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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 06|2022

Update Arbeitsrecht 06|2022 vom 23.03.2022

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Pflicht zum weiteren BEM nach Durchführung eines BEM

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18.11.2021, 2 AZR 138/21

Arbeitgeber müssen ein weiteres BEM durchführen, wenn ein Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines BEM erneut länger als sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt war.

§ 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); § 167 Abs.2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)

Rechtlicher Hintergrund

Ist ein Beschäftigter innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit den betrieblichen Arbeitnehmervertretungen sowie mit Zustimmung und Beteiligung des Beschäftigten die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliche Eingliederungsmanagement - BEM).

Ohne ein BEM oder (zumindest) ein BEM-Angebot sollten Arbeitgeber besser keine krankheitsbedingte Kündigung aussprechen, wenn das gekündigte Arbeitsverhältnis durch § 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) geschützt ist, d.h. wenn der Arbeitnehmer bereits länger als sechs Monate in einem Betrieb mit mehr als zehn Arbeitnehmern beschäftigt ist.

Denn obwohl ein durch § 1 KSchG bestandsgeschütztes Arbeitsverhältnis grundsätzlich aus krankheitsbedingten Gründen wirksam bzw. „sozial gerechtfertigt“ im Sinne von § 1 Abs.2 KSchG gekündigt werden kann, wenn der Arbeitnehmer innerhalb der letzten 36 Monate länger als sechs Wochen pro Jahr krankheitsbedingt ausgefallen ist, scheitert eine solche Kündigung vor Gericht meist, wenn der Arbeitgeber zuvor kein BEM durchgeführt bzw. angeboten hat.

Das BEM ist nämlich ein gemeinsamer Suchprozess, der Möglichkeiten zutage fördern soll, wie künftige Krankheitsausfälle vermieden werden können. Spricht der Arbeitgeber ohne BEM bzw. BEM-Angebot eine Krankheitskündigung aus, ist sie in der Regel unverhältnismäßig, es sei denn, der Arbeitgeber kann vor Gericht nachweisen, dass ein BEM im Streitfall mit Sicherheit keine milderen Mittel gegenüber der Kündigung zutage gefördert hätte. Diesen Nachweis können Arbeitgeber nur äußerst selten führen.

Fraglich ist, wie der zwölfmonatige Beobachtungszeitraum gemäß § 167 Abs.2 Satz 1 SGB IX („innerhalb eines Jahres“) zu verstehen ist, wenn der Arbeitgeber innerhalb der zurückliegenden zwölf Monate schon einmal ein BEM angeboten oder durchgeführt bzw. abgeschlossen hat.

Hier könnte man die Meinung vertreten, dass immer erst einmal ein volles Jahr bzw. volle zwölf Monate nach dem letzten BEM-Angebot bzw. BEM-Abschluss abgewartet werden müssen, bevor der Arbeitgeber verpflichtet ist, erneut ein BEM durchzuführen bzw. anzubieten. Die Gegenmeinung lautet, dass der Beobachtungszeitraum unmittelbar ab dem vorangegangenen BEM bzw. BEM-Angebot beginnt, so dass ein erneutes BEM im Extremfall bereits dann angeboten werden muss, wenn der Arbeitnehmer nach dem Abschluss des letzten BEM sechs Wochen und einen Tag arbeitsunfähig erkrankt war. Dieser Meinung hat sich vor kurzem das Bundesarbeitsgericht (BAG) angeschlossen.

Sachverhalt

Ein 1973 geborener Arbeitnehmer war seit März 2001 bei einem größeren Arbeitgeber als Produktionshelfer beschäftigt. Von 2010 bis 2016 war er in jedem Jahr 40 Tage und mehr erkrankt, in zwei Jahren sogar an über 250 Tagen. Im Jahr 2017 war er an 40 Arbeitstagen krank, im Jahr 2018 an 61 Arbeitstagen und im Jahr 2019 an 103 Arbeitstagen.

Im Februar 2019 lud der Arbeitgeber ihn zu einem BEM ein, das die Parteien Anfang März 2019 durchführten. Ein Jahr später, im Februar 2020, kündigte der Arbeitgeber aus krankheitsbedingten Gründen ordentlich zu Ende August 2020. In der Zeit von März 2019 bis zur Kündigung im Februar 2020 war der Arbeitnehmer länger als sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt, doch hatte der Arbeitgeber in dieser Zeit kein erneutes BEM angeboten.

Die Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers hatte vor dem Arbeitsgericht Düsseldorf (Urteil vom 07.07.2020, 5 Ca 1108/20) und auch vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf Erfolg (Urteil vom 09.12.2020, 12 Sa 554/20, s. dazu Update Arbeitsrecht 05|2021 vom 10.03.2021). Nach Ansicht des LAG hätte der Arbeitgeber vor der Kündigung im Februar 2020 - trotz des im März 2019 durchgeführten BEM - erneut ein BEM anbieten müssen.

Entscheidung des BAG

Das BAG hat sich der Ansicht des LAG Düsseldorf angeschlossen und die Revision des Arbeitgebers zurückgewiesen. Denn, so das BAG:

Obwohl sich nach dem Wortlaut des Gesetzes und nach seiner Systematik beide Ansichten vertreten lassen, sprechen Sinn und Zweck der Regelung entscheidend dafür, dass Arbeitgeber zu einem erneuten BEM bereits dann verpflichtet sind, wenn innerhalb von zwölf Monaten nach einem vorherigen BEM oder BEM-Angebot die Schwelle einer sechswöchigen (ununterbrochenen oder wiederholten) Arbeitsunfähigkeit überschritten ist. Dabei können diese Ausfallzeiten auch unmittelbar nach dem Ende des vorherigen BEM auftreten (BAG, Urteil, Rn.23-25). Ein einmal durchgeführtes oder angebotenes BEM hat kein rechtliches „Mindesthaltbarkeitsdatum“ (BAG, Urteil, Rn.25).

Die Pflicht zu einem erneuten BEM besteht sogar dann, wenn die Arbeitsunfähigkeit über den Abschluss des vorherigen BEM hinaus ununterbrochen weitere mehr als sechs Wochen angedauert hat, d.h. auch dann muss erneut ein BEM durchgeführt bzw. zumindest angeboten werden (BAG, Urteil, Rn.31).

Immerhin geht die Pflicht zu einem weiteren BEM nicht so weit, dass der Arbeitgeber zwei BEM-Verfahren nebeneinander betreiben müsste: Wenn während eines noch laufenden BEM weitere Zeiten von Arbeitsunfähigkeit von mehr als sechs Wochen hinzukommen, ist der Arbeitgeber nicht durch § 167 Abs.2 Satz 1 SGB IX verpflichtet, ein paralleles zusätzliches BEM durchzuführen (BAG, Urteil, Rn.26).

Praxishinweis

Die Entscheidung des BAG ist zutreffend und enthält einige wichtige Hinweise zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen ein BEM als abgeschlossen bzw. durchgeführt angesehen werden kann.

Davon ist jedenfalls auszugehen, wenn die Parteien einvernehmlich das BEM abschließen oder wenn der Arbeitnehmer mit seiner weiteren Fortsetzung nicht einverstanden ist (BAG, Urteil, Rn.29).

Dagegen kann der Arbeitgeber das BEM nicht einseitig beenden. Allerdings kann er, wenn von den anderen Verfahrensbeteiligten keine ernsthaften weiteren Ansätze aufgezeigt werden, hierzu ggf. eine Frist setzen (BAG, Urteil, Rn.30).

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18.11.2021, 2 AZR 138/21

Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 09.12.2020, 12 Sa 554/20

 

Handbuch Arbeitsrecht: Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM)

Handbuch Arbeitsrecht: Krankheit

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