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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 11|2023

Update Arbeitsrecht 11|2023 vom 31.05.2023

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Betriebsbedingte Kündigung wegen Aufgabenübertragung an eine Konzernschwester

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.02.2023, 2 AZR 227/22

Bei der Fremdvergabe von Aufgaben kommt es nicht darauf an, ob dadurch Kosten gespart werden. Dies gilt auch bei einer Aufgabenverlagerung zwischen Konzernunternehmen.

§§ 1 Abs.2; 23 Abs.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); Art.2 Abs.1; 12; 14 Grundgesetz (GG)

Rechtlicher Hintergrund

Wer länger als sechs Monate in einem Betrieb mit mehr als zehn Arbeitnehmern beschäftigt ist, hat Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG), §§ 1 Abs.1, 23 Abs.1 KSchG. Ordentliche Kündigungen des Arbeitgebers sind dann nur wirksam, wenn sie sozial gerechtfertigt sind, z.B. durch dringende betriebliche Erfordernisse (§ 1 Abs.2 Satz 1 KSchG).

Eine betriebsbedingte Kündigung setzt den dauerhaften Wegfall von Arbeitsbedarf voraus. Er ergibt sich in den meisten Fällen aus einer betriebsbezogenen Unternehmerentscheidung des Arbeitgebers wie z.B. aus einer Filial- oder Abteilungsschließung. Ausnahmsweise kann er auch Folge außerbetrieblicher Umstände sein, wie z.B. eines (zahlenmäßig zu belegenden) Auftragsrückgangs. 

Außerdem muss der Wegfall von Arbeitsbedarf dort eintreten, wo der gekündigte Arbeitnehmer zuletzt eingesetzt wurde, und er muss spätestens innerhalb der Kündigungsfrist „greifbare Formen“ angenommen haben. Denn wenn der Arbeitsentfall auf eine betriebsbezogene Unternehmerentscheidung des Arbeitgebers zurückgeht, muss er mit ihrer Umsetzung zumindest beginnen.

Die Unternehmerentscheidung, die den Arbeitsbedarf entfallen lässt, ist vom Arbeitsgericht bei einer Kündigungsschutzklage nicht auf ihre sachliche Rechtfertigung oder Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen. Nur in seltenen Ausnahmefällen, wenn eine Entscheidung offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist, kann eine betriebsbedingte Kündigung mit ihr nicht gerechtfertigt werden.

Gekündigte Arbeitnehmer - und die Arbeitsgerichte - müssen Unternehmerentscheidungen auch dann hinnehmen, wenn von ihnen nur eine betriebliche Position bzw. eine Stelle betroffen ist, so dass nur eine Person, nämlich der Stelleninhaber, betriebsbedingt gekündigt wird. 

Vor kurzem hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dass diese Grundsätze auch dann gelten, wenn der Arbeitgeber eine Aufgabe nicht mehr in seinem Betrieb durchführt und wenn diese Aufgabe durch ein konzernzugehöriges Schwesterunternehmen weiter fortgeführt wird, d.h. wenn es zu einer Aufgabenverlagerung innerhalb eines Konzerns kommt.

Sachverhalt

Ein leitender Vertriebsangestellter war seit 2018 bei der deutschen Tochtergesellschaft einer ausländischen Konzernmutter als „Vice President & Country Manager Germany“ tätig. Er leitete fünf oder sechs Mitarbeiter mit der Funktion eines „Sales Director“ an und berichtete seinerseits dem „Area Vice President“. Dies war zuletzt Frau M., die bei einer in London ansässigen Konzernschwester der deutschen Gesellschaft angestellt war.

Die deutsche Gesellschaft entschied im Mai 2020, dass ihre „Sales Directors“ künftig unmittelbar an den „Area Vice President“ berichten sollten. Daher entfiel die Stelle eines „Country Managers Germany“ zum 01.07.2020. Seine Aufgaben wurden ab diesem Zeitpunkt von der in London ansässigen Konzernschwester bzw. von der für diese tätigen Frau M. als Area Vice President übernommen.

Daher kündigte die deutsche Gesellschaft dem Vertriebsangestellten im Mai 2020 aus betriebsbedingten Gründen zu Ende Juni 2020. Die dagegen gerichtete Kündigungsschutzklage hatte weder vor dem Arbeitsgericht München (Urteil vom 09.02.2021, 41 C 6253/20) noch vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) München Erfolg (LAG München, Urteil vom 22.03.2022, 7 Sa 170/21).

Entscheidung des BAG

Die Revision des Angestellten hatte keinen Erfolg. 

Da das LAG keine Feststellungen zur Betriebsgröße der deutschen Gesellschaft getroffen hatte, ging das BAG zugunsten des Klägers davon aus, dass der Schwellenwert von mehr als zehn Arbeitnehmern erreicht war und der Angestellte daher Kündigungsschutz nach dem KSchG in Anspruch nehmen konnte. Auch unter dieser Voraussetzung hatte die Revision aber keinen Erfolg, da die Kündigung als betriebsbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt war.

Denn die Gerichte sind grundsätzlich an die vom Arbeitgeber getroffene Unternehmerentscheidung gebunden. Der Arbeitgeber kann bis zur Grenze der Willkür auch wirtschaftlich nicht notwendige Organisationsentscheidungen treffen. Die Gerichte können daher nur eine „eingeschränkte Prüfung“ des Unternehmerkonzepts vornehmen (BAG, Urteil, Rn.14). Diese Überprüfung hatte das LAG im Streitfall korrekt vorgenommen.

Die Entscheidung der deutschen Gesellschaft, die Aufgaben des Klägers nicht mehr selbst auszuführen bzw. auf die englische Konzernschwester zu übertragen, war weder unsachlich noch unvernünftig oder willkürlich. 

Bei der Fremdvergabe von Aufgaben kommt es im Allgemeinen nicht darauf an, ob dadurch Kosten gespart werden. Dies gilt auch bei einer Aufgabenverlagerung zwischen Konzernunternehmen (BAG, Urteil Rn.17).

Im Streitfall war die deutsche Gesellschaft durch das KSchG nicht gehindert, die länderübergreifende Zusammenarbeit ihres Vertriebsteams von einem anderen Land aus steuern zu lassen. Es gab auch keine Anhaltspunkte für eine mögliche rechtswidrige Überforderung oder Benachteiligung des verbleibenden deutschen Personals. 

Der Kläger hatte vergeblich argumentiert, dass die Fremdvergabe an die englische Gesellschaft keine Kostenersparnis und auch keine Straffung des Tätigkeitsablaufs zur Folge hatten. Auch wenn schon bei Ausspruch der Kündigung absehbar gewesen wäre, dass der Arbeitgeber mit seiner Maßnahme die angestrebten Ziele nicht erreichen könnte, wäre das noch kein Anzeichen für sachfremde Erwägungen. Auch dann wäre die Unternehmerentscheidung durch Art.12, Art.14 und Art.2 Abs.1 Grundgesetz (GG), d.h. durch die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers geschützt.

Praxishinweis

Das BAG erwähnt in dem Urteil (Rn.14) seine ältere Rechtsprechung, der zufolge die Darlegung der Kündigungsgründe umso detaillierter sein muss, je näher die betriebsbezogene Organisationsentscheidung des Arbeitgebers an seinen Kündigungsentschluss heranrückt (BAG, Urteil vom 18.06.2015, 2 AZR 480/14, Rn.32). 

Sind bei betriebsbedingten Einzelkündigungen die Organisationsentscheidung des Arbeitgebers, d.h. der Entschluss zur Streichung einer (einzigen) Stelle, und sein Kündigungsentschluss „praktisch deckungsgleich“, muss der Arbeitgeber - dieser älteren Rechtsprechung zufolge - seine Entscheidung „hinsichtlich ihrer organisatorischen Durchführbarkeit und zeitlichen Nachhaltigkeit verdeutlichen“ (BAG, Urteil vom 24.05.2012, 2 AZR 124/11, Rn.22).

Diese Rechtsprechung hat das BAG zwar nicht ausdrücklich aufgegeben, wendet sie aber nicht mehr an. Andernfalls hätte der aktuelle Fall der Streichung einer betrieblichen Sonderposition und der damit begründeten betriebsbedingten Kündigung des Stelleninhabers Anlass dafür sein müssen, die organisatorische Durchführbarkeit und die zeitliche Nachhaltigkeit dieser Entscheidung näher zu „verdeutlichen“. 

Im Gegensatz dazu betont das BAG nunmehr, dass die Unternehmerentscheidung bei betriebsbedingten Einzelkündigungen sogar dann grundrechtlich geschützt bzw. hinzunehmen ist, wenn bereits zum Kündigungszeitpunkt absehbar ist, dass der Arbeitgeber mit seiner Maßnahme die angestrebten Ziele nicht erreichen kann. Das ist so ziemlich das genaue Gegenteil von organisatorischer Durchführbarkeit und zeitlicher Nachhaltigkeit.

Im Ergebnis werden daher nach der aktuellen Rechtsprechung des BAG betriebsbedingte Einzelkündigungen nicht strenger geprüft als andere Fälle betriebsbedingter Kündigungen.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.02.2023, 2 AZR 227/22

 

Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Betriebsbedingte Kündigung

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