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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 08|2025

Update Arbeitsrecht 08|2025 vom 31.08.2025

Entscheidungsbesprechungen

LAG Baden-Württemberg: Verfahrensfehler beim vorbereitenden BEM-Erstgespräch

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 14.01.2025, 15 Sa 22/24

Verfahrensfehler, die ein vom Arbeitgeber beauftragter externer Dienstleister bei der Einladung zu einem BEM-Vorgespräch und bei diesem begeht, sind dem Arbeitgeber gemäß § 278 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zuzurechnen.

§§ 1, 23 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); § 167 Abs.2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX); § 278 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

Rechtlicher Hintergrund

Wenn Beschäftigte in den vergangenen zwölf Monaten länger als sechs Wochen (mit oder ohne Unterbrechungen) arbeitsunfähig waren, müssen Arbeitgeber gemäß § 167 Abs.2 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) durchführen oder zumindest anbieten.

BEM heißt, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich zusammensetzen und gemeinsam überlegen, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann.

Da ein BEM nur funktioniert, wenn die Beteiligten Informationen über die Art der Erkrankung haben, setzt ein BEM die - jederzeit widerrufliche - Einwilligung des betroffenen Arbeitnehmers zur Offenlegung seiner Krankheits- bzw. Gesundheitsdaten voraus. 

Damit der seine Entscheidung für oder gegen ein BEM möglichst selbstbestimmt treffen kann, schreibt das Gesetz eine Vorab-Information des Arbeitnehmers vor. In § 167 Abs.2 Satz 3 SGB heißt es dazu:

„Die betroffene Person oder ihr gesetzlicher Vertreter ist zuvor auf die Ziele des betrieblichen Eingliederungsmanagements sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen.“

Auf dieser Grundlage ist es üblich, dass Arbeitgeber ein BEM mit einem BEM-Einladungsschreiben beginnen, denn dann ist klar dokumentiert, dass der Arbeitgeber § 167 Abs.2 Satz 3 SGB beachtet hat. Fehler bei der Vorab-Information sind dann natürlich auch dokumentiert.

Die rechtliche Bedeutung des BEM-Einladungsschreibens ist erheblich. Denn eine krankheitsbedingte Kündigung, die § 1 Abs.2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) entspricht und damit sozial gerechtfertigt ist, setzt zwar nicht zwingend ein vorheriges BEM voraus. Hat der Arbeitgeber aber kein BEM durchgeführt oder zumindest angeboten, ist im Regelfall davon auszugehen, dass es anderweitige Möglichkeiten der Beschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers gab, die der Arbeitgeber als milderes Mittel gegenüber der Kündigung hätte wählen müssen. 

Denn durch ein BEM sollen solche Beschäftigungsmöglichkeiten geklärt werden. Hat der Arbeitgeber nicht „gebemmt“, muss er vor Gericht nachweisen, dass ein BEM mit Sicherheit nutzlos gewesen wäre.

Diesen Nachweis kann man meist nicht führen und verliert dann den Prozess.

In einer vor kurzem veröffentlichten Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (LAG) Baden-Württemberg kam das LAG zu dem Ergebnis, dass der im Kündigungsschutzprozess verklagte Arbeitgeber ein BEM zwar angeboten und auch (ansatzweise) durchgeführt hatte, zuvor aber kein korrektes Informationsschreiben an den Arbeitnehmer adressiert hatte. Daher ging das Verfahren zugunsten des klagenden Arbeitnehmers aus: LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.01.2025, 15 Sa 22/24.

Sachverhalt

Ein über 30 Jahre alter Transportmitarbeiter war seit Oktober 2014 in einem Betrieb mit mehr als zehn Arbeitnehmern tätig. 

Das Arbeitsverhältnis unterstand daher gemäß §§ 1 Abs.1, 23 Abs.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) dem allgemeinen Kündigungsschutz, d.h. eine ordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber musste im Sinne von § 1 Abs.2 KSchG sozial gerechtfertigt sein.

Da er seit Sommer 2018 erhebliche krankheitsbedingte Fehlzeiten von mehr als sechs Wochen pro Jahr aufwies, übersandte ihm der Arbeitgeber im Januar 2023 einen Info-Flyer zum Thema BEM. 

Das BEM selbst wurde durch einen vom Arbeitgeber beauftragten externen Dienstleister auf der Grundlage einer BEM-Betriebsvereinbarung durchgeführt. 

Das im Januar 2023 von dem Dienstleister an den Arbeitnehmer übersandte Einladungsschreiben zu einem ersten BEM-Vorgespräch enthielt einen Hinweis auf die über sechs Wochen liegenden Fehlzeiten und informierte darüber, dass es bei einem BEM geboten sein könnte, „weitere Daten zu erheben“. 

Außerdem war von einem „BEM-Team“ die Rede, doch wurde nicht gesagt, wer diesem angehören sollte. Schließlich wurde die Vorlage einer Datenschutzerklärung im Erstgespräch versprochen, diese aber später nicht überreicht.

Im Februar 2023 fand das geplante Erstgespräch mit einer Mitarbeiterin des externen Dienstleisters statt. In diesem Gespräch wurden bereits gesundheitliche Beeinträchtigungen thematisiert. In dem Protokoll („Datenblatt Infogespräch“) hieß es:

„BEM startet nicht, da MA mit Arbeitsplatz zufrieden, keine Einschränkungen zurzeit BEM-Infogespräch hat am 20.02.23 stattgefunden. Falls der MA erneut erkrankt, kann er freiwillig ein BEM starten bzw. nach sechs Wochen erneuter Arbeitsunfähigkeit bekommt er eine neue Einladung.“

Ein halbes Jahr später, im Juli 2023, kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis - ohne eine Fortsetzung des BEM oder ein erneutes BEM - ordentlich aus krankheitsbedingten Gründen, wogegen der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage einreichte. Das Arbeitsgericht Stuttgart gab der Klage statt, da es meinte, der Arbeitgeber habe kein ordnungsgemäßes BEM durchgeführt (Urteil vom 20.03.2024, 13 Ca 72/23).

Entscheidung des LAG Baden-Württemberg

Die Berufung des Arbeitgebers hatte keinen Erfolg. Auch das LAG hielt die Kündigung für unwirksam, da von einer möglichen anderweitigen Beschäftigung auszugehen sei. Denn der Arbeitgeber hatte vor Ausspruch der Kündigung kein ordnungsgemäßes BEM durchgeführt.

Erstens hatte der externe Dienstleister, dessen Verhalten als „Erfüllungsgehilfe“ dem Arbeitgeber gemäß § 278 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zuzurechnen war, dem Arbeitnehmer weder im Einladungsschreiben noch danach mitgeteilt, welche Krankheitsdaten in einem BEM erhoben und gespeichert werden würden. Das war ein Verfahrensfehler, ebenso wie die fehlende Mitteilung der personellen Besetzung des BEM-Teams.

Ein zweiter Verfahrensfehler lag darin, dass das angebliche erste Informationsgespräch im Februar 2023 bereits einen Gesprächsteil über die Krankheiten des Arbeitnehmers enthielt, und man hatte schon über seinen Arbeitsplatz, die Belastungen und über Änderungsideen und Wünsche des Klägers bzgl. seiner Arbeit gesprochen. Damit wurde die Schutzwirkung des unverbindlichen ersten Gesprächs, die mit der Trennung von Vorgespräch und eigentlichem BEM erreicht werden sollte, verfehlt.

Drittens war es als widersprüchliches Verhalten zu bewerten, dass der Arbeitgeber ohne erneutes BEM kündigte, obwohl es in dem Protokoll hieß, dass bei erneuter Erkrankung ein (weiteres?) BEM durchgeführt werden sollte. Damit hatte der Arbeitgeber kein korrektes BEM durchgeführt, da das Gespräch im Februar 2023 als bloßes Vorgespräch deklariert wurde. Der Arbeitnehmer hatte sich aber ausdrücklich mit einem BEM einverstanden erklärt.

Diese drei Verfahrensfehler waren, so das LAG, je für sich genommen sowie erst recht in ihrer Zusammenschau ursächlich dafür, dass im Streitfall kein BEM durchgeführt worden war.

Praxishinweis

Dem LAG ist zuzustimmen. Das Vorgehen des externen Dienstleisters, für dessen Verfahrensführung der Arbeitgeber rechtlich gemäß § 278 BGB einzustehen hatte, war in mehrfacher Hinsicht grob rechtswidrig.

Arbeitgebern ist dringend zu raten, zu Beginn eines BEM ein ausführliches und arbeits- sowie datenschutzrechtlich korrektes Einladungsschreiben mit einer diesem beigefügten datenschutzrechtlichen Einwilligungserklärung zu verwenden. 

Weiterhin sollte die zwar nicht rechtlich vorgeschriebene, aber absolut übliche und sinnvolle Trennung zwischen einem Erstgespräch, in dem es nur über die weiteren Schritte eines möglichen BEM geht, und den eigentlichen BEM-Gesprächen strikt einzuhalten.

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 14.01.2025, 15 Sa 22/24

 

Handbuch Arbeitsrecht: Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) 

Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsrat

Handbuch Arbeitsrecht: Datenschutz im Arbeitsrecht

Handbuch Arbeitsrecht: Krankheit

Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Kündigung wegen Krankheit

Handbuch Arbeitsrecht: Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen

Handbuch Arbeitsrecht: Schwerbehindertenvertretung

Handbuch Arbeitsrecht: Schwerbehinderung, schwerbehinderter Mensch

Musterschreiben: Einladung zum BEM

Musterschreiben: Einwilligung zur Verarbeitung von Gesundheitsdaten im Rahmen eines BEM

Musterschreiben: Beantwortung der BEM-Einladung durch den Arbeitnehmer - Erklärung der Bereitschaft zum BEM

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