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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 11|2025

Update Arbeitsrecht 11|2025 vom 30.11.2025

Entscheidungsbesprechungen

EuGH: Fehler bei der Anzeige einer Massenentlassung führen weiterhin zur Unwirksamkeit von Kündigungen

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 30.10.2025, C-134/24

Bei einer geplanten Massenentlassung ist es unzulässig, dass der Arbeitgeber vor ihrer Anzeige kündigen kann und eine Kündigung nachträglich wirksam wird, wenn Mängel der Anzeige behoben sind.

§ 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); Art.2, 3, 4 Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie - MERL); § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 45 Abs.3 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG)

Rechtlicher Hintergrund

Gemäß § 17 Abs.1, Abs.3 Satz 2 bis 5 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) müssen Arbeitgeber vor einer geplanten Massenentlassung die Arbeitsagentur schriftlich informieren. Dahinter steht Art.3 Abs.1 der Richtlinie 98/59/EG über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie - MERL).

In einem älteren Grundsatzurteil hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass unter „Entlassung“ im Sinne von Art.2 und 3 MERL nicht die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses, sondern die (zeitlich vorangehende) Erklärung einer Kündigung zu verstehen ist (EuGH, Urteil vom 27.01.2005, C-188/03 - Junk).

Der korrekte Ablauf sieht daher so aus: Der Arbeitgeber informiert den Betriebsrat und berät sich mit ihm („Konsultation“). Dann zeigt er der Arbeitsagentur die geplanten - und mit dem Betriebsrat besprochenen - Entlassungen an. Und danach spricht er die (angezeigten) Kündigungen aus.

Auf der Grundlage des Junk-Urteils des EuGH ist das Bundesarbeitsgericht (BAG) der Meinung, dass nicht nur eine vollständig unterlassene Anzeige, sondern auch Fehler bei der Anzeige die später erklärten Kündigungen unwirksam machen (BAG, Urteil vom 22.11.2012, 2 AZR 371/11, Rn.37).

Im Juli 2023 hat der EuGH allerdings entschieden, dass Art.2 Abs.3 Unterabsatz 2 MERL, der hinter § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG steht und wonach Arbeitgeber der Arbeitsverwaltung eine Abschrift ihrer dem Betriebsrat gegebenen Informationen übermitteln müssen, den betroffenen Arbeitnehmern keinen individuellen Rechtsschutz gegenüber Kündigungen gewährt (EuGH, Urteil vom 13.07.2023, C-134/22; s. dazu Update Arbeitsrecht 15|2023).

Daraufhin hat der Sechste BAG-Senat Ende 2023 erklärt, dass er aus Anzeigefehlern künftig nicht mehr die Unwirksamkeit einer Kündigung ableiten möchte (BAG, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B), s. dazu Update Arbeitsrecht 01|2024).

Gleichzeitig hat er den Zweiten BAG-Senat gemäß § 45 Abs.2 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) gefragt, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsansicht festhalten möchte.

Der Zweite BAG-Senat wiederum wollte diese Frage nicht beantworten, ohne den EuGH zuvor nach seiner Meinung gefragt zu haben (BAG, Beschluss vom 01.02.2024, 2 AS 22/23 (A); s. dazu Update Arbeitsrecht 03|2024).

Vor kurzem hat der EuGH zu der Vorlage des Zweiten BAG-Senats Stellung genommen: EuGH, Urteil vom 30.10.2025, C-134/24.

Sachverhalt

Ein lange in einem Betrieb mit 22 Arbeitnehmern beschäftigter Arbeitnehmer wurde nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen seines Arbeitgebers vom Insolvenzverwalter betriebsbedingt gekündigt, denn der Verwalter plante, den Betrieb zu schließen.

Im Zusammenhang mit der Kündigung hatte der Verwalter in einem Zeitraum von 30 Tagen, der für die Feststellung einer Massenentlassung nach § 17 Abs.1 KSchG maßgeblich ist, insgesamt mehr als fünf Arbeitnehmer entlassen.

Die Kündigung wurde daher im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung erklärt (§ 17 Abs.1 Satz 1 Nr.1 KSchG). Allerdings hatte der Verwalter zuvor keine Massenentlassungsanzeige erstattet.

Aus diesem Grund hatte die Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers vor dem Arbeitsgericht Hamburg (Urteil vom 20.04.2021, 5 Ca 656/20) und vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Hamburg Erfolg (LAG Hamburg, Urteil vom 03.02.2022, 3 Sa 16/21).

Nachdem sich erst der Sechste BAG-Senat (BAG, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B)) und sodann der Zweite BAG-Senat (BAG, Beschluss vom 01.02.2024, 2 AS 22/23 (A)) mit dem Fall befasst hatten, landete dieser wie erwähnt beim EuGH.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH entschied, dass Art.4 Abs. 1 Unterabsatz 1 MERL so auszulegen ist, dass die Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung erst nach Ablauf der in dieser Vorschrift vorgesehenen Frist von 30 Tagen wirksam werden kann (EuGH, Urteil, Rn.63).

Damit hat der Gerichtshof zwar nicht geklärt, ob dies auch in Fällen gilt, in denen der Arbeitgeber zwar eine Anzeige erstattet hat, dabei allerdings Fehler gemacht hat. Denn die darauf zielende Frage des Zweiten BAG-Senats war als „hypothetische Frage“ unzulässig, weil der Insolvenzverwalter im Streitfall gar keine Anzeige erstattet hatte. Diese Frage stellte sich im Streitfall somit nicht (EuGH, Urteil, Rn.68 f.).

Allerdings lässt sich den Urteilsgründen trotzdem ein Hinweis entnehmen, dass die Anzeige inhaltlich richtig sein muss, damit die 30-Tagesfrist beginnen kann, d.h. dass fehlerhafte Anzeigen zur Unwirksamkeit der später erklärten Kündigungen führen.

Denn das BAG hatte auch gefragt, ob Arbeitgeber, die anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen haben, eine (ordnungsgemäße) Anzeige nachholen können, so dass die Arbeitsverhältnisse der gekündigten Arbeitnehmer nach Ablauf der 30-Tagesfrist durch die - bereits zuvor erklärten - Kündigungen beendet werden können (Vorlagefrage Nr.3).

Hier lautet die Antwort des Gerichtshofs „nein“ (EuGH, Urteil, Rn.82):

„Im Rahmen einer beabsichtigten Massenentlassung ist es daher nicht zulässig, dass der Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag vor der in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 98/59 vorgesehenen Anzeige dieser Massenentlassung kündigen kann und das Wirksamwerden der Kündigung solange ausgesetzt ist, bis die Mängel der Anzeige behoben sind.“

Da das BAG bei seiner dritten Frage ausdrücklich von einer „ordnungsgemäßen“ Anzeige gesprochen hat, ergibt sich aus dieser Antwort des Gerichtshofs nicht nur, dass eine überhaupt fehlende Anzeige nicht nach Ausspruch einer Kündigung nicht nachgeholt werden kann, sondern dass dies (vermutlich) auch für den Fall gilt, dass eine Anzeige zwar erstattet wurde, aber nicht vollständig bzw. nicht ordnungsgemäß.

Praxishinweis

Der EuGH hat in dem jetzt ergangenen Urteil seine im Juli 2023 getroffene Aussage, dass jedenfalls einige Teilaspekte der Informationspflichten des Arbeitgebers gegenüber der Arbeitsverwaltung den betroffenen Arbeitnehmern keinen rechtlichen Individualschutz gewähren, nicht aufgegriffen.

Stattdessen betont der Gerichtshof, dass die Arbeitsverwaltung auf frühzeitige umfassende Informationen durch den Arbeitgeber angewiesen ist, um „nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen“ (EuGH, Urteil, Rn.59).

Das EuGH-Urteil ist daher jedenfalls kein klarer Anlass, von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen, der zufolge Fehler bei der Anzeige einer geplanten Massenentlassung zur Unwirksamkeit der später erklärten Kündigungen führen.

Wie der Zweite BAG-Senat nunmehr die Divergenzanfrage des Sechsten Senats beantworten wird, bleibt abzuwarten. Sollte er bei seiner bisherigen Rechtsprechung bleiben, ist nicht auszuschließen, dass sich der Große BAG-Senat mit dieser Frage befassen muss.

In jedem Fall ist Arbeitgebern zu raten, die Anzeige einer geplanten Massenentlassung wie in der Vergangenheit sehr sorgfältig auszuarbeiten, um nicht zu riskieren, dass später erklärte Kündigungen wegen eines solchen formaljuristischen Fehlers vor Gericht scheitern.

 

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 30.10.2025, C-134/24

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 30.10.2025, C-402/24

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 23.05.2024, 6 AZR 152/22 (A)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 01.02.2024, 2 AS 22/23 (A)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 01.02.2024, 2 AS 22/23 (A) (Pressemitteilung des Gerichts)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B) (Pressemitteilung des Gerichts)

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 13.07.2023, C-134/22

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A)

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.11.2012, 2 AZR 371/11

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 27.01.2005, C-188/03 (Junk)

 

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