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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 06|2024

Update Arbeitsrecht 06|2024 vom 20.03.2024

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Begrenzung von Urlaubsansprüchen bei doppelten Arbeitsverhältnissen

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 05.12.2023, 9 AZR 230/22

Erhält ein Arbeitnehmer nach einer unwirksamen Kündigung Urlaub von einem anderen Arbeitgeber in einem Zweit-Arbeitsverhältnis, ist dieser Urlaub auf den Urlaubsanspruch im ersten Arbeitsverhältnis anzurechnen.

§§ 1, 6, 7 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG); § 615 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 11 Kündigungsschutzgesetz (KSchG)

Rechtlicher Hintergrund

Geht ein gekündigter Arbeitnehmer gegen die Kündigung mit einer Kündigungsschutzklage vor, kann sich längere Zeit nach Ausspruch der Kündigung herausstellen, dass die Kündigung unwirksam war. 

Der Arbeitgeber muss dann den zu Unrecht nicht gezahlten Lohn als Annahmeverzugslohn gemäß § 615 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nachträglich vergüten.

Dabei kann er das vom Arbeitnehmer in der Zwischenzeit bezogene Arbeitslosengeld sowie andere Sozialleistungen, aber auch einen Zwischenverdienst bei einem anderen Arbeitgeber von dem Annahmeverzugslohn abziehen. Rechtliche Grundlage dieser Abzugsberechtigung ist § 11 Nr.1 KSchG und § 615 Satz 2 BGB. 

Fraglich ist, ob auch der in einem Folgearbeitsverhältnis erteilte Urlaub, den der unwirksam gekündigte Arbeitnehmer während der Ungewissheit über die Wirksamkeit der Kündigung erhält, auf den Urlaubsanspruch anzurechnen ist, den er bei seinem ersten Arbeitgeber laufend erwirbt.

Das Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) enthält zwar zu diesem Thema eine Vorschrift, die dem Ziel dient, doppelte Urlaubsansprüche als Folge mehrere Arbeitsverhältnisse auszuschließen. Doch diese Vorschrift (§ 6 Abs.1 BUrlG) passt nicht auf Kündigungsfälle.

Denn gemäß § 6 Abs.1 BUrlG besteht der Anspruch auf Urlaub nicht, soweit dem Arbeitnehmer für das laufende Kalenderjahr bereits von einem früheren Arbeitgeber Urlaub gewährt worden ist. 

In den Fällen einer unwirksamen Kündigung ist das zeitliche Verhältnis aber umgekehrt, d.h. es geht um die rechtlichen Folgen der Urlaubsgewährung in einem später begründeten Arbeitsverhältnis. Außerdem bestehen beide Arbeitsverhältnisse, dass frühere und das spätere, in den Kündigungsfällen zeitlich nebeneinander.

Vor kurzem hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) klargestellt, dass und warum in Kündigungsfällen der Erwerb doppelter Urlaubsansprüche, d.h. in einem – unwirksam - gekündigten Arbeitsverhältnis und in einem parallel dazu bestehenden neuen Arbeitsverhältnis ausgeschlossen ist: BAG, Urteil vom 05.12.2023, 9 AZR 230/22.

Sachverhalt

Eine seit 2014 in einem Einzelhandelsgeschäft vollzeitig angestellte Fleischereifachverkäuferin hatte einen arbeitsvertraglich vereinbarten Anspruch auf fünf Mehrurlaubstage, d.h. auf insgesamt 25 Urlaubstage pro Jahr.

Am 23.12.2019 kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis fristlos und beschäftigte die Verkäuferin nicht mehr. Die Kündigung war unwirksam, wie sich durch ein Kündigungsschutzverfahren herausstellte. 

Nach dem Übergang des Arbeitsverhältnisses auf einen Betriebserwerber kündigte diese erneut im Mai 2021. Aufgrund dieser Kündigung endete das Arbeitsverhältnis erst kurz vor Ende Mai 2021.

Die Verkäuferin war während dieser Zeit nicht untätig geblieben und hatte bereits ab Februar 2020 ein neues Arbeitsverhältnis bei einem anderen Arbeitgeber angetreten. Dieser gewährte ihr auch Urlaub, und zwar im Jahr 2020 an 25 Arbeitstagen und von Januar bis Mai 2021 an zehn Arbeitstagen.

Trotzdem verlangte die Verkäuferin von ihrem Ex-Arbeitgeber Abgeltung von insgesamt sieben Arbeits- bzw. Urlaubstagen, womit sie die arbeitsvertraglich vereinbarten Mehrurlaubstage geltend machte, d.h. fünf Mehrurlaubstage für 2020 und zwei weitere Mehrurlaubstage für 2021.

Ihre Klage auf 609,21 EUR Urlaubsabgeltung hatte weder vor dem Arbeitsgericht Lüneburg (Urteil vom 01.09.2021, 2 Ca 310/20), noch in der Berufung vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen Erfolg (LAG Niedersachsen, Urteil vom 02.05.2022, 15 Sa 885/21; s. dazu Update Arbeitsrecht 13|2022). 

Das LAG meinte, der in einem Zweit-Arbeitsverhältnis erhaltene Urlaub sei in sinngemäßer (analoger) Anwendung von § 615 Satz 2 BGB und 11 Nr.1 KSchG anzurechnen, und zwar auch der arbeitsvertragliche Mehrurlaub. Dabei komme es nicht auf die Zuordnung der gewährten Urlaubstage auf die verschiedenen Kalenderjahre an. Vielmehr sei der gesamte Verzugslohn-Zeitraum (hier: Februar 2020 bis Mai 2021) einheitlich zu betrachten.

Entscheidung des BAG

Das BAG bestätigte das Urteil des LAG Niedersachsen im Wesentlichen. 

Abweichend vom LAG stellte das BAG aber klar, dass der im neuen Arbeitsverhältnis gewährte Urlaub, falls der Verzugslohnzeitraum mehrere Kalenderjahre umfasst, immer nur auf ein Kalenderjahr als Urlaubsjahr bezogen werden muss.

Daher konnte die Verkäuferin im Streitfall keine Abgeltung für fünf Mehrurlaubstage für 2020 verlangen. Denn sie hatte in ihrem alten Arbeitsverhältnis Anspruch auf insgesamt 25 Urlaubstage, und genau 25 Urlaubstage waren ihr auch in dem Folgearbeitsverhältnis gewährt worden.

Dabei stützt das BAG - wie das LAG Niedersachsen - seine Rechtsansicht auf eine sinngemäße (analoge) Anwendung von § 11 Nr.1 KSchG und § 615 Satz 2 BGB. 

Denn § 6 Abs.1 BUrlG passt auf das zeitgleiche Bestehen zweier Arbeitsverhältnisse in Kündigungsfällen nicht. Die Anrechnung erstreckt sich sowohl auf die gesetzlichen Urlaubsansprüche als auch die arbeitsvertraglichen Mehrurlaubsansprüche des alten Arbeitsverhältnisses, so das BAG.

Außerdem stellt das BAG klar, dass zunächst in beiden Arbeitsverhältnissen Urlaubsansprüche entstehen, d.h. unabhängig von dem jeweils anderen Arbeitsverhältnis. Eine Anrechnung setzt außerdem voraus, dass beide Arbeitsverhältnisse nicht parallel erfüllbar sind.

Allerdings muss die Anrechnung der vom neuen Arbeitgeber gewährten Urlaubstage auf die im alten Arbeitsverhältnis entstehenden Urlaubsansprüche getrennt nach Kalender- bzw. nach Urlaubsjahren vorgenommen werden. 

Daher muss das LAG jetzt noch einmal nachprüfen, ob nicht die im Streitfall in 2021 gewährten zehn Urlaubstage möglicherweise auf 2020 bezogen waren, d.h. ob es sich hier um eine Resturlaubsgewährung handelte. Das könnte sich zugunsten der Klägerin auswirken, da dann für 2021 möglicherweise noch abzugeltende Tage übrigbleiben würden.

Praxishinweis

Dem BAG ist zuzustimmen. Aus § 11 Nr.1 KSchG und § 615 Satz 2 BGB ergibt sich für den Fall eines unwirksam gekündigten Arbeitsverhältnisses, dass der Arbeitnehmer finanziell so zu stellen ist, als wäre die Kündigung nicht ausgesprochen worden. 

Unwirksam gekündigte Arbeitnehmer sollen durch die Kündigung keine Nachteile erleiden, aber auch keine ungerechtfertigten Vorteile erlangen.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 05.12.2023, 9 AZR 230/22

Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 02.05.2022, 15 Sa 885/21 

 

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