Update Arbeitsrecht 09|2024 vom 30.09.2024
Entscheidungsbesprechungen
BAG: Pflicht zur Einladung von Ersatzmitgliedern des Betriebsrats in Krankheitsfällen
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20.05.2025, 1 AZR 35/24
Der Vorsitzende eines Betriebsrats kann im Normalfall davon ausgehen, dass die Ladung eines Ersatzmitglieds für ein verhindertes Mitglied nicht möglich ist, wenn er von der Verhinderung am Tag der Betriebsratssitzung erfährt.
§§ 25; 26; 29 Abs.2; 33 Abs.2; 77; 87 Abs.1 Nr.10 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG); §§ 177 Abs.1; 184 Abs.1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
Rechtlicher Hintergrund
Gemäß § 77 Abs.2 Satz 1 und 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) sind Betriebsvereinbarungen von Betriebsrat und Arbeitgeber gemeinsam zu beschließen und schriftlich niederzulegen sowie beiderseits zu unterzeichnen.
Dabei gilt, dass der Betriebsratsvorsitzende den Betriebsrat - ausschließlich- im Rahmen der vom Betriebsrat gefassten Beschlüsse vertritt (§ 26 Abs.2 Satz 1 BetrVG).
Die Unterschrift des Betriebsratsvorsitzenden, die dieser unter eine Betriebsvereinbarung gesetzt hat, genügt im Normalfall, um von einer wirksamen Betriebsvereinbarung auszugehen.
Will man es aber genau wissen, muss man überprüfen, ob der Betriebsrat über seine Zustimmung zu der Betriebsvereinbarung wirksam beschlossen hat.
Ist daher der Arbeitgeber, der Betriebsrat oder auch ein Arbeitnehmer des Betriebs aus seiner Sicht der Meinung, dass eine bestimmte Betriebsvereinbarung besser nicht in der Welt wäre, d.h. keine Rechtsgültigkeit hätte, liegt es nahe zu bestreiten, dass der Betriebsrat der missliebigen Betriebsvereinbarung wirksam - durch einen Beschluss - zugestimmt hat.
Dann kommt es darauf an, ob der Betriebsratsvorsitzende alle Mitglieder des Betriebsrats gemäß § 29 Abs.2 Satz 3 BetrVG „rechtzeitig“ sowie unter Mitteilung der Tagesordnung geladen hat. Das geschieht heutzutage in der Regel per E-Mail, Intranet oder Messengerdienst.
Ist ein Mitglied verhindert, z.B. wegen Urlaubs oder Erkrankung, muss der Betriebsratsvorsitzende gemäß § 29 Abs.2 Satz 6 BetrVG ein Ersatzmitglied laden.
Wer dann von den „rechtzeitig“ geladenen Mitgliedern oder Ersatzmitgliedern zur Sitzung kommt, ist erst einmal nicht wichtig, vorausgesetzt, es kommen so viele, dass der Betriebsrat beschlussfähig ist. Dazu müssen gemäß § 33 Abs.2 BetrVG mindestens die Hälfte der Betriebsratsmitglieder (bzw. Ersatzmitglieder) an der Beschlussfassung teilnehmen.
Ob eine durch den Vorsitzenden vorgenommene Ladung der Mitglieder und Ersatzmitglieder „rechtzeitig“ war oder nicht, ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und der Tagesordnung zu entscheiden. Hier gibt es keine allgemein gültigen Fristen.
Eine lange und komplizierte Tagesordnung muss mit einem längeren Vorlauf verschickt werden, ggf. auch mit Anlagen, damit sich die Mitglieder und Ersatzmitglieder vorbereiten können.
In einem aktuellen Fall hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dass der Vorsitzende normalerweise davon ausgehen kann, dass die Ladung eines Ersatzmitglieds für ein verhindertes Mitglied nicht mehr möglich ist, wenn er von der Verhinderung erst am Tag der Betriebsratssitzung erfährt.
Sachverhalt
Bei einem nicht tarifgebundenen metallverarbeitenden Unternehmen bestand ein 13-köpfiger Betriebsrat.
Dieser hatte 2007 eine für die Arbeitnehmer finanziell günstige Betriebsvereinbarung ausgehandelt (BV 2007), der zufolge die Arbeitnehmer ab 2008 in Anlehnung an den Metalltarifvertrag bezahlt werden sollten.
Wer infolge des neuen Vergütungssystems mehr Geld als bisher bekam, dem wurde diese Differenz als „Sockelbetrag“ ausgezahlt. Dabei sah die BV 2007 vor, dass der Sockelbetrag an künftigen Tariferhöhungen (effektiv, d.h. ohne Verrechnung) teilnimmt.
Eine spätere Betriebsvereinbarung von Dezember 2020 (BV 2020) sah vor, dass der Sockelbetrag ab 2022 um 25 Prozent gekürzt wird, und dass die übrigen 75 Prozent nicht mehr an künftigen Entgeltanpassungen teilnehmen.
Da über die Wirksamkeit der BV 2020 Streit bestand, beschloss der Betriebsrat am 25.07.2023, seine damalige Beschlussfassung zu bestätigen.
Zu der Sitzung am 25.07.2023 hatte der Vorsitzende am Vortag elf Betriebsratsmitglieder und zwei Ersatzmitglieder geladen. Am Vormittag des 25.07.2023 meldete sich ein weiteres Betriebsratsmitglied krank und sagte seine Teilnahme an der Sitzung ab.
Diese fand am frühen Nachmittag statt. Da acht Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder anwesend waren und an der Beschlussfassung teilnahmen, war der Betriebsrat beschlussfähig.
Ein Arbeitnehmer wollte sich mit der BV 2020 bzw. der daraus folgenden Verminderung seines Lohns nicht abfinden und klagte auf die Feststellung, dass die entsprechende Regelung der BV 2020 ihm gegenüber unwirksam ist.
Das Arbeitsgericht Freiburg wies die Klage ab (Urteil vom 14.03.2023, 5 Ca 202/22), während das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg ihr stattgab (Urteil vom 27.11.2023, 9 Sa 27/23). Das LAG meinte, der Betriebsratsvorsitzende hätte nach der Krankmeldung eines Mitglieds am Tag der Sitzung einen Nachrücker laden müssen.
Entscheidung des BAG
Das BAG hob das Urteil des LAG auf und bestätigte die Abweisung der Klage durch das Arbeitsgericht. Denn, so das BAG:
Die BV 2020 war inhaltlich in Ordnung und verstieß insbesondere nicht gegen die Regelungssperre des § 77 Abs.3 BetrVG, wonach Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können.
Denn im Streitfall hatte der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs.1 Nr.10 BetrVG. Bei dem - nicht tarifgebundenen - Unternehmen gab es nämlich keine gesetzliche oder tarifliche Regelung im Sinne von § 87 Abs.1 Eingangssatz BetrVG. Da diese Schranke vorrangig ist gegenüber § 77 Abs.3 BetrVG, konnte der Betriebsrat die BV 2020 abschließen.
Das hatte er auch wirksam getan, jedenfalls durch den Bestätigungsbeschluss vom 25.07.2023.
Ist eine Betriebsvereinbarung, wie hier die BV 2020 (möglicherweise) unwirksam, da der Vorsitzende sie zwar unterschrieben hat, der Betriebsrat aber (möglicherweise) nicht korrekt per Beschluss zugestimmt hat, ist eine nachträgliche Genehmigung entsprechend § 184 Abs.1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) möglich.
Dadurch wird die zunächst entsprechend § 177 Abs.1 BGB schwebend unwirksame Betriebsvereinbarung wirksam.
Im Streitfall hatte der Betriebsrat einen solchen Bestätigungsbeschluss am 25.07.2023 wirksam getroffen. Denn die Ladung eines Ersatzmitglieds für das am Sitzungstag erkrankte Mitglied war nicht nötig, so das BAG.
Hier betont das BAG, dass die „rechtzeitige“ Ladung es den Mitgliedern und Nachrückern ermöglichen soll, sich sachgerecht auf die Themen der Sitzung vorzubereiten.
Ob vor diesem Hintergrund eine Ladung im jeweiligen Einzelfall noch „rechtzeitig“ erfolgen kann, kann der Betriebsratsvorsitzende im Rahmen eines weiten Beurteilungsspielraums selbst einschätzen.
Dabei begeht er im Normalfall keine Fehleinschätzung, wenn er annimmt, dass die „rechtzeitige“ Nachladung eines Ersatzmitglieds für eine Sitzung am selben Tag nicht möglich ist.
Praxishinweis
Dem BAG ist zuzustimmen.
Der Betriebsratsvorsitzende muss ohnehin sorgfältig arbeiten, wenn er zu einer Sitzung lädt, bei der kontroverse Themen erörtert werden sollen. Oft sind umfangreiche Dokumente, ggf. in verschiedenen Versionen, beizufügen.
Dies noch am Tag der Sitzung tun zu müssen, ist im Allgemeinen zu viel verlangt.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20.05.2025, 1 AZR 35/24
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 27.11.2023, 9 Sa 27/23
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsrat
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsvereinbarung
Handbuch Arbeitsrecht: Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten
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