Update Arbeitsrecht 11|2025 vom 30.11.2025
Entscheidungsbesprechungen
EuGH: Eine richterrechtliche Verlängerung der Kündigungsfrist wäre keine ausreichende Sanktion für Fehler bei der Massenentlassungsanzeige
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 30.10.2025, C-402/24
Erstattet der Arbeitgeber eine fehlerhafte Entlassungsanzeige, ist es nicht ausreichend, wenn die Arbeitsverwaltung die Fehlerhaftigkeit nicht beanstandet und sich „als ausreichend informiert betrachtet“.
§ 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); Art.2, 3, 4 Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie - MERL); § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 45 Abs.3 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG)
Rechtlicher Hintergrund
Seit 2023 wird vermehrt darüber gestritten, welche rechtlichen Folgen es hat, wenn Arbeitgeber bei der gemäß § 17 Abs.1, Abs.3 Satz 2 bis 5 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) vorgeschriebenen Anzeige einer geplanten Massenentlassung bei der Arbeitsagentur Fehler machen.
Ende Oktober 2025 hat der Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit zwei gleichzeitig ergangenen Urteilen zu diesen Fragen Stellung genommen.
Einen kurzen Überblick über den Verlauf der Diskussion finden Sie in der Besprechung des EuGH-Urteils, mit dem der Gerichtshof eine Vorlage des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts (BAG) beantwortet (s. dazu Update Arbeitsrecht 11|2025).
Auslöser der Debatte war ein EuGH-Urteil von Juli 2023, in dem es heißt, dass bestimmte Informationspflichten des Arbeitgebers gegenüber der Arbeitsverwaltung, die in der Massenentlassungsrichtlinie (MERL) festgelegt sind und die hinter § 17 KSchG stehen, nicht den Zweck haben, den individuellen Rechtsschutz der gekündigten Arbeitnehmer zu verstärken (EuGH, Urteil vom 13.07.2023, C-134/22; s. dazu Update Arbeitsrecht 15|2023).
Diese Entscheidung hat sich v.a. der Sechste BAG-Senat zu Herzen genommen und Ende 2023 erklärt, dass er aus Fehlern bei der Anzeige einer Massenentlassung künftig nicht mehr die Unwirksamkeit einer Kündigung ableiten möchte. Daher fragte er beim Zweiten BAG-Senat an, ob dieser das auch so sehen und daher seine bisherige Rechtsprechung ändern würde (BAG, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B), s. dazu Update Arbeitsrecht 01|2024).
Nachdem der Zweite BAG-Senat dazu zunächst den EuGH um eine Stellungnahme gebeten hatte, legte der Sechste Senat dem Gerichtshof seinerseits auch einen Fall zur Vorabentscheidung vor (BAG, 23.05.2024, 6 AZR 152/22 (A); s. dazu Update Arbeitsrecht 12|2024).
Über diesen Vorlagefall hat der EuGH nunmehr, am selben Tag wie über die Vorlage des Zweitens Senats, entschieden: EuGH, Urteil vom 30.10.2025, C-402/24.
Sachverhalt
Eine Pilotin arbeitete seit 2012 als Flugkapitänin für die Luftfahrtgesellschaft Walter mbH, die etwa 348 Arbeitnehmer beschäftigte.
Nachdem die Gesellschaft im Sommer 2020 insolvent geworden war und die Einstellung des Betriebs beschlossen hatte, zeigte der Insolvenzverwalter der Arbeitsagentur am 01.07.2020 die beabsichtigte Massenentlassung an.
Dabei verstieß er gegen § 17 Abs.3 Satz 2, 3 KSchG, da er seiner Anzeige weder eine Stellungnahme des Betriebsrats beifügte noch eine - alternativ zulässige - eigene Darlegung des Stands der Beratungen.
Die Arbeitsagentur bestätigte zwar den Eingang der Anzeige, allerdings mit dem Hinweis, dass sie ausschließlich den Empfang der dieser Anzeige beigefügten Unterlagen bestätige.
Gegen die am 29.07.2020 erklärte Kündigung erhob die Pilotin Kündigungsschutzklage.
Das Arbeitsgericht Düsseldorf (Urteil vom 26.11.2020, 10 Ca 6101/20) und das Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf wiesen die Klage ab (LAG Düsseldorf, Urteil vom 28.10.2021, 5 Sa 47/21).
Nachdem der Sechste BAG-Senat den Fall auf dem Tisch hatte, legte er ihn wie erwähnt dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
Entscheidung des EuGH
Der EuGH verneint die vom Sechsten BAG-Senat gestellte Frage, ob es mit der MERL zu vereinbaren wäre, wenn die Arbeitsverwaltung eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nicht beanstandet und „sich damit als ausreichend informiert betrachtet“, um ihrer Aufgabe nachzukommen, nach Lösungen für die - durch die Massenentlassung entstehenden - Probleme zu suchen (Art.4 Abs.2 MERL).
Denn, so der EuGH: Eine fehlerhafte oder unvollständige Anzeige würde die Arbeitsverwaltung daran hindern, ihre Aufgabe der Suche nach Lösungen zu erfüllen (EuGH, Urteil, Rn.61).
Darüber hinaus hatte der Sechste BAG-Senat den Gerichtshof gefragt, ob es mit Art.3 MERL vereinbar ist, wenn eine fehlerhafte oder vollständig unterbliebene Massenentlassungsanzeige später korrigiert, ergänzt oder nachgeholt wird, und zwar nach Ausspruch einer Kündigung.
Diese Frage weist der EuGH als unzulässig zurück. Denn im Streitfall hatte der Insolvenzverwalter keine nachträgliche Korrektur bzw. Ergänzung seiner fehlerhaften Anzeige vorgenommen. Diese Frage des BAG war daher hypothetisch und konnte vom EuGH daher nicht beantwortet werden (EuGH, Urteil, Rn.70 f.).
Mit einer - etwas verunglückten - dritten Frage wollte das BAG wissen, ob es im Rahmen der den EU-Staaten gemäß Art.6 MERL überlassenen Ausgestaltung des Verfahrens zulässig wäre, wenn Fehler bei einer Massenentlassungsanzeige durch die Arbeitsgerichte in der Weise sanktioniert würden, dass die Kündigungsfristen zugunsten der gekündigten Arbeitnehmer vorübergehend gehemmt sind (BAG, 23.05.2024, 6 AZR 152/22 (A), Rn.37).
Auch diese Frage beantwortet der Gerichtshof mit „nein“.
Art.6 MERL ist so auszulegen, dass es keine Maßnahme der Durchsetzung der Anzeigepflicht Art.3 Abs.1 darstellt, wenn eine fehlerhafte oder unvollständige Anzeige gemäß einer nationalen Regelung oder Rechtsprechung die Folge hat, dass die 30-Tagesfrist nicht läuft bzw. vorübergehend gehemmt ist (EuGH, Urteil, Rn.83 f.).
Praxishinweis
Das Urteil des EuGH zu der Vorlage des Sechsten BAG-Senats geht in dieselbe Richtung wie sein Urteil über die Vorlage des Zweiten BAG-Senats.
Im Vordergrund beider Entscheidungen steht Art.4 Abs.2 MERL bzw. dessen Auslegung durch den Gerichtshof, wonach die 30-tägige Entlassungssperre der Behörde ungekürzt zur Verfügung stehen muss, um nach Lösungen für die Probleme zu suchen, die durch die beabsichtigte Massenentlassung aufgeworfen werden.
Zu diesem Zweck ist eine vollständige und korrekte Vorab-Information durch den Arbeitgeber erforderlich, wie sie in Art.3 Abs.1 MERL vorgesehen ist. Erst wenn der Arbeitgeber hier alle ihn treffenden Pflichten erfüllt hat, kann die 30-Tagesfrist zu laufen beginnen.
Kündigt der Arbeitgeber vorher, kann er seine Fehler später nicht korrigieren.
Es spricht viel dafür, dass das BAG nunmehr, d.h. auf der Grundlage dieses EuGH-Urteils und des Urteils in der Parallelvorlage des Zweiten Senats, seine bisherige Rechtsprechung nicht ändern wird, so dass fehlerhafte oder gar vollständig unterbliebene Anzeigen weiterhin zur Unwirksamkeit der später erklärten Kündigungen führen.
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 30.10.2025, C-402/24
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 30.10.2025, C-134/24
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 23.05.2024, 6 AZR 152/22 (A)
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 01.02.2024, 2 AS 22/23 (A)
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 01.02.2024, 2 AS 22/23 (A) (Pressemitteilung des Gerichts)
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B)
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B) (Pressemitteilung des Gerichts)
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 13.07.2023, C-134/22
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A)
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.11.2012, 2 AZR 371/11
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 27.01.2005, C-188/03 (Junk)
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