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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 22|2020

Update Arbeitsrecht 22|2020 vom 28.10.2020

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Arbeitgeber müssen darauf hinwirken, dass Arbeitnehmer ihren tariflichen Zusatzurlaub in Anspruch nehmen

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26.05.2020, 9 AZR 129/19

Enthält ein Tarifvertrag keine Sonderregelungen zum Verfall von Zusatzurlaubstagen, müssen Arbeitgeber aktiv auf deren Erfüllung hinwirken.

§ 1, 3, 7 Abs.3 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG); § 27 Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TVöD-VKA); Art.7 Richtlinie 2003/88/EG

Rechtlicher Hintergrund

Das Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) gewährt Arbeitnehmern nicht nur einen vierwöchigen Mindesturlaubsanspruch (§§ 1, 3 BUrlG) und setzt damit den EU-weit geltenden vierwöchigen Mindesturlaub gemäß Art.7 Richtlinie 2003/88/EG um, sondern enthält einige Verfahrensvorschriften, mit denen der Urlaub an das Kalenderjahr gebunden wird.

So schreibt § 7 Abs.3 Satz 1 bis 3 BUrlG vor, dass der Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden muss, und dass nicht genommener Urlaub nur auf das nächste Jahr übertragen wird, wenn dringende betriebliche oder persönliche Gründe dies rechtfertigen. Wird Urlaub übertragen, muss er bis spätestens Ende März des Folgejahres (Übertragungszeitraum) genommen werden.

Diese und andere Verfahrens- und Berechnungsvorschriften des BUrlG gelten erst einmal nur für den vierwöchigen Mindesturlaub. Daher können Tarif- und Arbeitsverträge z.B. vorschreiben, dass Mehrurlaubsansprüche generell verfallen oder in Geld auszuzahlen sind, wenn sie nicht bis zum Jahresende genommen werden. Tatsächlich finden sich nur selten derartige Verfahrensregelungen für Mehrurlaubsansprüche, die vom BUrlG abweichen.

Gibt es solche speziellen Regelungen nicht, gelten die Vorschriften des BUrlG über den Verfall, die Übertragung, die Berechnung und die Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) auch für den arbeits- und/oder tarifvertraglichen Mehrurlaub. Dann besteht ein verfahrensrechtlichen „Gleichlauf“ von Mindest- und Mehrurlaub.

Der Gleichlauf von Mindest- und Mehrurlaub umfasst nicht nur die im BUrlG ausdrücklich enthaltenen Regelungen, sondern auch die von der Rechtsprechung entwickelten, ungeschriebenen Regeln. Dazu gehört z.B. die vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) und vom BAG aufgestellte Regel, dass Arbeitgeber aktiv darauf hinwirken müssen, dass Arbeitnehmer ihren vierwöchigen Mindesturlaub rechtzeitig vor dessen Verfall am Jahresende in Anspruch nehmen (EuGH, Urteil vom 06.11.2018, C-684/16 [Shimizu]; BAG, Urteil vom 19.02.2019, 9 AZR 541/15).

Diese Mitwirkungsobliegenheit trifft den Arbeitgeber daher auch in Bezug auf tarifliche Mehrurlaubstage, wie das BAG vor kurzem klargestellt hat.

Sachverhalt

Ein Notfallsanitäter, der bei einem Landkreis des Landes Brandenburg in ständiger Wechselschicht arbeitete, war im Sommer 2016 knapp drei Monate arbeitsunfähig erkrankt, nämlich vom 12.05.2016 bis zum 15.08.2016. In dieser Zeit bekam er zunächst (bis zum 23.06.2016) Entgeltfortzahlung und danach Krankengeld und einen Krankengeldzuschuss von seinem Arbeitgeber.

Auf das Arbeitsverhältnis war der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) in der für die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) geltenden Fassung anzuwenden (TVöD-VKA). Gemäß § 27 Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TVöD-VKA) erhalten Beschäftigte, die ständig Wechselschichtarbeit leisten und denen eine entsprechende Zulage zusteht, für je zwei zusammenhängende Monate einen Arbeitstag Zusatzurlaub.

Der Arbeitgeber berechnete den tariflichen Wechselschicht-Zusatzurlaub für das Jahr 2016 mit drei Tagen, wobei er den Krankheitszeitraum aussparte. Der Sanitäter forderte den Arbeitgeber daraufhin (im Oktober 2016) dazu auf, ihm für 2016 zwei weitere Tage Zusatzurlaub zu gewähren, was der Arbeitgeber verweigerte.

Im September 2017 verklagte der Sanitäter den Landkreis mit dem Ziel, ihm zwei weitere Arbeitstage Zusatzurlaub für das Jahr 2016 als Ersatzanspruch zu gewähren. Das Arbeitsgericht Cottbus gab ihm Recht (Urteil vom 08.03.2018, 11 Ca 10421/17), während das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg die Klage abwies (Urteil vom 14.03.2019, 18 Sa 568/18). Aus Sicht des LAG ist die umstrittene Tarifregelung so zu verstehen, dass bei krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit kein Anspruch auf einen Wechselschicht-Zusatzurlaub bestand.

Entscheidung des BAG

Das BAG das LAG-Urteil auf und gab dem Sanitäter teilweise Recht, nämlich im Umfang eines Urlaubstages, den er für die Dauer der sechswöchigen Entgeltfortzahlung verlangen konnte, d.h. für Mai und Juni 2016 (BAG, Urteil, Rn.18-26). Dagegen konnte er für die Dauer des Krankengeldbezugs, d.h. nach Ablauf der sechswöchigen Entgeltfortzahlung, keinen Wechselschicht-Zusatzurlaub mehr verlangen (BAG, Urteil, Rn.36-38). Dies betraf die Monate Juli und August 2020.

Der dem Sanitäter zustehende tarifliche Zusatzurlaub von einem Tag war auch nicht gemäß § 7 Abs.3 BUrlG zum Jahresende 2016 verfallen, denn der Arbeitgeber hatte seine Mitwirkungsobliegenheit nicht erfüllt (BAG, Urteil, Rn.31). Anstatt den Sanitäter dazu aufzufordern, den Zusatzurlaubstag zu nehmen, ist der Landkreis der Verwirklichung dieses Anspruchs auf Zusatzurlaub wiederholt entgegengetreten, indem er die Gewährung des vom Kläger verlangten Zusatzurlaubs ablehnte (BAG, Urteil, Rn.34).

Dass sich der Arbeitgeber hier im Streitfall an die Vorgaben des EuGH und des BAG zu den urlaubsrechtlichen Mitwirkungspflichten halten musste, d.h. dass er zu einem rechtzeitigen Hinweis auf den drohenden Verfall des Zusatzurlaubs am Jahresende verpflichtet war, lag daran, dass die Vorschriften des TVöD-VKA über den Wechselschicht-Zusatzurlaub keine speziellen Regelungen über die Befristung enthalten, d.h. über den Verfall dieses Zusatzurlaubs am Jahresende (BAG, Urteil, Rn.33).

Praxishinweis

Arbeitgebern ist zu raten, bereits zu Anfang des Kalender- bzw. Urlaubsjahres, spätestens aber in den Sommermonaten ihre Arbeitnehmer in nachweisbarer Form, z.B. durch eine E-Mail, über den noch offenen Jahresurlaub zu informieren und diese Information mit der Aufforderung zu verbinden, den Urlaub rechtzeitig bis zum Jahresende zu nehmen.

Diese Mitwirkungsobliegenheit gilt auch für arbeitsvertragliche und/oder tarifvertragliche Mehrurlaubsansprüche, es sei denn, dass die einschlägigen arbeitsvertraglichen und/oder tarifvertraglichen Regelungen ausdrücklich vorsehen, dass der Arbeitgeber nicht dazu verpflichtet ist, auf den drohenden Verfall des Mehrurlaubs am Jahresende hinzuweisen. Solche (rechtlich zulässigen) Klauseln gibt es aber bislang praktisch kaum.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26.05.2020, 9 AZR 129/19

 

Handbuch Arbeitsrecht: Tarifvertrag

Handbuch Arbeitsrecht: Urlaub, Urlaubsanspruch

Handbuch Arbeitsrecht: Urlaub und Krankheit

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