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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 14|2024

Update Arbeitsrecht 14|2024 vom 28.08.2024

Entscheidungsbesprechungen

EuGH: Gleichbehandlung von Teilzeitkräften bei Zuschlägen für Überstunden

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 29.07.2024, C-184/22 und C-185/22

Es ist mit dem Verbot der Diskriminierung von Teilzeitkräften unvereinbar, wenn tarifliche Regelungen Überstundenzuschläge an Teilzeitbeschäftigte nur für Arbeitsstunden vorsehen, die über die Arbeitszeit von Vollzeitkräften hinausgehen.

§ 4 Nr.1, Nr.2 Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG; Art.157 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV); Art.2 Abs.1 Buchstabe b); Art.4 Abs.1 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.07.2006; § 4 Abs.1 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG); §§ 7, 15 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)

Rechtlicher Hintergrund

Teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer können gemäß § 4 Abs.1 Satz 2 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) finanzielle Leistungen in dem Umfang verlangen, der dem Anteil ihrer Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren Vollzeitarbeitnehmers entspricht (Grundsatz der zeitanteiligen Bezahlung, pro-rata-temporis-Grundsatz). 

Denn Teilzeitarbeitnehmer dürfen gemäß § 4 Abs.1 Satz 1 TzBfG nicht wegen der Teilzeit schlechter behandelt werden als vergleichbare Vollzeitkräfte. Eine Ausnahme gilt nur, wenn dies durch triftige Sachgründe ausnahmsweise gerechtfertigt ist.

Hinter diesen Schutzvorschriften zugunsten von Teilzeitkräften steht die europäische „Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit“. Sie gehört als Anhang zur Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15.12.1997. Diskriminierungsverbot und pro-rata-temporis-Grundsatz sind in § 4 Abs.1 und Abs.2 der Rahmenvereinbarung festgeschrieben.

Im Oktober 2023 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass das Verbot der Benachteiligung von Teilzeitkräften Regelungen untersagt, denen zufolge Teilzeit- und Vollzeitpiloten für eine tarifliche Zusatzvergütung dieselben Flugstunden überschreiten müssen (EuGH, Urteil vom 19.10.2023, C-660/20 - Lufthansa CityLine; s. dazu Update Arbeitsrecht 22|2023). 

In einem aktuellen Fall hat der EuGH diese Rechtsprechung fortgesetzt: EuGH, Urteil vom 29.07.2024, C-184/22 und C-185/22.

Sachverhalt

In den beiden Ausgangsfällen stritten zwei weibliche Pflegekräfte mit ihrem Arbeitgeber, einer Dialyseeinrichtung, über einen Zuschlag für geleistete Überstunden bzw. über entsprechende Zeitgutschriften auf ihren Arbeitszeitkonten. Dabei berechneten die Pflegekräfte ihre Überstunden auf der Grundlage ihrer Teilzeitarbeitszeit.

Die Klägerinnen waren mit einer Arbeitszeit von 40 Prozent bzw. 80 Prozent der Arbeitszeit einer Vollzeitkraft beschäftigt. Diese beträgt gemäß § 10 eines auf die Arbeitsverhältnisse anwendbaren Manteltarifvertrags (MTV) 38,5 Stunden wöchentlich.

In § 10 Abs.7 MTV heißt es:

„Zuschlagspflichtig gemäß § 13[,] Ziff. 1 sind Überstunden, die über die kalendermonatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers hinaus geleistet werden und im jeweiligen Kalendermonat der Arbeitsleistung nicht durch Freizeitgewährung ausgeglichen werden können.“

Da der Arbeitgeber unter Verweis auf diese tarifliche Regelung die von den Klägerinnen berechneten Zuschläge bzw. entsprechende Gutschriften auf dem Arbeitszeitkonto verweigerte, erhoben die Pflegekräfte eine entsprechende Klage vor dem Arbeitsgericht Fulda.

Dabei verlangten sie unter Berufung auf § 15 Abs.2 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) auch eine Geldentschädigung wegen der aus ihrer Sicht vorliegenden geschlechtsbedingten Diskriminierung. Denn der Arbeitgeber beschäftigte überwiegend Frauen in Teilzeit.

Das Arbeitsgericht Fulda wies die Klagen ab. Vor dem Hessischen Landesarbeitsgericht (LAG) hatten die Klagen auf Vornahme von Gutschriften auf den Arbeitszeitkonten Erfolg, während die Klagen auf Diskriminierungsentschädigung abgewiesen wurden.

Dagegen legten die Pflegekräfte Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) ein, und der Arbeitgeber legte Anschlussrevision gegen seine Verurteilung zur Vornahme von Zeitgutschriften ein. 

Das BAG wiederum legte den Fall dem EuGH vor und fragte, ob der einheitliche Schwellenwert für die Zuschlagspflicht von Überstunden in Höhe der Vollzeitarbeitszeit von 38,5 Stunden diskriminierend wäre, und ob bzw. unter welchen Voraussetzungen eine Entschädigung wegen der Diskriminierung zu zahlen sei (BAG, Beschluss vom 28.10.2021, 8 AZR 370/20 (A); BAG, Beschluss vom 28.10.2021, 8 AZR 372/20 (A)).

Entscheidung des EuGH

Der EuGH entschied, dass der für Teilzeit- wie Vollzeitkräfte einheitlich geltende Schwellenwert von 38,5 Wochenstunden für Überstundenzuschläge eine Schlechterstellung von Teilzeitkräften ist (EuGH, Urteil, Rn.41, 44).

Die für diese Regelung angeführten Gründe ließ der Gerichtshof nicht gelten. 

Diese bestanden zum einen darin, dass der Arbeitgeber durch die Tarifregelung von der Anordnung von Überstunden abgehalten werden sollte. 

Dazu war die Regelung aber nicht tauglich, da Überstunden von Teilzeitkräften unterhalb der Grenze von 38,5 Wochenstunden zuschlagsfrei und daher für den Arbeitgeber „günstig“ waren. Ein Anreiz, die Anordnung von Überstunden zu unterlassen, ergab sich daraus nicht, so der EuGH.

Auch das andere Argument zugunsten der streitigen Regelung, dem zufolge sie eine schlechtere Behandlung von Vollzeitbeschäftigten verhindern soll, wies der EuGH zurück. 

Denn wenn eine Teilzeitkraft mit einer Arbeitszeit von 20 Wochenstunden ab der 21. Wochenstunde Zuschläge erhält, eine vergleichbare Vollzeitkraft für die 21. Wochenstunde aber nicht, liegt darin gerade keine schlechtere Behandlung von Vollzeitbeschäftigten.

Auch zu dem Anspruch auf Diskriminierungsentschädigung äußerte sich der Gerichtshof in einer zugunsten der Klägerseite gehenden Weise.

Hier wollte das BAG v.a. wissen, ob es für eine mittelbare geschlechtsbedingte Diskriminierung genügt, dass in der Gruppe der Teilzeitkräfte (deutlich) mehr Frauen vorhanden sein müssen, oder ob außerdem in der Gruppe der Vollzeitkräfte überwiegend Männer beschäftigt werden müssen (was hier nicht der Fall war, da auch die Vollzeitkräfte der Dialyseeinrichtung überwiegend Frauen waren).

Dazu stellt der Gerichtshof klar, dass es genügt, wenn in der Gruppe der benachteiligten Arbeitnehmer (hier: der Teilzeitkräfte) überwiegend Frauen tätig sind. Es ist nicht erforderlich, dass der Anteil der Männer unter den Vollzeitbeschäftigten (erheblich) höher ist als der der Frauen (EuGH, Urteil, Rn.67).

Praxishinweis

Wie der EuGH bereits mit Urteil vom 19.10.2023 (C-660/20 - Lufthansa CityLine) deutlich gemacht hat, kann der Anspruch auf Überstundenzuschläge nicht davon abhängig gemacht werden, dass eine bestimmte Wochenstundenzahl überschritten wird, die in gleicher Weise für Vollzeit- wie für Teilzeitkräfte gilt. 

Solche Vorschriften verstoßen in aller Regel gegen das EU-Recht, nämlich gegen § 4 Nr.1 und Nr.2 der Rahmenvereinbarung. 

Der in § 4 Nr.1 der Rahmenvereinbarung enthaltene Vorbehalt, dass eine solche Ungleichbehandlung von Vollzeit- und Teilzeitkräften „aus objektiven Gründen gerechtfertigt“ ist, ist rein theoretisch bzw. steht nur auf dem Papier.

Im Sinne dieser EuGH-Vorgaben ist auch § 4 Abs.1 Satz 2 TzBfG zu verstehen. Teilzeitkräfte haben daher gemäß dem pro-rata-temporis-Grundsatz Anspruch auf Überstundenzuschläge wie Vollzeitkräfte, d.h. ab Überschreiten ihrer individuell geltenden Wochenarbeitszeit.

Abweichende Vorschriften in Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen sind ungültig.

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 29.07.2024, C-184/22 und C-185/22

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 28.10.2021, 8 AZR 370/20 (A)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 28.10.2021, 8 AZR 372/20 (A)

Europäischer Gerichtshof , Urteil vom 19.10.2023, C-660/20 (Lufthansa CityLine)

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