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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 07|2023

Update Arbeitsrecht 07|2023 vom 05.04.2023

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Fristlose Kündigung und Annahmeverzug

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29.03.2023, 5 AZR 255/22

Kündigt der Arbeitgeber außerordentlich fristlos und bietet dem Arbeitnehmer zur Vermeidung von Verzugslohnfolgen die Weiterbeschäftigung zu unveränderten Bedingungen an, verhält er sich widersprüchlich.

§§ 242; 297; 615 Satz 2; 626 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); §§ 1; 2; 11 Nr.1, 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); §§ 35 Abs.1, 38 Abs.1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III); § 16 Abs.1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)

Rechtlicher Hintergrund

Arbeitgeber sind bei einer unwirksamen Kündigung verpflichtet, dem zu Unrecht entlassenen Arbeitnehmer den Lohn für die Zeit weiterhin zu zahlen, in der die Arbeitsleistung infolge der Kündigung unterbleibt. Denn in dieser Zeit befindet sich der Arbeitgeber im Annahmeverzug gemäß § 615 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).

Allerdings muss der Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung in der Lage sein, wie sich aus § 297 BGB ergibt. Wer z.B. länger erkrankt ist und Krankengeld bezieht, kann auch nach einer unwirksamen Kündigung keinen Verzugslohn verlangen. Denn er ist infolge der Erkrankung nicht zur Arbeitsleistung in der Lage.

Der Anspruch auf Annahmeverzug kann auch entfallen, weil der Arbeitnehmer nicht leistungsbereit ist. Dann könnte er zwar arbeiten, will es aber nicht. Die Leistungsbereitschaft fehlt z.B., wenn der Arbeitnehmer seinerseits eine - unwirksame - Kündigung erklärt hat, z.B. eine wegen angeblicher, tatsächlich aber nicht gegebener Pflichtverstöße des Arbeitgebers. 

Darüber hinaus kann der Verzugslohn durch einen anderweitigen Verdienst sowie durch Sozialleistungen gemindert sein, wie sich aus § 11 Nr.1 und Nr.3 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) ergibt. 

Aber auch dann, wenn der Arbeitnehmer eine zumutbare anderweitige Beschäftigung nicht annimmt, d.h. einen Zwischenverdienst böswillig unterlässt, verringert dies den Verzugslohnanspruch gemäß § 11 Nr.2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG).

Auf der Grundlage von § 11 Nr.2 KSchG hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) vor drei Jahren entschieden, dass Arbeitnehmer den Arbeitnehmer über Vermittlungsangebote der Arbeitsverwaltung informieren müssen (BAG, Urteil vom 27.05.2020, 5 AZR 387/19, s. dazu Update Arbeitsrecht 24|2020).

Eine Gelegenheit zu anderweitigem Zwischenverdienst kann auch beim Arbeitgeber selbst bestehen, insbesondere nach betriebsbedingten Kündigungen. 

Kündigt der Arbeitgeber einem Kraftfahrer z.B. betriebsbedingt wegen Schließung des Fuhrparks und bietet er ihm eine vorübergehende Arbeit im Lager an, sollte sich der gekündigte Kraftfahrer dieses Angebot gut überlegen. Denn seine Ablehnung hätte wahrscheinlich die Minderung des Verzugslohnanspruchs um den Betrag zur Folge, den der Kraftfahrer im Lager verdienen könnte.

In einem aktuellen Fall musst das BAG über die Folgen eines vorsorglichen Arbeitsangebots entscheiden, das der Arbeitgeber zur Vermeidung von Verzugslohnrisiken mit einer außerordentlichen fristlosen Kündigung verbunden hatte: BAG, Urteil vom 29.03.2023, 5 AZR 255/22.

Sachverhalt

Ein seit Mitte August 2018 als technischer Leiter beschäftigter Arbeitnehmer konnte gemäß arbeitsvertraglicher Regelung erstmals nach zwei Jahren ordentlich gekündigt werden. Als Monatsgehalt waren 5.250,00 EUR brutto vereinbart.

Mit Schreiben vom 02.12.2019 sprach der Arbeitgeber eine außerordentliche fristlose Änderungskündigung aus und bot die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses als Softwareentwickler zu 3.750,00 EUR brutto monatlich an. In dem Kündigungsschreiben hieß es:

„Im Falle der Ablehnung der außerordentlichen Kündigung durch Sie (also im Falle, dass Sie von einem unaufgelösten Arbeitsverhältnis ausgehen) oder im Falle der Annahme des folgenden Angebots erwarten wir Sie am 05.12.2019 spätestens um 12:00 Uhr MEZ zum Arbeitsantritt“. 

Nachdem der Arbeitnehmer das Änderungsangebot abgelehnt und nicht zur Arbeit gekommen war, erklärte der Arbeitgeber mit Schreiben vom 14.12.2019 eine weitere außerordentliche Kündigung zum 17.12.2019. Für den Fall der „Ablehnung dieser außerordentlichen Kündigung“ erwartete der Arbeitgeber den Arbeitnehmer „am 17.12.2019 spätestens um 12:00 Uhr MEZ zum Arbeitsantritt“

Anstatt bei der Arbeit zu erscheinen reichte der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage ein. In dem Verfahren warf der Arbeitgeber ihm u.a. vor, er sei unfähig, habe die Arbeit verweigert und Mitarbeiter beleidigt. Trotzdem stellte der Arbeitnehmer einen Antrag auf Weiterbeschäftigung. Zu Anfang April 2020 konnte er eine andere Stelle finden. 

Die Kündigungsschutzklage hatte erstinstanzlich Erfolg, wohingegen die Klage auf Verzugslohn für Dezember 2019 bis März 2020 abgewiesen wurde (Arbeitsgericht Leipzig, Urteil vom 24.07.2020, 12 Ca 3662/19). Die dagegen gerichtete Berufung wies das Sächsische Landesarbeitsgericht (LAG) zurück (Sächsisches LAG, Urteil vom 01.11.2021, 1 Sa 330/20).

Nach Ansicht des Arbeitsgerichts und des LAG war der Arbeitnehmer nicht leistungsbereit, weil er das Angebot zur Weiterarbeit nicht angenommen hatte. 

Entscheidung des BAG

In Erfurt wendete sich das Blatt. Das BAG verurteilte den Arbeitgeber zur Zahlung des streitigen Verzugslohns. Zur Begründung heißt es in der derzeit allein vorliegenden BAG-Pressemitteilung:

Kündigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis fristlos wegen angeblicher Unzumutbarkeit der Vertragsfortsetzung und bietet er dem Arbeitnehmer gleichzeitig zur Vermeidung von Verzugslohnansprüchen die Weiterbeschäftigung zu unveränderten Bedingungen während eines Kündigungsschutzprozesses an, verhält er sich widersprüchlich. 

Unter solchen Umständen spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass das Beschäftigungsangebot nicht ernst gemeint ist, so das BAG. Diese Vermutung kann durch die späteren Einlassungen des Arbeitgebers im Prozess bestätigt oder entkräftet werden.

Im Streitfall hatte sich der Arbeitgeber in diesem Sinne widersprüchlich verhalten. Er hatte dem Arbeitnehmer kein ernstgemeintes Angebot zu einer Prozessbeschäftigung gemacht. Die gegenteilige Beurteilung durch das LAG beruhte, so das BAG, auf einer nur selektiven Berücksichtigung des Parteivortrags und war daher „nicht vertretbar“. 

Die dem Kläger vom Arbeitgeber vorgehaltene Ablehnung des „Angebots“ einer Weiterarbeit ließ im Streitfall nicht auf einen fehlenden Leistungswillen im Sinne von § 297 BGB schließen. 

Das BAG weist auch das Argument zurück, dass sich der Arbeitnehmer seinerseits widersprüchlich verhalten habe, nämlich indem er im Kündigungsschutzprozess einen Antrag auf vorläufige Weiterbeschäftigung gestellt hatte, trotzdem aber das Angebot des Arbeitnehmers auf Weiterbeschäftigung abgelehnt hatte. 

Denn es macht einen Unterschied, so das BAG, ob der Arbeitnehmer trotz massiver Vorwürfe im Rahmen einer fristlosen verhaltensbedingten Kündigung weiterarbeiten soll, oder ob er nach einem Obsiegen vor dem Arbeitsgericht „rehabilitiert“ in den Betrieb zurückkehren kann.

Auf der Grundlage dieser Überlegungen kam das BAG zu dem Ergebnis, dass dem Arbeitnehmer auch nicht vorgehalten werden konnte, dass er einen möglichen anderweitigen Verdienst im Sinne von § 11 Nr.2 KSchG böswillig unterlassenhatte. 

Praxishinweis

Die Entscheidung des BAG ist richtig. Wer fristlos aus verhaltensbedingten Gründen kündigt, schließt damit die Zumutbarkeit einer weiteren Zusammenarbeit aus. Ein dennoch gemachtes „Angebot“ ist als widersprüchliches Verhalten zu bewerten. Darauf muss sich der gekündigte Arbeitnehmer nicht einlassen.

Arbeitgebern ist im Allgemeinen davon abzuraten, gekündigten Arbeitnehmern eine Prozessbeschäftigung anzubieten, denn das schwächt unvermeidlich die Begründung für die Kündigung im Prozess. Außerdem hilft ein solches Angebot, jedenfalls bei fristlosen Verhaltenskündigungen, auch nicht im Streit über den Verzugslohnanspruch.

Arbeitnehmer und Arbeitnehmeranwälte sollten niemals routinemäßig einen Antrag auf Weiterbeschäftigung stellen, sondern über diese rechtliche Möglichkeit abhängig vom Einzelfall entscheiden.

Oft ist ein Weiterbeschäftigungsantrag kein kluger Schachzug, wie das vorliegende Verfahren zeigt. Hätte das BAG der Nichtzulassungsbeschwerde des Arbeitnehmers nicht stattgegeben, hätte der Arbeitnehmer trotz einer (offensichtlich) unwirksamen fristlosen Kündigung seinen Verzugslohnanspruch verloren, u.a. wegen des nach Lage des Falls interessewidrigen Weiterbeschäftigungsantrags.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29.03.2023, 5 AZR 255/22 (Pressemitteilung des Gerichts)

 

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