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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 22|2023

Update Arbeitsrecht 22|2023 vom 01.11.2023

Entscheidungsbesprechungen

EuGH: Überstundenzuschläge für Teilzeitkräfte

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 19.10.2023, C-660/20 (Lufthansa CityLine)

Das Verbot der Benachteiligung von Teilzeitkräften verbietet Regelungen, denen zufolge Teilzeit- und Vollzeitpiloten für eine tarifliche Zusatzvergütung dieselben Flugstunden überschreiten müssen.

§ 4 Nr.1, Nr.2 Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG; § 4 Abs.1 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG); Art.9 Abs.3 Grundgesetz (GG)

Rechtlicher Hintergrund

Gemäß § 4 Abs.1 Satz 2 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) haben teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer Anspruch auf Lohn und Gehalt sowie auf andere teilbare geldwerte Leistungen mindestens in dem Umfang, der dem Anteil ihrer Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren Vollzeitarbeitnehmers entspricht. 

Hinter dem Grundsatz der (mindestens) zeitanteiligen Bezahlung von Teilzeitkräften, dem pro-rata-temporis-Grundsatz, steht das allgemeine Prinzip, dass Teilzeitarbeitnehmer nicht wegen der Teilzeit schlechter behandelt werden dürfen als vergleichbare Vollzeitkräfte, es sei denn, dass dies durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist (§ 4 Abs.1 Satz 1 TzBfG).

Beide Grundsätze, das Diskriminierungsverbot und der pro-rata-temporis-Grundsatz, sind durch das Europarecht vorgegeben, nämlich durch die Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit. Sie gehört als Anlage zur Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15.12.1997. In § 4 Abs.1 und Abs.2 der Rahmenvereinbarung sind Diskriminierungsverbot und pro-rata-temporis-Grundsatz festgeschrieben.

Fraglich ist, ob es eine unzulässige Benachteiligung von Teilzeitkräften darstellt, wenn Überstundenzuschläge erst ab Überschreitung einer für Vollzeit- und Teilzeitkräfte identischen Anzahl von Arbeitsstunden gezahlt werden. 

Für die Unzulässigkeit einer solchen Einheitsgrenze spricht, dass die Überschreitung der individuell vereinbarten Arbeitszeit für Voll- wie für Teilzeitkräfte einen Eingriff in ihre Privatsphäre darstellt, für die ein Zuschlag gezahlt werden sollte. Für Teilzeitkräfte sollte daher eine abgesenkte Überstundengrenze gelten.

Dagegen könnte sprechen, dass Gesundheitsgefahren durch übermäßige Arbeitsbelastung nur bei einer (sehr) langen Arbeitszeit zu befürchten sind. Daher könnte der Gesundheitsschutz ein Sachgrund sein, der eine einheitliche Mindeststundenzahl für Überstundenzuschläge rechtfertigt (und die darin liegende Benachteiligung von Teilzeitkräften).

Zu dieser Frage hat vor kurzem der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf Bitten des Bundesarbeitsgerichts (BAG) Stellung genommen: EuGH, Urteil vom 19.10.2023, C-660/20 (Lufthansa CityLine).

Sachverhalt

Ein Pilot der Lufthansa CityLine GmbH mit einer Arbeitszeit von 90 Prozent der Vollarbeitszeit hatte seinen Arbeitgeber auf Zahlung von Mehrflugdienststunden verklagt. Diese Zusatzvergütung wird auf tariflicher Grundlage gezahlt, wenn Piloten eine bestimmte Anzahl von Flugdienststunden im Monat überschreiten. 

Allerdings ist diese Grenze einheitlich für Vollzeit- wie für Teilzeitpiloten festgelegt. Daher konnte der Kläger wegen seiner Teilzeit nicht in dem Umfang von der tariflichen Vergütung für Mehrflugdienststunden profitieren wie seine Vollzeitkollegen. 

Dies bewertete der Pilot als unzulässige Benachteiligung wegen seiner Teilzeitarbeit. Bei seiner Zahlungsklage berechnete er die Mehrflugdienststunden auf der Grundlage seiner Teilzeitquote.

Vor dem Arbeitsgericht München hatte die Klage Erfolg (Urteil vom 29.05.2019, 12 Ca 13601/18), während das Landesarbeitsgericht (LAG) München der Lufthansa recht gab (LAG München, Urteil vom 19.11.2019, 6 Sa 370/19). 

Denn, so das LAG München: Der Zweck der tariflichen Sondervergütung von Mehrflugdienststunden besteht nicht im Ausgleich der Inanspruchnahme von Freizeit des Piloten. Vielmehr soll dadurch - angeblich - die erhöhte Belastung der Piloten ausgeglichen werden. Außerdem sollen Fluggesellschaften von einer zu hohen Inanspruchnahme der Piloten abgehalten werden. Dabei verwies das LAG München auf die bisherige Rechtsprechung des BAG (BAG, Urteil vom 19.12.2018, 10 AZR 231/18).

Das BAG setzte das Verfahren aus und fragte den EuGH, ob formal gleiche Schwellenwerte wie im Streitfall mit § 4 Nr.1 und Nr.2 der Rahmenvereinbarung zur Richtlinie 97/81/EG zu vereinbaren sind, oder sie als Diskriminierung von Teilzeitkräften zu bewerten sind (BAG, Beschluss vom 11.11.2020, 10 AZR 185/20 (A), s. dazu Update Arbeitsrecht 25|2020).

Entscheidung des EuGH

Nach knapp drei Jahren seit dem Vorlagebeschluss kam jetzt die Antwort des EuGH. Die fragliche Stundengrenze stellt eine Benachteiligung von Teilzeitpiloten dar, die nur unter sehr engen Voraussetzungen gerechtfertigt sein kann.

Da der Kläger mit 90 Prozent der Jahresarbeitszeit eines Vollzeitpiloten als Teilzeitpilot unter den Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung fiel und auch die gleiche Arbeit verrichtete wie Vollzeitpiloten, sind Diskriminierungsverbot und pro-rata-temporis-Grundsatz, d.h. § 4 Abs.1 und Abs.2 der Rahmenvereinbarung, auf den Streitfall anzuwenden. 

Außerdem erreichen Teilzeitpiloten die für die Mehrvergütung tariflich festgelegten Stundengrenzen entweder nicht oder nur mit geringerer Wahrscheinlichkeit als Vollzeitpiloten, so dass eine schlechtere Behandlung der Teilzeitpiloten im Sinne von § 4 Abs.1 Rahmenvereinbarung vorliegt. 

Sie kann daher nur gerechtfertigt sein, wenn es dafür einen triftigen sachlichen Grund im Sinne von § 4 Rahmenvereinbarung gibt.
Ein solcher Sachgrund für die Benachteiligung von Teilzeitpiloten kann nicht darin gesehen werden, dass damit eine besondere Arbeitsbelastung im Flugdienst mit Auswirkungen auf die Gesundheit der Piloten ausgeglichen werden sollen.

Denn dazu müsste es wissenschaftliche Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen einer bestimmten Anzahl von Flugstunden und gesundheitlichen Beeinträchtigungen geben, die aber derzeit nicht vorhanden sind. 

Außerdem müssten die Fluggesellschaften das (angeblich hinter der ungleichen Bezahlung von erhöhten Flugdienststunden stehende) Ziel einer Vermeidung von Gesundheitsgefahren in kohärenter Weise verfolgen. Das ist aber kaum der Fall, da die Fluggesellschaften durch die streitige Tarifregelung mit zusätzlichen Gehaltskosten für lange Arbeitszeiten der Piloten nur teilweise belastet werden, nämlich bei der Bezahlung von Vollzeitpiloten.

Letztlich muss zwar das BAG als das mit dem Streitfall befasste nationale Gericht klären, ob der hier streitige, formal einheitliche Schwellenwert für die Zusatzvergütung bei hohen Flugdienststunden durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist oder nicht. 

Der Gerichtshof lässt aber keinen Zweifel daran, dass er die im Streitfall von der Lufthansa vorgebrachten Argumente für nicht stichhaltig ansieht.

Praxishinweis

Formal gleiche Schwellenwerte für Überstundenzuschläge, die in gleicher Weise für Vollzeit- und Teilzeitkräfte gelten, sind in aller Regel europarechtswidrig. Sie verstoßen gegen § 4 Nr.1 und Nr.2 der Rahmenvereinbarung, d.h. gegen das Diskriminierungsverbot und den pro-rata-temporis-Grundsatz. 

Da diese europarechtlichen Regelungen hinter § 4 Abs.1 TzBfG stehen, sind auch diese Vorschriften im Sinne des aktuellen EuGH-Urteils zu verstehen. 

Demzufolge haben Teilzeitkräfte - entsprechend dem pro-rata-temporis-Grundsatz - ebenso wie Vollzeitkräfte Anspruch auf Überstundenzuschläge. Abweichende tarifliche Regelungen und Vorschriften in Betriebsvereinbarungen sind rechtswidrig und daher nichtig.

Europäischer Gerichtshof , Urteil vom 19.10.2023, C-660/20 (Lufthansa CityLine)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 11.11.2020, 10 AZR 185/20 (A)

Landesarbeitsgericht München, Urteil vom 19.11.2019, 6 Sa 370/19

 

Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsvereinbarung

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