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ARBEITSRECHT AKTUELL // 17/063

Ta­rif­stu­fen im öf­fent­li­chen Dienst und Aus­län­der­dis­kri­mi­nie­rung

Bei rein in­ner­deut­schen Fäl­len ver­stößt die Pri­vi­le­gie­rung von Vor­dienst­zei­ten, die beim sel­ben Ar­beit­ge­ber zu­rück­ge­legt wor­den, nicht ge­gen das EU-Recht: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 23.02.2017, 6 AZR 843/15
Zwei Gruppen von je drei Arbeitnehmern mit Helm, Bekleidung der beiden Gruppen unterschiedlich

27.02.2017. In den Ta­rif­ver­trä­gen für den öf­fent­li­chen Dienst gibt es seit je­her Re­ge­lun­gen, de­nen zu­fol­ge man sich beim Ge­halt bes­ser steht, wenn man frü­her schon ein­mal im öf­fent­li­chen Dienst ge­ar­bei­tet hat.

So wer­den z.B. ein­schlä­gi­ge Be­rufs­er­fah­run­gen von min­des­tens ei­nem Jahr ge­mäß § 16 Abs.2 Satz 2 Ta­rif­ver­trag für den öf­fent­li­chen Dienst der Län­der (TV-L) nur dann in vol­lem Um­fang ge­halts­stei­gernd an­er­kannt, wenn sie beim sel­ben Ar­beit­ge­ber ge­macht wur­den.

Am Don­ners­tag letz­ter Wo­che hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) ent­schie­den, dass die­se Vor­schrift des TV-L nicht ge­gen das Eu­ro­pa­recht ver­stößt, wenn sie al­lein zu ei­ner un­ter­schied­li­chen Be­hand­lung in­län­di­scher Ar­beit­neh­mer führt: BAG, Ur­teil vom 23.02.2017, 6 AZR 843/15 (Pres­se­mel­dung des BAG).

Ist § 16 Abs.2 TV-L mit dem Eu­ro­pa­recht ver­ein­bar?

Ar­beit­neh­mer, die in der­sel­ben Ent­gelt­grup­pe des TV-L ein­grup­piert sind, z.B. als Er­zie­her bzw. Er­zie­he­rin mit ab­ge­schlos­se­nem Be­rufs­ab­schluss, ver­die­nen je nach ih­rer Beschäfti­gungs­dau­er un­ter­schied­lich viel. Denn der TV-L sieht vor, dass man in­ner­halb sei­ner Ent­gelt­grup­pe im Lau­fe sei­ner Be­rufs­jah­re in im­mer höhe­re Stu­fen vorrückt.

Wer sich da­her nach zehn oder 20 Be­rufs­jah­ren auf ei­ne Stel­le im öffent­li­chen Dienst der Länder be­wirbt, soll­te sich da­nach er­kun­di­gen, ob sei­ne Be­rufs­jah­re bei der Stu­fen­zu­ord­nung berück­sich­tigt wer­den können oder nicht. Da­zu schreibt § 16 Abs.2 Satz 2 TV-L vor, dass ei­ne vol­le Berück­sich­ti­gung von Vor­dienst­zei­ten nur möglich ist, wenn sie beim sel­ben Ar­beit­ge­ber wie z.B. dem Land Ber­lin zurück­ge­legt wur­den.

Ar­beit­neh­mer, die ih­re ein­schlägi­gen Be­rufs­er­fah­run­gen bei an­de­ren Ar­beit­ge­bern, al­so z.B. ei­nem an­de­ren Bun­des­land oder in der Pri­vat­wirt­schaft, ge­sam­melt ha­ben, wer­den zwar nicht wie ein Be­rufs­anfänger ein­ge­stuft (Stu­fe 1), be­kom­men aber höchs­tens die Stu­fe 2 oder 3 (§ 16 Abs.2 Satz 3 TV-L).

Mögli­cher­wei­se liegt in die­ser Bes­ser­stel­lung „be­triebs­treu­er“ Ar­beit­neh­mer ei­ne mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung von Ar­beit­neh­mern aus dem eu­ropäischen Aus­land. Denn EU-Ausländer, die zum Ar­bei­ten nach Deutsch­land kom­men, können meist kei­ne oder nur kur­ze Vor­dienst­zei­ten bei deut­schen öffent­li­chen Ar­beit­ge­bern vor­wei­sen, während dies bei ih­ren deut­schen Kol­le­gen ty­pi­scher­wei­se an­ders ist.

Ei­ne sol­che mit­tel­ba­re Schlech­ter­stel­lung von sog. Wan­der­ar­beit­neh­mern würde aber ge­gen das EU-Recht ver­s­toßen. Denn Art.45 Abs.1 des Ver­trags über die Ar­beits­wei­se der Eu­ropäischen Uni­on (AEUV) gewährt Ar­beit­neh­mern Freizügig­keit in­ner­halb der EU, wo­zu gemäß Art.45 Abs.2 AEUV die

„Ab­schaf­fung je­der auf der Staats­an­gehörig­keit be­ru­hen­den un­ter­schied­li­chen Be­hand­lung der Ar­beit­neh­mer der Mit­glied­staa­ten in Be­zug auf Beschäfti­gung, Ent­loh­nung und sons­ti­ge Ar­beits­be­din­gun­gen“

gehört. Darüber hin­aus schreibt die Ver­ord­nung (EU) 492/2011 vom 05.04.2011 über die Freizügig­keit der Ar­beit­neh­mer in­ner­halb der Uni­on in ih­rem Art.7 fol­gen­des vor:

„Al­le Be­stim­mun­gen in Ta­rif- oder Ein­zel­ar­beits­verträgen oder sons­ti­gen Kol­lek­tiv­ver­ein­ba­run­gen be­tref­fend Zu­gang zur Beschäfti­gung, Ent­loh­nung und sons­ti­ge Ar­beits- und Kündi­gungs­be­din­gun­gen sind von Rechts we­gen nich­tig, so­weit sie für Ar­beit­neh­mer, die Staats­an­gehöri­ge an­de­rer Mit­glied­staa­ten sind, dis­kri­mi­nie­ren­de Be­din­gun­gen vor­se­hen oder zu­las­sen.“

Mögli­cher­wei­se verstößt die bes­se­re Be­zah­lung von Ar­beit­neh­mern mit Vor­dienst­zei­ten beim sel­ben (deut­schen) Ar­beit­ge­ber gemäß § 16 Abs.2 Satz 2 TV-L ge­gen das Eu­ro­pa­recht bzw. ge­gen Art.45 AEUV und ge­gen Art.7 der Ver­ord­nung (EU) 492/2011.

Der Ber­li­ner Streit­fall: Er­zie­he­rin mit langjähri­ger Be­rufs­er­fah­rung außer­halb des öffent­li­chen Diens­tes klagt auf An­er­ken­nung ei­ner höhe­ren ta­rif­li­chen Stu­fe

Ge­klagt hat­te ei­ne Er­zie­he­rin, die seit 1997 bei ver­schie­de­nen Ar­beit­ge­bern im deut­schen In­land ih­ren Be­ruf aus­geübt hat­te und dann erst­mals im Ja­nu­ar 2014 beim Land Ber­lin an­fing. Bei ih­rer Ein­stel­lung wur­de sie die Ent­gelt­grup­pe 8 ein­grup­piert und dort der Stu­fe 2 zu­ge­ord­net.

Nach Ab­lauf der Pro­be­zeit ver­lang­te sie un­ter Ver­weis auf Ih­re langjähri­gen Be­rufs­er­fah­run­gen ei­ne Be­zah­lung gemäß Ent­gelt­grup­pe 8, Stu­fe 5, denn die­se Stu­fe würde er zu­ste­hen, wenn sie ih­re Be­rufs­er­fah­run­gen nicht bei an­de­ren Ar­beit­ge­bern, son­dern beim Land Ber­lin zurück­ge­legt hätte.

Da­bei be­rief sie sich auf die o.g. Vor­schrif­ten des Eu­ro­pa­rechts so­wie auf ei­ne Ent­schei­dung des eu­ropäischen Ge­richts­hofs (EuGH) vom De­zem­ber 2013 (EuGH, Ur­teil vom 05.12.2013, C-514/12 - Salz­bur­ger Lan­des­kli­ni­ken). Die fi­nan­zi­el­le Bes­ser­stel­lung von Ar­beit­neh­mern mit Be­rufs­er­fah­rung beim Land Ber­lin sei Eu­ro­pa rechts­wid­rig und könne da­her nicht zu ih­ren Las­ten an­ge­wandt wer­den.

Das Ar­beits­ge­richt Ber­lin gab der Kla­ge statt (Ur­teil vom 01.04.2015, 21 Ca 14506/14), wo­hin­ge­gen das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Ber­lin-Bran­den­burg dem Ar­beit­ge­ber recht gab (LAG Ber­lin-Bran­den­burg, Ur­teil vom 06.10.2015, 7 Sa 773/15).

Be­gründung des LAG: Die EU-Vor­schrif­ten über die Ar­beit­neh­mer­freizügig­keit sind nur auf Sach­ver­hal­te an­wend­bar, die ei­nen Aus­lands­be­zug auf­wei­sen. Der strei­ti­ge Fall spielt da­ge­gen al­lein in Deutsch­land. Wer nie­mals sein Recht auf Freizügig­keit in­ner­halb der EU aus­geübt hat, kann sich im Hin­blick auf ei­nen nur in ei­nem EU-Land spie­len­den Sach­ver­halt nicht auf die EU-Re­ge­lun­gen zur Ar­beit­neh­mer­freizügig­keit be­ru­fen, so das LAG.

BAG: Bei rein in­ner­deut­schen Fällen verstößt die Pri­vi­le­gie­rung von Vor­dienst­zei­ten, die beim sel­ben Ar­beit­ge­ber zurück­ge­legt wor­den, nicht ge­gen das EU-Recht

Auch in Er­furt hat­te die Er­zie­he­rin kein Glück. Das BAG wies ih­re Re­vi­si­on zurück. So­weit dies der der­zeit al­lein vor­lie­gen­den BAG-Pres­se­mel­dung zu ent­neh­men ist, stützt sich das BAG auf die­sel­be Be­gründung wie schon das LAG:

§ 16 Abs.2 TV-L weist kei­nen hin­rei­chen­den Aus­lands­be­zug auf, so die Er­fur­ter Rich­ter, wenn Ar­beit­neh­mer nur in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land beschäftigt wa­ren und kei­ne Qua­li­fi­ka­tio­nen in an­de­ren Mit­glied­staa­ten der Eu­ropäischen Uni­on er­wor­ben ha­ben. Da­her sind die EU-Freizügig­keits­vor­schrif­ten auf sol­che Fälle nicht an­wend­bar. Das ist nach An­sicht des BAG durch die Recht­spre­chung des EuGH geklärt, so dass das BAG den Fall nicht dem EuGH vor­le­gen muss­te.

Ergänzend stellt das BAG klar, dass auch das deut­sche Ar­beits­recht die recht­li­che und fi­nan­zi­el­le Pri­vi­le­gie­rung von Be­rufs­er­fah­run­gen, die beim sel­ben Ar­beit­ge­ber er­wor­ben wur­de, nicht ver­bie­tet. Dem­zu­fol­ge konn­te sich die Kläge­rin hier im Streit­fall auch nicht auf den ar­beits­recht­li­chen Gleich­be­hand­lungs­grund­satz be­ru­fen.

Fa­zit: Mit sei­nem Ur­teil hat das BAG die in den letz­ten bei­den Jah­ren hef­tig um­strit­te­ne Fra­ge nicht wirk­lich geklärt, ob die pri­vi­le­gie­ren­de An­er­ken­nung von Vor­dienst­zei­ten beim sel­ben Ar­beit­ge­ber ge­gen das EU-Recht verstößt oder nicht. Denn das (zu­tref­fen­de) Ar­gu­ment, dass Art.45 AEUV und Art.7 der Ver­ord­nung (EU) 492/2011 nicht auf rein in­ner­deut­sche Ar­beits­rechtsfälle an­wend­bar sind, hilft nicht wei­ter, wenn ein EU-Ausländer bei der An­rech­nung sei­ner im Aus­land er­wor­be­nen Be­rufs­er­fah­run­gen durch § 16 Abs.2 Satz 2 TV-L be­nach­tei­ligt wird. Spätes­tens dann müss­ten die mit ei­nem sol­chen Fall be­fass­ten deut­schen Ar­beits­ge­rich­te dem EuGH den Fall vor­le­gen.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Hin­weis: In der Zwi­schen­zeit, d.h. nach Er­stel­lung die­ses Ar­ti­kels, hat das BAG sei­ne Ent­schei­dungs­grün­de ver­öf­fent­licht. Das voll­stän­dig be­grün­de­te Ur­teil des BAG fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 30. März 2019

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