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Bin­dung an al­ter­na­tiv gel­ten­den Ta­rif­ver­trag nach Aus­tritt des Ar­beit­ge­bers aus dem Ver­band

Bin­dung an al­ter­na­tiv gel­ten­den Ta­rif­ver­trag nach Aus­tritt des Ar­beit­ge­bers aus dem Ver­band: Lan­des­ar­beits­ge­richt Ba­den-Würt­tem­berg, Ur­teil vom 10.08.2009, 4 Sa 7/09
Münzen, Münzhaufen Ta­rif­ver­trag: Wer die Wahl hat, hat die Qual

29.09.2009. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Ba­den-Würt­tem­berg hat­te vor kur­zem über die Fol­gen zu ent­schei­den, die ein Aus­tritt des Ar­beit­ge­bers aus dem Ar­beit­ge­ber­ver­band hat, und zwar in der Ein­füh­rungs­pha­se des neu­en Ver­gü­tungs­sys­tems "ERA" in der Me­tall­in­dus­trie.

Der Ar­beit­ge­ber hat­te nach sei­nem Ver­bands­aus­tritt die Al­ter­na­ti­ve, wel­chen von noch im Zeit­punkt sei­ner Mit­glied­schaft ge­schlos­se­nen zwei Ta­rif­ver­trä­gen er an­wen­den woll­te.

Dies be­freit ihn nach An­sicht des LAG nicht von der zwin­gen­den Nach­bin­dung des al­ten Ta­rif­ver­trags: LAG Ba­den-Würt­tem­berg, Ur­teil vom 10.08.2009, 4 Sa 7/09.

Ta­rif: OT-Mit­glied­schaft und Nach­bin­dung

Gilt ein Ta­rif­ver­trag "nur" auf­grund ei­ner im Ar­beits­ver­trag ent­hal­te­nen Klau­sel, der­zu­fol­ge er auf das Ar­beits­verhält­nis An­wen­dung fin­den soll, können die Ar­beits­ver­trags­par­tei­en je­der­zeit frei ent­schei­den, den Ta­rif­ver­trag wie­der aus ih­rem Ar­beits­verhält­nis "her­aus­zu­ki­cken". Ei­ne klei­ne Ergänzung des Ar­beits­ver­trags, die in der Re­gel noch nicht ein­mal schrift­lich fest­ge­hal­ten wer­den muss, genügt dafür.

An­ders ist es aber dann, wenn Ar­beit­ge­ber und Ar­beit­neh­mer "ta­rif­ge­bun­den" im Sin­ne von § 3 Abs.1 Ta­rif­ver­trags­ge­setz (TVG) sind, d.h. wenn der Ar­beit­ge­ber Mit­glied des ta­rif­ver­trags­sch­ließen­den Ar­beit­ge­ber­ver­ban­des ist (oder den Ta­rif­ver­trag selbst als Par­tei ver­ein­bart hat) und der Ar­beit­neh­mer Mit­glied der Ge­werk­schaft, die den Ta­rif­ver­trag aus­ge­han­delt hat.

Fol­ge der Ta­rif­bin­dung ist nämlich die un­mit­tel­ba­re und zwin­gen­de Ein­wir­kung der im Ta­rif­ver­trag ent­hal­te­nen In­halts­nor­men auf das Ar­beits­verhält­nis. Die Ar­beits­ver­trags­par­tei­en sind bei bei­der­sei­ti­ger Ta­rif­bin­dung recht­lich nicht mehr be­fugt, vom Ta­rif­ver­trag ab­wei­chen­de Re­ge­lun­gen in ih­rem Ar­beits­ver­trag zu ver­ein­ba­ren - je­den­falls dann, wenn die­se Ab­wei­chun­gen zu Las­ten des Ar­beit­neh­mers ge­hen würden (§ 4 Abs.1, 3 TVG). Mit der Ta­rif­bin­dung, d.h. der mit ihr ver­bun­de­nen "Fremd­herr­schaft" der Ta­rif­nor­men über das Ar­beits­verhält­nis, ist es erst vor­bei, wenn der Ta­rif­ver­trag "en­det" (§ 3 Abs.3 TVG), d.h. wenn er von den Ta­rif­par­tei­en gekündigt wird oder wenn er von vorn­her­ein be­fris­tet war und sei­ne Gel­tungs­zeit abläuft.

Der Aus­tritt der Ar­beits­ver­trags­par­tei­en aus ih­rer Ko­ali­ti­on (Ar­beit­ge­ber­ver­band bzw. Ge­werk­schaft) während der Lauf­zeit des Ta­rif­ver­trags be­en­det da­her nach der ein­deu­ti­gen ge­setz­li­chen Re­ge­lung des § 3 Abs.3 TVG mit­nich­ten ih­re Ta­rif­bin­dung. Man spricht hier von ei­ner sog. "Nach­bin­dung". Und nach dem "En­de" des Ta­rif­ver­trags (Kündi­gung durch die Ta­rif­par­tei­en, Ab­lauf der Gel­tungs­zeit) be­ginnt die Zeit der "Nach­wir­kung". In der Nach­wir­kungs­zeit gel­ten die Ta­rif­nor­men zwar im­mer noch bis auf wei­te­res, können aber je­der­zeit durch ei­ne ar­beits­ver­trag­li­che Ab­ma­chung er­setzt wer­den (§ 4 Abs.5 TVG).

Vie­le Ar­beit­ge­ber bemängeln an die­sem ge­setz­li­chen Sys­tem sei­ne man­geln­de Fle­xi­bi­lität mit Blick auf die wirt­schaft­li­che Si­tua­ti­on des ein­zel­nen Un­ter­neh­mens. Aus­trit­te aus Ar­beit­ge­ber­verbänden neh­men da­her zu, um - we­nigs­tens mit­tel­fris­tig - der Ta­rif­bin­dung zu ent­ge­hen.

Nach der Recht­spre­chung, die sich da­bei auf den kla­ren Wort­laut des § 3 Abs.3 TVG be­zieht, ändert ein Aus­tritt aus dem Ar­beit­ge­ber­ver­band an der Ta­rif­bin­dung des Ar­beit­ge­bers aber zunächst ein­mal nichts. Die wei­ter be­ste­hen­de Bin­dung wird da­bei durch die bei Ab­schluss des Ta­rif­ver­tra­ges (noch) be­ste­hen­de Ver­bands­mit­glied­schaft des Ar­beit­ge­bers ge­recht­fer­tigt. Dies be­deu­tet aber auch, dass gra­vie­ren­de in­halt­li­che Verände­run­gen des Ta­rif­ver­tra­ges, die nach dem Ver­bands­aus­tritt des Ar­beit­ge­bers be­schlos­sen wer­den, zum Fort­fall der Nach­bin­dung führen können. Aus Ar­beit­ge­ber­sicht wäre frei­lich ein deut­lich frühe­res En­de der Nach­bin­dung wünschens­wert.

So klar die­se all­ge­mei­nen Grundsätze sind, so schwie­rig ist ih­re An­wen­dung in man­chen Ein­z­elfällen. Kom­pli­zier­te Ta­rif­mo­del­le, bei­spiels­wei­se die Einführung al­ter­na­tiv an­wend­ba­rer Ta­rif­verträge, können zum Streit darüber führen, ob und wie lan­ge die Nach­bin­dung ei­nes aus dem Ver­band aus­ge­tre­te­nen Ar­beit­ge­bers dau­ert.

Das LAG Ba­den-Würt­tem­berg hat­te vor kur­zem über ei­nen sol­chen Fall zu ent­schei­den (LAG Ba­den-Würt­tem­berg, Ur­teil vom 10.08.2009, 4 Sa 7/09).

Die "al­te" und die "neue" Welt der Ta­rif­vertäge

In ei­nem Un­ter­neh­men der Me­tall­in­dus­trie, der späte­ren Be­klag­ten, ist seit et­wa fünf­zehn Jah­ren die Kläge­rin beschäftigt. Die Be­klag­te war bis zum 31.12.2005 Mit­glied im Ver­band der Me­tall- und Elek­tro­in­dus­trie Ba­den-Würt­tem­berg e.V. ("Südwest­me­tall"). Die Kläge­rin ent­schied sich Mit­te 2005 an­ge­sichts des be­vor­ste­hen­den Ver­bands­aus­trit­tes der Be­klag­ten, Mit­glied der In­dus­trie­ge­werk­schaft Me­tall (IG Me­tall) zu wer­den. Kraft bei­der­sei­ti­ger Ta­rif­bin­dung wur­de da­her auf das Ar­beits­verhält­nis das Ta­rif­werk für die Beschäftig­ten der Me­tall- und Elek­tro­in­dus­trie in Nordwürt­tem­berg/Nord­ba­den an­ge­wen­det.

Hin­ter­grund des be­vor­ste­hen­den Aus­stie­ges war wohl der neue Ent­gelt­rah­men-Ta­rif­ver­trag ("ERA-TV") in der Me­tall­in­dus­trie, der ein vollständig geänder­tes Vergütungs- bzw. Ein­grup­pie­rungs­sys­tem vor­sah. Für die Zeit zwi­schen März 2005 und Fe­bru­ar 2008 soll­te es ei­ne Einführungs­pha­se ge­ben. Hier konn­ten die Ar­beit­ge­ber noch selbst ent­schei­den, ob sie das neue Sys­tem einführen woll­ten. Im An­schluss an die­se Frei­wil­lig­keits­pha­se soll­te der ERA-TV ver­bind­lich für al­le Be­trie­be gel­ten.

Mit­te 2005 schloss die Südwest­me­tall zwei neue Man­tel­ta­rif­verträge ab. Der ei­ne galt für Be­trie­be, die den ERA-TV schon -frei­wil­lig- ein­geführt hat­ten (Ta­rif­ver­trag "neue Welt"). Der an­de­re galt für die sons­ti­gen Be­trie­be (Ta­rif­ver­trag "al­te Welt"). Nach bei­den Ta­rif­verträgen be­steht ei­ne 35-St­un­den-Wo­che.

Da die Be­klag­te das neue Sys­tem nicht ein­geführt hat­te, galt für sie die "al­te Welt"-Ver­si­on. Die­se Vor­ga­ben nahm die Be­klag­te zum An­lass, ih­ren Ar­beit­neh­mern (al­so auch der Kläge­rin) neue Ar­beits­verträge mit ei­ner 40-St­un­den-Wo­che vor­zu­le­gen. Nach ih­rem Aus­tritt wur­den die Verträge ab Ja­nu­ar 2006 um­ge­setzt.

Über ein Jahr später stell­te sich die Kläge­rin auf den Stand­punkt, für sie gel­te die ta­rif­ver­trag­li­che 35-St­un­den-Wo­che wei­ter. Ihr stünden da­her an­de­re Ar­beits­zei­ten und Lohn­nach­zah­lun­gen zu.

Die Be­klag­te hielt dem ent­ge­gen, ei­ne Ta­rif­bin­dung gäbe es nicht. Sie ha­be es nämlich in der Hand, mit der frei­wil­li­gen Einführung des ERA den "al­te Welt"-Ta­rif­ver­trag durch den "neue Welt"-Ta­rif­ver­trag ab­zulösen.

Kei­ne Ta­rif­flucht durch bloßen Ver­bands­aus­tritt

Das Lan­des­ar­beits­ge­richt ent­schied wie sei­ne Vor­in­stanz zu Guns­ten der Kläge­rin.

In sei­nen Ent­schei­dungs­gründen ver­weist das Ge­richt auf die Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts. Die Ta­rif­bin­dung soll da­nach ver­hin­dern, durch ei­nen bloßen Ver­bands­aus­tritt aus dem Ta­rif­ver­trag flüch­ten zu können. Erst ei­ne Kündi­gung, Frist­ab­lauf oder deut­li­che in­halt­li­che Ände­run­gen können die­se Bin­dung ent­fal­len las­sen. Der Ta­rif­ver­trag "al­te Welt" blieb aber je­den­falls in dem streit­be­fan­ge­nen Zeit­raum un­verändert und war da­her wei­ter bin­dend.

Die Einführungs­pha­se sah das LAG eben­falls nicht als Grund, von ei­ner Be­en­di­gung aus­zu­ge­hen. Die frei­wil­li­ge Einführung des ERA hätte nämlich le­dig­lich zur An­wen­dung des Ta­rif­ver­tra­ges "neue Welt" geführt, der aber auch ei­ne 35-St­un­den-Wo­che vor­sah. Im Kern darf die Ausübung des Wahl­rech­tes sich des­halb nach An­sicht des Ge­rich­tes nicht zu Guns­ten des Ar­beit­ge­bers bzw. zu Las­ten sei­ner Ta­rif­bin­dung aus­wir­ken.

Das Ge­richt nahm da­her le­dig­lich noch Stel­lung zu der von der Be­klag­ten auf­ge­wor­fe­nen Fra­ge, ob die Be­en­di­gung des Ta­rif­ver­tra­ges nicht mit dem ers­ten mögli­chen Kündi­gungs­ter­min an­ge­nom­men wer­den müsse. Mit Hin­weis auf den Wort­laut lehn­te es dies aber kurz und bündig ab. Es kommt auf die tatsächli­che Be­en­di­gung an, nicht auf die Möglich­keit hier­zu.

Der Ta­rif­ver­trag "al­te Welt" war da­her für das Ar­beits­verhält­nis nach wie vor zwin­gend und bin­dend. Er wirk­te nicht nur -mit der Möglich­keit ar­beits­ver­trag­li­cher Ände­run­gen- nach.

Ei­nen wei­te­ren in­ter­es­san­ten As­pekt die­ses Fal­les streift das Ge­richt nur am Ran­de: Der Ta­rif­ver­trag "al­te Welt" wird nach En­de der Einführungs­pha­se fak­tisch des­halb nicht mehr an­ge­wen­det, weil al­le (ak­tiv) ge­bun­de­nen Ta­rif­ver­trags­par­tei­en nun zwin­gend den ERA-TV an­wen­den müssen. Was pas­siert nun aber mit dem Ta­rif­ver­trag "al­te Welt", so­weit er wei­ter für ehe­ma­li­ge Mit­glie­der gilt? "Ewig" kann er kaum wei­ter gel­ten, denn dies wäre ein zu star­ker Ein­griff in die ver­fas­sungs­recht­lich geschütz­te ne­ga­ti­ve Ko­ali­ti­ons­frei­heit des aus dem Ver­band aus­ge­tre­te­nen Ar­beit­ge­bers. Da der zwi­schen den Pro­zess­par­tei­en ikm vor­lie­gen­den Fall um­strit­te­ne Zeit­raum aber je­den­falls noch in der ERA-Einführungs­zeit lag, konn­te das LAG die Fra­ge letzt­lich of­fen las­sen.

In sei­nem Ur­teil sieht das Lan­des­ar­beits­ge­richt kei­ne Ab­wei­chung von dem Ur­teil des Bun­des­ar­beits­ge­rich­tes vom 01.07.2009 (4 AZR 261/08). Zwar be­traf die­ses ei­nen ähn­li­chen Sach­ver­halt und die Nach­bin­dung wur­de dort im Er­geb­nis an­ders be­ur­teilt. In dem Fall wur­den die neu­en Ta­rif­verträge je­doch erst nach dem Ver­bands­aus­tritt des Ar­beit­ge­bers ab­ge­schlos­sen. Gleich­wohl ließ das LAG die Re­vi­si­on zu. Ob sie von ei­ner der Par­tei­en ein­ge­legt wur­de, ist bis­her nicht be­kannt.

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Letzte Überarbeitung: 21. Juli 2014

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