UPDATE
ARBEITSRECHT
Ausgabe
ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 08|2022

Update Arbeitsrecht 08|2022 vom 20.04.2022

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Hinweis auf den Verfall des Zusatzurlaubs für Schwerbehinderte nur bei Kenntnis des Arbeitgebers

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 30.11.2021, 9 AZR 143/21

Auch wenn der Arbeitgeber einen Schwebehinderten auf den Verfall des Zusatzurlaubs am Jahresende nicht hinweist, verfällt der Zusatzurlaub, falls der Arbeitgeber die Schwerbehinderung nicht kennt und sie nicht offenkundig ist.

§ 7 Abs.3, 4 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG); Art.7 Richtlinie 2003/88/EG; § 208 Abs.1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) / § 125 Abs.1 SGB IX alte Fassung (bis 31.12.2017)

Rechtlicher Hintergrund

Gemäß § 208 Abs.1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf fünf zusätzliche Urlaubtage pro Jahr. Arbeiten sie regelmäßig an mehr oder an weniger als fünf Arbeitstagen pro Woche, erhöht oder vermindert sich der Zusatzurlaub dementsprechend. Der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen war bis zum 31.12.2017 inhaltsgleich in § 125 Abs.1 SGB IX alte Fassung festgelegt.

Die Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes (BUrlG) über Entstehung, Übertragung und Abgeltung des vierwöchigen Mindesturlaubs gelten nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) auch für den Zusatzurlaub für Schwerbehinderte. Nicht genommener Zusatzurlaub verfällt daher in gleicher Weise wie der vierwöchige Mindesturlaub am Jahresende entsprechend § 7 Abs.3 BUrlG.

Zu den allgemeinen urlaubsrechtlichen Regeln, die auch auf den Zusatzurlaub anzuwenden sind, gehört auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des BAG.

Danach sind Arbeitgeber verpflichtet, auf den drohenden Urlaubsverfall am Jahresende frühzeitig hinzuweisen und Arbeitnehmer aufzufordern, ihren Urlaub rechtzeitig in Anspruch zu nehmen, um dadurch den Urlaubsverfall zu verhindern (EuGH, Urteil vom 06.11.2018, C-684/16 [Shimizu], Rn.45; BAG, Urteil vom 19.02.2019, 9 AZR 541/15, Rn.30). Ohne einen solchen Hinweis tritt der gesetzlich vorgesehene Verfall des Urlaubs am Jahresende nicht ein.

Die besonderen Rechte schwerbehinderter Menschen gelten im Allgemeinen zwar auch dann, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderung nichts weiß, doch ist ein ausführlicher Hinweis des Arbeitgebers auf den drohenden Verfall des Schwerbehinderten-Zusatzurlaubs praktisch kaum vorstellbar, wenn der Arbeitgeber die Schwerbehinderung nicht kennt und wenn sie auch nicht offenkundig ist.

Vor kurzem hat das BAG klargestellt, dass der Zusatzurlaub auch bei einem unterbliebenen Hinweis verfällt, falls der Arbeitgeber die Schwerbehinderung nicht kannte und sie nicht offensichtlich war.

Sachverhalt

Ein schwerbehinderter Arbeitnehmer mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 war von Mitte August 2016 bis Mitte Februar 2019 in einem Unternehmen als Sicherheitskraft beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete durch ordentliche Eigenkündigung des Arbeitnehmers. Nach Ausspruch seiner Kündigung verlangte der Arbeitnehmer unter Vorlage seines Schwerbehindertenausweises zwölf Tage Zusatzurlaub, die er aber nicht erhielt.

Ob der Arbeitgeber schon vor dem Urlaubsantrag von der Schwerbehinderung wusste, war zwischen den Parteien streitig. Er hatte zwar bei Beginn des Arbeitsverhältnisses bei der Arbeitsagentur einen Eingliederungszuschuss beantragt, diesen aber nicht mit der Schwerbehinderung, sondern mit fachlichen Defiziten des Arbeitnehmers begründet.

Jedenfalls hatte es der Arbeitgeber - unstreitig - in der Zeit von 2016 bis 2019 unterlassen, den Arbeitnehmer frühzeitig auf die Gefahr des Untergangs von Urlaubsansprüchen zum Jahresende hinzuweisen.

Der Arbeitnehmer klagte nach seinem Ausscheiden auf Urlaubsabgeltung für nicht genommenen Mindesturlaub nach dem BUrlG und für zwölf Tage nicht genommenen Zusatzurlaub (zwei Tage aus 2016 sowie jeweils fünf Tage aus 2017 und 2018).

Das Arbeitsgericht Trier gab der Klage auf Urlaubsabgeltung für den nicht genommenen Mindesturlaub teilweise statt. Außerdem verurteilte es den Arbeitgeber zur Zahlung von 1.113,65 EUR brutto Abgeltung für die streitigen zwölf Tage Zusatzurlaub (Urteil vom 15.05.2019, Az. 4 Ca 160/19). Wegen der zwölf Tage Zusatzurlaub legte der Arbeitgeber Berufung ein.

Damit hatte er vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz Erfolg. Das LAG meinte, der Arbeitgeber hätte die Schwerbehinderung nicht gekannt. Daher sei er auch nicht zu einem Hinweis auf den drohenden Urlaubsverfall verpflichtet gewesen (LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14.01.2021, 5 Sa 267/19; s. dazu Update Arbeitsrecht 08|2021 vom 21.04.2021).

Entscheidung des BAG

Das BAG hob die Entscheidung des LAG Rheinland-Pfalz auf und verwies den Rechtsstreit zurück an das LAG. Denn das LAG hatte nicht gründlich genug geprüft, ob der Arbeitgeber wirklich keine Kenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers hatte.

Dabei bestätigt das BAG aber die Ansicht des LAG, dass Arbeitgeber zu einem Hinweis auf den drohenden Verfall des Schwerbehinderten-Zusatzurlaubs am Jahresende nicht verpflichtet sind, wenn sie die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht kennen und die Schwerbehinderung auch nicht offensichtlich ist. Der zweite Leitsatz des BAG-Urteils lautet:

„Hat der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers und ist diese auch nicht offenkundig, verfällt der Anspruch auf Zusatzurlaub auch dann mit Ablauf des Urlaubsjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist.“

Im Übrigen trägt zwar der Arbeitgeber vor Gericht die Beweislast dafür, dass er die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht kannte, doch kommen ihm dabei die sog. „Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast“ zugute, so das BAG.

Danach hat der Arbeitgeber zunächst einmal genug getan, wenn er behauptet, die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht gekannt zu haben. Dann ist es Sache des Arbeitnehmers, konkret vorzutragen, auf welche Weise er den Arbeitgeber über die Schwerbehinderung informiert hat, oder Umstände zu benennen, aus denen auf die Kenntnis des Arbeitgebers geschlossen werden kann.

Praxishinweis

Arbeitgeber müssen nicht von sich aus erfragen, ob ein Arbeitnehmer schwer behindert ist. Darüber hinaus können sie von schwerbehinderten Arbeitnehmern erwarten, dass sie ihre Schwerbehinderung mitteilen, wenn sie den Zusatzurlaub wahrnehmen möchten (BAG, Urteil, Rn.24).

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 30.11.2021, 9 AZR 143/21

Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14.01.2021, 5 Sa 267/19

Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de

IMPRESSUM