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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 15|2021

Update Arbeitsrecht 15|2021 vom 28.07.2021

Entscheidungsbesprechungen

EuGH segnet verfassungsrechtliche Grenzen von Kopftuchverboten in Deutschland ab

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 15.07.2021, C-804/18 (WABE) und C-341/19 (Drogerie Müller)

Nationale Grundrechte, die die Religionsfreiheit schützen, können bei der Frage, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung muslimischer Arbeitnehmerinnen durch ein Kopftuchverbot angemessen ist, zugunsten der Arbeitnehmerinnen berücksichtigt werden.

Art.2 Abs.2 Buchstabe b; 8 Abs.1 Richtlinie 2000/78/EG; Art.10, 14, 16, 21 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC); Art.4 Grundgesetz (GG); §§ 1, 2, 3, 8, 9 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG); § 106 Gewerbeordnung (GewO)

Rechtlicher Hintergrund

Nicht nur der Staat, sondern auch private Arbeitgeber müssen bei ihren Weisungen die Grundrechte ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer respektieren, wie z.B. die Religionsfreiheit (Art.4 Grundgesetz - GG). Das folgt nicht nur aus der Einstrahlung der Grundrechte in das Privatrecht, sondern auch aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und der dahinter stehenden Richtlinie 2000/78/EG. Daher kann ein Arbeitgeber einer muslimischen Arbeitnehmerin im Allgemeinen nicht per Weisung gemäß § 106 Gewerbeordnung (GewO) das Tragen eines muslimischen Kopftuchs (Hidschab) im Betrieb untersagen.

Im Jahre 2017 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) allerdings zugunsten der Arbeitgeberseite entschieden, dass es keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion darstellt, wenn der Arbeitgeber allen Arbeitnehmern mit Kundenkontakt vorgibt, keine Bekleidungsstücke zu tragen, mit denen ein religiöses Bekenntnis zum Ausdruck gebracht wird. Da davon alle Religionen gleichermaßen betroffen sind, liegt hier höchstens eine mittelbare Benachteiligung wegen der Religion vor, falls sich dieses generelle Verbot faktisch vor allem zulasten von Musliminnen auswirkt (EuGH, Urteil vom 14.03.2017, C-157/15 - Achbita).

Darüber hinaus kann eine solche - mittelbare - Benachteiligung muslimischer Arbeitnehmerinnen durch ein Kopftuchverbot laut EuGH gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitgeber das Ziel verfolgt, seinen Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, wenn er dieses Ziel konsequent verfolgt und wenn daher nur Arbeitnehmer mit Kundenkontakt belastet werden, diese aber ohne Unterschied in gleicher Weise (EuGH, Urteil vom 14.03.2017, C-157/15 - Achbita).

Zur Begründung hatte der EuGH u.a. auf die unternehmerische Freiheit verwiesen, seinen Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, sowie auf den Schutz der Unternehmerfreiheit durch Art.16 Charta der Grundrechte der Europäischen Union - GRC (EuGH, Urteil vom 14.03.2017, C-157/15 - Achbita, Rn.38).

Daher fragt sich, ob nationale Vorschriften wie Art.4 Grundgesetz (GG), die die Religionsfreiheit schützen, bei der Frage, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung muslimischer Arbeitnehmerinnen durch ein Kopftuchverbot angemessen ist, zugunsten der Arbeitnehmerinnen berücksichtigt werden können - oder ob möglicherweise die europarechtlich geschützte Unternehmerfreiheit (Art.16 GRC) vorrangig ist.

Denn nach Art.4 Grundgesetz (GG) und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) haben es Arbeitgeber in Deutschland schwer, sich mit dem unternehmerischen Wunsch nach einem neutralen Auftreten durchzusetzen, denn dazu müsste man konkrete betriebliche Störungen oder wirtschaftliche Einbußen beweisen, die durch die Tätigkeit einer muslimischen Arbeitnehmerin mit Hidschab zu befürchten wären.

Sachverhalt

In einem Fall des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hatte die Drogeriekette Müller einer muslimischen Verkäuferin die Anweisung erteilt, ohne Kopftuch bei der Arbeit zu erscheinen, und sich dabei auf eine allgemeine betriebliche Neutralitätsanweisung berufen. Die Klage der Verkäuferin, mit der sie die Rechtswidrigkeit dieser Anweisung feststellen lassen wollte, hatte vor dem Arbeitsgericht Nürnberg (Urteil vom 28.03.2017, 8 Ca 6967/14) und vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Nürnberg Erfolg (LAG Nürnberg, Urteil vom 27.03.2018, 7 Sa 304/17).

Das BAG setzte den Prozess aus und fragte den EuGH u.a., ob bei der Abwägung zwischen Unternehmerfreiheit (Art.16 GRC) und nationalem Grundrecht der Glaubensfreiheit (Art.4 GG) die Glaubensfreiheit als eine aus Arbeitnehmersicht günstigere Regelung den Ausschlag geben kann, oder dieses Grundrecht möglicherweise wegen des vorrangigen Europarechts unangewendet bleiben muss (BAG, Beschluss vom 30.01.2019, 10 AZR 299/18 (A)).

In einem weiteren Fall des Arbeitsgerichts Hamburg hatte ein Träger von Kindertagesstätten, der Verein WABE, einer muslimischen Erzieherin den Hidschab verboten und sich dabei auf eine generelle Dienstanweisung berufen, die das Tragen religiöser oder weltanschaulicher Bekleidung untersagte. Vor dem Arbeitsgericht Hamburg geht es um die Berechtigung zweier Abmahnungen, die WABE wegen des Verstoßes der Erzieherin gegen das Verbot ausgesprochen hatte.

Das Arbeitsgericht fragte den EuGH daraufhin, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn nach Art.4 GG in der Auslegung durch das BVerfG ein Kopftuchverbot nur aufgrund konkret drohender Nachteile für den Arbeitgeber oder eines Dritten gerechtfertigt werden kann (Arbeitsgericht Hamburg, Beschluss vom 21.11.2018, 8 Ca 123/18).

Entscheidung des EuGH

Das Europarecht erlaubt es Arbeitgebern, so der EuGH, das Tragen sichtbarer Zeichen religiöser Überzeugungen generell zu verbieten, und damit - auch - das Tragen eines Hidschabs. Das ist keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion, u.U. aber eine mittelbare, falls ein solches Verbot praktisch vor allem Musliminnen trifft. Damit klärt der Gerichtshof eine der vom Arbeitsgericht Hamburg aufgeworfenen Fragen (die er eigentlich schon 2017 beantwortet hatte, s. oben).

Eine solche - mittelbare - Benachteiligung wegen des (muslimischen) Glaubens kann zulässig sein, wenn der Arbeitgeber eine generelle Neutralitätspolitik im Umgang mit Kunden oder Nutzern verfolgt, die einem wirklichen Bedürfnis des Arbeitgebers entspricht, konsequent umgesetzt wird und angemessen ist, d.h. auf notwendige Verbote beschränkt ist.

Dabei weist der Gerichtshof darauf hin, dass bei der Frage der Angemessenheit eines Kopftuchverbots mehrere Grundrechte zu beachten bzw. miteinander auszugleichen sind (EuGH, Urteil, Rn.84). Hier kommt es nicht nur auf den Grundsatz der Nichtdiskriminierung (Art.21 GRC) und auf die Religionsfreiheit an (Art.10 GRC), sondern auch auf das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen (Art.14 Abs.3 GRC) sowie auf die Unternehmerfreiheit (Art.16 GRC).

Da das Unionsrecht keinen konkreten Ausgleich zwischen diesen Grundrechten definiert, haben die Mitgliedstaaten einen Wertungsspielraum (EuGH, Urteil, Rn.87 f.). Daher dürfen nationale Vorschriften zum Schutz der Religionsfreiheit, wie in Deutschland Art.4 GG, als für muslimische Arbeitnehmerinnen „günstigere" Vorschriften im Sinne von Art.8 Abs.1 Richtlinie 2000/78/EG berücksichtigt werden, wenn es um die Frage der Angemessenheit eines (mittelbaren) Kopftuchverbots geht (EuGH, Urteil, Rn.89).

Praxishinweis

Im Ergebnis stärkt der EuGH die Rechte muslimischer Arbeitnehmerinnen in Deutschland. Denn sie profitieren von einer sehr liberalen BVerfG-Rechtsprechung, der zufolge Arbeitgeber schwere und konkret bevorstehende betriebliche oder wirtschaftliche Nachteile beweisen müssen, wollen sie ein Verbot religiöser Bekleidung rechtfertigen. Die beiden Vorlagefälle werden daher wahrscheinlich zugunsten der Klägerinnen ausgehen.

Gleichzeitig wird durch das EuGH-Urteil deutlich, dass andere EU-Länder der Unternehmerfreiheit ein größeres Gewicht beimessen können und der Religionsfreiheit ein geringeres. Es gibt daher kein europaweit einheitliches „Kopftuchrecht“.

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 15.07.2021, C-804/18 (WABE) und C-341/19 (Drogerie Müller)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 30.01.2019, 10 AZR 299/18 (A)

Arbeitsgericht Hamburg, Beschluss vom 21.11.2018, 8 Ca 123/18

 

Handbuch Arbeitsrecht: Diskriminierungsverbote - Religion oder Weltanschauung

Handbuch Arbeitsrecht: Weisungsrecht

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