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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 06|2022

Update Arbeitsrecht 06|2022 vom 23.03.2022

Entscheidungsbesprechungen

BAG erweitert Spielräume für Klageverzichtsprämien, die Sozialpläne ergänzen

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 07.12.2021, 1 AZR 562/20

Das BAG gibt seine bisherige Rechtsprechung auf, der zufolge „an sich” für einen Sozialplan zur Verfügung stehende Gelder nicht für eine Klageverzichtsprämie eingesetzt werden durften.

§§ 75 Abs.1, 111, 112 Abs.1 Satz 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG); §§ 1, 7 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)

Rechtlicher Hintergrund

Soll ein Betrieb mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern, in dem ein Betriebsrat gebildet ist, geschlossen werden, kann der Betriebsrat einen Sozialplan verlangen. Er soll die wirtschaftlichen Nachteile ausgleichen oder mildern, die den Arbeitnehmern durch die Betriebsschließung entstehen, §§ 111, 112 Abs.1 Satz 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Die wichtigsten Sozialplanleistungen sind Abfindungen für die betriebsbedingt entlassenen Arbeitnehmer.

Durch einen Abfindungsanspruch gemäß Sozialplan werden gekündigte Arbeitnehmer (selbstverständlich) nicht daran gehindert, Kündigungsschutzklage zu erheben. Ein solches Vorgehen ist oft sinnvoll, da es - abgesehen von den (überschaubaren) Prozesskosten - mit keinen Risiken verbunden ist. Denn wenn die Klage verloren geht, bleibt der Abfindungsanspruch nach dem Sozialplan bestehen. Er bildet daher ein rechtliches und finanzielles Auffangnetz.

Daher versuchen Arbeitgeber bei Verhandlungen über einen Sozialplan oft, den Betriebsrat zu einer ergänzenden (freiwilligen) Regelung zu bewegen, der zufolge Arbeitnehmer zusätzliche Zahlungen erhalten, wenn sie auf die Erhebung einer Kündigungsschutzklage verzichten („Klageverzichtsregelung“, „Turboregelungen“).

Dabei müssen die Betriebspartner nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) den Gleichbehandlungsgrundsatz beachten (§ 75 BetrVG). Das bedeutet, dass sie die eigentlichen Sozialplanleistungen nicht von einem Klageverzicht abhängig machen dürfen.

Das Verbot der Koppelung von Sozialplanabfindungen und Klageverzicht darf nach der bisherigen BAG-Rechtsprechung auch nicht dadurch umgangen werden, indem finanzielle Mittel, die eigentlich für den Sozialplantopf vorgesehen wären, aus diesem entnommen und zur Dotierung einer Turboregelung verwendet werden.

Eine solche unzulässige Umgehung kann, so die bisherige BAG-Rechtsprechung, vorliegen, wenn der Sozialplan keine „angemessenen“ (?) Leistungen vorsieht, oder wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dem eigentlich zur Verfügung stehenden (?) Sozialplantopf durch eine Turboregelung Gelder entzogen werden (BAG, Urteil vom 31.05.2005, 1 AZR 254/04, Rn.32). Dabei hat das BAG eine Klageverzichtsprämie von 0,1 Gehältern pro Beschäftigungsjahr ausdrücklich abgesegnet (BAG, Urteil vom 09.12.2014, 1 AZR 146/13).

Vor kurzem hat das BAG diese Rechtsprechung aufgegeben. Künftig gibt es daher keine finanziellen Grenzen mehr für die Höhe von Klageverzichtsprämien: BAG, Urteil vom 07.12.2021, 1 AZR 562/20.

Sachverhalt

Arbeitgeber und Betriebsrat vereinbarten wegen der Schließung des Betriebs einen Sozialplan und eine Betriebsvereinbarung (BV) zu einer Klageverzichtsprämie („BV Klageverzichtsprämie“). Die Sozialplanabfindungen betrugen je nach Altersgruppe zwischen 0,25 bis 0,95 Monatsgehälter pro Beschäftigungsjahr. Dabei war der Altersfaktor für die Gruppe der 56- bis 58-jährigen Arbeitnehmer am höchsten und sank dann wieder ab einem Alter von 59 Jahren, d.h. bei den sog. rentennahen Arbeitnehmern.

Die BV Klageverzichtsprämie verwies auf die Abfindungsformel im Sozialplan und erhöhte den altersabhängigen Faktor (von 0,25 bis 0,95) um 0,25 für den Fall, dass man nach Erhalt einer Kündigung keine Kündigungsschutzklage erheben sollte. Wer z.B. im Alter von bis zu 40 Jahren eine Sozialplanabfindung von 0,25 Gehältern pro Beschäftigungsjahr erhielt, konnte dadurch die Abfindung um 0,25 Gehälter pro Jahr aufstocken und somit verdoppeln. Allerdings waren die Abfindungen gemäß dem Sozialplan auf maximal 75.000,00 EUR begrenzt.

Ein 58-jähriger Arbeitnehmer wurde nach über 30-jähriger Beschäftigung im Juli 2019 zu Ende Februar 2020 gekündigt und ab September 2019 bis zu seinem Ausscheiden von der Arbeit freigestellt. Er erhob keine Kündigungsschutzklage und erhielt 75.000,00 EUR brutto Abfindung.

Später verklagte er seinen Ex-Arbeitgeber u.a. auf eine weitere Abfindung von 26.213,45 EUR brutto, da er die Deckelung auf maximal 75.000,00 EUR als unzulässige Altersdiskriminierung bewertete, sowie auf 26.635,12 EUR brutto Abfindung als Klageverzichtsprämie. Seiner Meinung nach war ihm die Klageverzichtsprämie infolge der Deckelung der Abfindung nicht effektiv zugutegekommen.

Das Arbeitsgericht Weiden (Urteil vom 11.03.2020, 3 Ca 879/19) und das Landesarbeitsgericht (LAG) Nürnberg wiesen die Klage ab (Urteil vom 14.10.2020, 2 Sa 215/20). Dabei war das LAG der Meinung, dass die BV Klageverzichtsprämie unwirksam war, die Deckelung der Gesamtabfindungen auf 75.000,00 EUR aber wirksam.

Anfang 2021 haben wir über einen vom LAG Nürnberg entschiedenen Parallelfall berichtet, der dieselbe Betriebsschließung betraf und ebenfalls zugunsten des Arbeitgebers entschieden wurde (LAG Nürnberg, Urteil vom 14.10.2020, 2 Sa 227/20, s. dazu Update Arbeitsrecht 02|2021 vom 27.01.2021).

Entscheidung des BAG

Das BAG sprach dem Kläger die Klageverzichtsprämie von 26.635,12 EUR brutto zu und wies die Revision im Übrigen zurück.

Dabei stellt das BAG klar, dass eine Abfindungsdeckelung - wie hier der Höchstbetrag von 75.000,00 EUR - im Allgemeinen keine mittelbare Benachteiligung älterer Arbeitnehmer darstellt, solange die Maximalabfindung die entlassungsbedingten Nachteile „substantiell abmildert“ und mit der Deckelung eine übermäßige Begünstigung älterer Arbeitnehmer begrenzt werden soll.

Allerdings konnte sich der Arbeitgeber gegenüber der eingeklagten Klageverzichtsprämie nicht auf die Deckelung der Sozialplanabfindung berufen, da Sozialplan und BV Klageverzicht selbstständig nebeneinander standen. Daher kam das BAG - anders als das LAG - zu dem Ergebnis, dass die Abfindungsdeckelung auf 75.000,00 EUR nicht die (gesondert zu zahlende) Klageverzichtsprämie erfasste.

Darüber hinaus gibt das BAG seine bisherige Rechtsprechung ausdrücklich auf, der zufolge es unzulässig war, wenn „an sich” für den Sozialplan zur Verfügung stehende finanzielle Mittel dem Sozialplan entzogen und für eine Klageverzichtsprämie eingesetzt wurden, d.h. im Bereinigungsinteresse des Arbeitgebers (BAG, Urteil vom 07.12.2021, 1 AZR 562/20, Rn.27). Aufgrund des weiten Ermessensspielraums der Betriebspartner bei der Festlegung von Sozialplanleistungen verbietet sich die Annahme, so die neue Linie des BAG, dass es ein „an sich” für den Sozialplan zur Verfügung stehendes finanzielles Volumen gebe.

Praxishinweis

Die Kurskorrektur des BAG ist richtig. Die bisherige Umgehungsrechtsprechung war mit erheblichen Rechtsunsicherheiten verbunden. Nunmehr ist klar, dass es grundsätzlich keine finanziellen Grenzen für Klageverzichtsprämien gelten.

Die einzige Grenze, die das BAG hier immer noch aufstellt, liegt in der ausreichenden Mindestdotierung des Sozialplans, der auch für diejenigen Arbeitnehmer, die Kündigungsschutzklage erheben, ausreichend hohe bzw. „substantielle“ Abfindungen vorsehen muss. Dann ist auch eine Deckelung auf einen maximalen Abfindungsbetrag zulässig.

Soll eine Klageverzichtsprämie effektiv sein, empfiehlt es sich, die zusätzliche Abfindung bzw. die Klageverzichtsprämie auf mindestens zwei bis drei Gehälter festzusetzen, damit sich ein entsprechender (erheblicher) Anreiz für die betroffenen Arbeitnehmer ergibt.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 07.12.2021, 1 AZR 562/20

 

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