. 

Es ist zwar denkbar, dass schwerbehinderte Arbeitnehmer auf der Grundlage von § 164 Abs.4 Satz 1 Nr.1, Nr.4 und Nr.5 SGB IX gegen eine Kündigung einwenden können, dass der Arbeitgeber keine angemessenen Vorkehrungen ergriffen und die Kündigung daher unwirksam ist.

Dies würde aber voraussetzen, dass der Arbeitnehmer vor Gericht konkret vorträgt, welche Vorkehrungen der Arbeitgeber mit Blick auf die - besonderen - behinderungsbedingten Probleme des Arbeitnehmers ergreifen müsste (Urteil, Rn.32).

Praxishinweis

Dem BAG ist zuzustimmen. Ein Präventionsverfahren außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG ergibt keinen rechten Sinn. 

Es wäre aufgrund der Kürze der Wartezeit für Arbeitgeber auch oft gar nicht möglich, bis zum Ablauf der Wartezeit ein Präventionsverfahren durchzuführen. 

Im Ergebnis würde dadurch Arbeitgebern, die mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigen, die Kündigungsfreiheit gegenüber schwerbehinderten und gleichgestellten Arbeitnehmern in der Wartezeit genommen.

Dies wäre mit den kündigungsschutzrechtlichen Regelungen des SGB IX nicht zu vereinbaren. Es hätte zudem wahrscheinlich erhebliche negative Auswirkungen auf die Bereitschaft von Arbeitgebern, Arbeitsverhältnisse mit schwerbehinderten und gleichgestellten Menschen überhaupt zu begründen.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 03.04.2025, 2 AZR 178/24 

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.04.2016, 8 AZR 402/14

Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 12.09.2024, 6 SLa 76/24

Arbeitsgericht Köln, Urteil vom 20.12.2023, 18 Ca 3954/23

Arbeitsgericht Freiburg, Urteil vom 04.06.2024, 2 Ca 51/24 

 

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