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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 07|2020

Update Arbeitsrecht 07|2020 vom 01.04.2020

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Spruch der Einigungsstelle zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 19.11.2019, 1 ABR 36/18

Arbeitnehmer müssen über die Beteiligung betrieblicher Interessenvertretungen am BEM frei entscheiden können.

§ 167 Abs.2 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX); §§ 76, 87 Abs.1 Nr.1, 6, 7, Abs.2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)

Rechtlicher Hintergrund

Wenn ein Arbeitnehmer innerhalb der letzten zwölf Monate länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig ist, muss der Arbeitgeber gemäß § 167 Abs.2 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) unter Beteiligung des Arbeitnehmers und des Betriebsrats bzw. Personalrats klären, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Diese Klärung heißt „betriebliches Eingliederungsmanagement“ oder kurz „BEM“.

Der Betriebsrat hat gemäß § 87 Abs.1 Nr.7 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ein Mitbestimmungsrecht für eine verfahrensrechtliche Ausgestaltung des BEM, wie das Bundesarbeitsgericht (BAG) vor einigen Jahren entschieden hat (BAG, Beschluss vom 22.03.2016, 1 ABR 14/14, Rn.12). Er kann dabei die Aufstellung solcher Verfahrensregeln in Form einer Betriebsvereinbarung (BV) von sich aus verlangen (Initiativrecht) und notfalls durch die Einigungsstelle erzwingen (§ 87 Abs.2 BetrVG). Solche Verfahrensregeln können z.B. die Art und Weise der Einladung von Arbeitnehmern zu einem BEM betreffen oder die Dokumentation von BEM-Gesprächen.

Da ein BEM mit der Verarbeitung von Gesundheitsdaten des Arbeitnehmers verbunden ist, hat der Betriebsrat auch ein Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG, und schließlich auch gemäß § 87 Abs.1 Nr.1 BetrVG (Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb).

Obwohl § 167 Abs.2 Satz 1 SGB IX davon ausgeht, dass der Betriebsrat im Regelfall an den BEM-Gesprächen teilnehmen sollte, hat der betroffene Arbeitnehmer nach der BAG-Rechtsprechung das Recht, auf einem BEM ohne Beteiligung des Betriebsrats zu bestehen (BAG, Beschluss vom 22.03.2016, 1 ABR 14/14, Rn.11). Eine BEM-BV, die Verfahrensvorschriften des BEM regelt, darf sich nicht über dieses Wahlrecht des Arbeitnehmers hinwegsetzen.

Daher ist eine BEM-BV gesetzeswidrig, wenn sie dem Arbeitnehmer ein festes „BEM-Team“ vorgibt, in welchem u.a. Vertreter des Betriebsrats und/oder der Schwerbehindertenvertretung (SBV) mitwirken sollen, falls der Arbeitnehmer nach der BV nicht die Möglichkeit hat, die Mitwirkung von Mitgliedern des Betriebsrats und/oder der SBV in einem solchen BEM-Team zu untersagen.

In einem aktuellen Fall hat das BAG (wieder einmal) entschieden, dass eine BEM-BV wegen unzureichender Beachtung der verfahrensrechtlichen Rechte der betroffenen Arbeitnehmer unwirksam ist (BAG, Beschluss vom 19.11.2019, 1 ABR 36/18).

Sachverhalt

In einem größeren Hamburger Betrieb besteht seit Jahren Streit zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber über eine sinnvolle BEM-BV. Nachdem eine solche BV, die 2012 durch einen Spruch der Einigungsstelle beschlossen wurde, vom Arbeitgeber erfolgreich vor Gericht angefochten worden war, musste 2017 erneut die Einigungsstelle durch einen Spruch entscheiden. Auch dieser Einigungsstellenspruch wurde gerichtlich angefochten, diesmal vom Betriebsrat.

In der aktuellen BEM-BV aus dem Jahre 2017 war u.a. geregelt, dass länger erkrankte Arbeitnehmer, denen daher gemäß § 167 Abs.2 Satz 1 SGB IX ein BEM vorgeschlagen werden muss, in einem einleitenden Informationsgespräch, d.h. mündlich, über ihr Recht informiert werden sollten, sich für oder gegen die Teilnahme von Vertretern des Betriebsrats und der SBV entscheiden zu können. Außerdem war in der BV vorgesehen, dass der Arbeitnehmer auf ein solches Informationsgespräch verzichten kann und in diesem Fall sogleich zu dem eigentlichen BEM-Fallgespräch eingeladen werden sollte.

Nach Ansicht des Betriebsrats war die BV bzw. der Spruch der Einigungsstelle unwirksam, weil die Einigungsstelle keine konkreten Regelungen über den Klärungsprozess zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat im Rahmen des BEM aufgestellt hatte. Damit hatte sie, so der Betriebsrat, ihren Regelungsauftrag nicht (vollständig) erfüllt. Das Arbeitsgericht Hamburg hielt die BV für wirksam (Beschluss vom 16.01.2018, 24 BV 8/17), das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamburg dagegen für unwirksam (Beschluss vom 09.08.2018, 1 TaBV 4/18).

Entscheidung des BAG

Auch das BAG kam zu dem Ergebnis, dass die umstrittene BV unwirksam war, allerdings aus anderen Gründen als das LAG Hamburg. Denn die durch die BV vorgesehene Möglichkeit, dass sich betroffene Arbeitnehmer ohne einleitendes Informationsgespräch sogleich zu einem BEM-Fallgespräch eingeladen werden können, war gesetzeswidrig (BAG, Beschluss, Rn.29).

In § 167 Abs.2 Satz 1 SGB IX ist nämlich als Regelfall die Beteiligung des Betriebsrats vorgesehen, und bei schwerbehinderten Menschen auch die Beteiligung der SBV. Deren Teilnahme kann der Arbeitnehmer zwar widersprechen, doch muss er zunächst einmal darüber informiert werden, dass Betriebsrat und SBV im Allgemeinen teilnehmen sollten (falls der Arbeitnehmer einverstanden ist).

In der umstrittenen BV war aber nur vorgesehen, den Arbeitnehmer in einem ersten Anschreiben ganz allgemein darauf hinzuweisen, dass - falls gewünscht - die Möglichkeit der Teilnahme von Betriebsrat und ggf. SBV am BEM-Gespräch bestünde. Für den Fall des Verzichts auf ein einleitendes Informationsgespräch folgte dann sogleich das eigentliche BEM-Gespräch, so dass die Arbeitnehmer in diesem Fall nicht ausführlich genug über ihr Recht, Betriebsrat und ggf. SBV hinzuzuziehen, aufgeklärt wurden (BAG, Beschluss, Rn.35).

Vor allem müsste der Arbeitnehmer von sich aus aktiv werden, um für eine Beteiligung von Betriebsrat bzw. SBV zu sorgen. Die Initiativlast für deren Beiziehung zum BEM liegt aber beim Arbeitgeber, so das BAG (Beschluss, Rn.35).

Praxishinweis

In den vergangenen Jahren hat die Rechtsprechung die Anforderungen an ein rechtlich korrektes BEM-Einladungsschreiben sowie an die dabei erforderlichen datenschutzrechtlichen Informationen immer weiter verschärft.

Angesichts dieser häufigen Rechtsänderungen ist eine korrekte, d.h. den Anforderungen der aktuellen Rechtsprechung entsprechende BEM-BV nur im guten Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat möglich. Denn ansonsten können BEM-BV und ergänzende Musterschreiben nicht rasch genug angepasst werden.

Für eine solche fortlaufende Anpassung ist ein Einigungsstellenverfahren kaum geeignet, jedenfalls dann nicht, wenn die Betriebsparteien so zerstritten sind, dass sie erst die Einigungsstelle durch Spruch entscheiden lassen, um sich darüber wiederum jahrelang vor Gericht zu zanken.

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 19.11.2019, 1 ABR 36/18

 

Handbuch Arbeitsrecht: Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM)

Handbuch Arbeitsrecht: Einigungsstelle

Handbuch Arbeitsrecht: Krankheit

Handbuch Arbeitsrecht: Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten

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