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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 17|2022

Update Arbeitsrecht 17|2022 vom 24.08.2022

Entscheidungsbesprechungen

BAG fragt EuGH, ob Urlaub trotz Corona-Quarantäne gewährt werden kann

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 16.08.2022, 9 AZR 76/22 (A)

Der EuGH soll entscheiden, ob es mit dem Europarecht zu vereinbaren ist, dass Urlaubstage nach deutschem Arbeitsrecht nicht noch einmal zu gewähren sind, wenn ein nicht an Corona erkrankter Arbeitnehmer eine Quarantäneanordnung beachten muss.

§ 9 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG); Art.7 Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie); Art.31 Abs.2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC)

Rechtlicher Hintergrund

Wer krank ist, kann keinen Urlaub machen und sich im Urlaub erholen, sondern muss zunächst einmal wieder gesund werden. Daher enthält § 9 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) folgende Regelung: Erkrankt ein Arbeitnehmer während des Urlaubs, werden die durch ein ärztliches Attest nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfähigkeit auf den Jahresurlaub nicht angerechnet.

Fraglich ist, ob diese Regelung auch auf den Fall anzuwenden ist, dass ein Arbeitnehmer zwar während des Urlaubs nicht krank wird, sich aber aufgrund einer behördlichen Anordnung für eine bestimmte Zeit in häuslicher Quarantäne aufhalten muss. 

Solche Quarantäneanordnungen haben die Gesundheitsämter während der Corona-Pandemie häufig verhängt. Grundlage der Quarantäneanordnungen sind Infektionsrisiken, die von der betroffenen Person ausgehen, z.B. weil sie positiv auf Corona getestet worden waren und/oder weil sie Umgang mit infizierten Personen hatten.

Für eine Anwendung von § 9 BUrlG auf das Zusammentreffen von Urlaub und einer Quarantäneanordnung spricht, dass der betroffene Arbeitnehmer in solchen Situation seinen Urlaub nicht oder nur in eingeschränktem Maße genießen kann, da er infolge der Quarantäne das Haus nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen verlassen darf.

Gegen eine Anwendung von § 9 BUrlG auf Quarantäne-Fälle spricht aber, dass § 9 BUrlG eine klar definierte Ausnahmeregelung enthält. Sie setzt nicht nur die Arbeitsunfähigkeit des beurlaubten Arbeitnehmers voraus, sondern darüber hinaus auch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. 

Damit lässt § 9 BUrlG erkennen, dass er keineswegs für alle Fälle einer verdorbenen Urlaubsfreude durch äußere Umstände wie Krankheit oder Quarantäne eine Pflicht des Arbeitgebers zur Nachgewährung des Urlaubs vorsieht.

Daher haben die Arbeits- und Landesarbeitsgerichte (LAG) Klagen von Arbeitnehmern, die wegen einer Corona-Quarantäne während eines Urlaubs vom Arbeitgeber Nachgewährung von nutzlos vertanen Urlaubstagen verlangt haben, in den vergangenen Monaten durchweg abgewiesen. Die Begründung lautete, dass § 9 BUrlG eine abschließende und auf Quarantänefälle nicht anwendbare Sonderregelung darstellt.

Abweichend von dieser Rechtsprechung hat das LAG Hamm einen Quarantäne-Fall zugunsten des Arbeitnehmers entschieden und die Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) zugelassen (LAG Hamm, Urteil vom 27.01.2022, 5 Sa 1030/21, s. dazu Update Arbeitsrecht 05|2022). 

Sachverhalt

Ein vollzeitig beschäftigter Schlosser beantragte acht Tage Urlaub vom 12.10.2020 (Montag) bis zum 21.10.2020 (Mittwoch). Nachdem der Arbeitgeber den Urlaub bewilligt und der Arbeitnehmer ihn angetreten hatte, erließ die Stadt Hagen am 14.10.2020 eine Ordnungsverfügung, mit der sie den Arbeitnehmer zur häuslichen Quarantäne vom 09.10.2020 bis zum 21.10.2020 verpflichtete, d.h. bis zum letzten Urlaubstag. 

Daraufhin verlangte der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber, seinem Urlaubskonto die acht Urlaubstage gutzuschreiben, die wegen der Quarantäne nutzlos vertan waren. Der Arbeitgeber weigerte sich und der Schlosser klagte auf Urlaubsgutschrift vor dem Arbeitsgericht Hagen, das die Klage abwies (Urteil vom 28.07.2021, 2 Ca 2784/20). 

Dagegen gab das LAG dem Schlosser recht. Das LAG meinte in Abweichung von der herrschenden Meinung, dass § 9 BUrlG auf Fälle einer Corona-Quarantäne sinngemäß anzuwenden sei. Aufgrund der vom LAG Hamm zugelassenen Revision landete der Fall beim BAG.

Entscheidung des BAG

Der für das Urlaubsrecht zuständige Neunte BAG-Senat entschied den Fall nicht selbst, sondern legte ihn dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor. In der derzeit allein vorliegenden BAG-Pressemeldung heißt es zur Begründung:

Die Entscheidung des BAG hängt davon ab, ob es mit Art.7 Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) und mit Art.31 Abs.2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) zu vereinbaren ist, wenn beantragter und gewährter Jahresurlaub, der sich mit einer später angeordneten Corona-Quarantäne überschneidet, nach deutschem Recht nicht nochmals zu gewähren ist, wenn der beurlaubte Arbeitnehmer nicht krank war. 

Hinter dieser Frage des BAG steht die EuGH-Rechtsprechung zu dem in Art.7 Abs.1 Arbeitszeitrichtlinie garantierten vierwöchigen Mindesturlaub. Nach der EuGH-Rechtsprechung ist der vierwöchige Mindesturlaub ein besonders wichtiger Grundsatz des Sozialrechts der EU, den der EuGH in seiner Rechtsprechung in viele Richtungen hin abgesichert hat. 

Insbesondere hat der EuGH dafür gesorgt, dass eine längere Erkrankung des Arbeitnehmers frühestens nach 15 Monaten ab dem Ende des jeweiligen Urlaubsjahres verfallen kann. 

Daher ist es denkbar, dass der EuGH der Meinung ist, dass der europarechtlich garantierte Mindesturlaub dagegen abgesichert werden muss, dass sie durch eine Corona-Quarantäne für den Arbeitnehmer entwertet werden.

Praxishinweis

Jetzt muss der EuGH entscheiden, ob es mit dem Europarecht zu vereinbaren ist, dass Urlaubstage nach deutschem Arbeitsrecht nicht noch einmal zu gewähren sind, wenn ein nicht an Corona erkrankter Arbeitnehmer eine Quarantäneanordnung beachten muss.

Der Vorlagebeschluss des BAG beruht auf der Ansicht, dass § 9 BUrlG auf Quarantäne-Fälle grundsätzlich nicht anzuwenden ist, d.h. solange das Europarecht keine andere Interpretation dieser Regelung vorschreibt. Denn andernfalls hätte das BAG den Fall ohne Anrufung des EuGH zugunsten des Arbeitnehmers entscheiden können. 

Wie der EuGH die Fragen des BAG beantworten wird, ist offen. Jedenfalls gibt es Parallelen zwischen einer Entwertung des Urlaubs durch eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit und einer Corona-Quarantäne, die der Arbeitnehmer ebenso wenig beeinflussen kann wie eine Erkrankung. Wenn sich der EuGH an diesen Parallelen orientiert, könnte er die Vorlagefrage des BAG zugunsten der Arbeitnehmerseite entscheiden.

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 16.08.2022, 9 AZR 76/22 (A) (Pressemeldung des Gerichts)

Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 27.01.2022, 5 Sa 1030/21


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