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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 11|2022

Update Arbeitsrecht 11|2022 vom 01.06.2022

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Massenentlassungsanzeigen ohne Soll-Angaben zu Geschlecht, Alter und Beruf der Arbeitnehmer sind wirksam

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.05.2022, 2 AZR 467/21

Eine Massenentlassungsanzeige, die keine Soll-Angaben gemäß § 17 Abs.3 Satz 5 KSchG über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der Arbeitnehmer enthält, ist nicht bereits aus diesem Grund unwirksam.

§§ 17, 18 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); Art.3 Richtlinie 98/59/EG vom 20.07.1998 (Massenentlassungsrichtlinie - MERL)

Rechtlicher Hintergrund

Plant der Arbeitgeber eine Massenentlassung, muss er sie vorab gemäß § 17 Abs.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) bei der Arbeitsagentur anzeigen. Die Anzeigepflicht besteht ab einer Betriebsgröße von 21 Arbeitnehmern und ab einer bestimmten Anzahl von Entlassungen. Falls im Betrieb ein Betriebsrat besteht, muss der Arbeitgeber auch ihn rechtzeitig über die geplanten Kündigungen informieren und sich mit ihm beraten (§ 17 Abs.2 KSchG).

Gemäß § 17 Abs.3 Satz 4 KSchG muss die Massenentlassungsanzeige Angaben über den Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebes enthalten, außerdem die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer.

Im Anschluss an diese Muss-Vorschrift zum Inhalt einer Massenentlassungsanzeige heißt es in § 17 Abs.3 Satz 5 KSchG:

„In der Anzeige sollen ferner im Einvernehmen mit dem Betriebsrat für die Arbeitsvermittlung Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer gemacht werden.“

Nach der Rechtsprechung führen Fehler bei der Massenentlassungsanzeige gemäß § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zur Unwirksamkeit der später vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigungen. Denn hinter § 17 KSchG steht die Richtlinie 98/59/EG vom 20.07.1998 (Massenentlassungsrichtlinie - MERL), deren Effektivität nur gewährleistet ist, wenn Verstöße gegen die Anzeigepflichten die Unwirksamkeit der späteren Kündigungen nach sich ziehen.

Unstreitig ist, dass Fehler bei den Muss-Angaben gemäß § 17 Abs.3 Satz 4 KSchG zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen. Möglicherweise haben aber auch „Verstöße“ gegen die Soll-Vorschrift des § 17 Abs.3 Satz 5 KSchG eine solche Rechtsfolge. In diesem Sinne hat vor einem Jahr das Hessische Landesarbeitsgericht (LAG) entschieden (Urteil vom 18.08.2021, 14 Sa 1228/20; Urteil vom 25.06.2021, 14 Sa 1225/20), während das LAG Düsseldorf die gegenteilige Meinung vertreten hat, wonach fehlende Soll-Angaben nicht zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen (LAG Düsseldorf, Urteil vom 15.12.2021, 12 Sa 349/21, s. dazu Update Arbeitsrecht 07|2022).

Vor kurzem hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) über die beiden Fälle des Hessischen LAG zu entscheiden und sich der Meinung des LAG Düsseldorf angeschlossen, dass fehlende Soll-Angaben nicht die Unwirksamkeit der Kündigungen nach sich ziehen.

Sachverhalt

Ein Arbeitgeber beschäftigte in seinem Betrieb regelmäßig mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmer. In der Zeit vom 18.06.2019 bis zum 18.07.2019 kündigte er insgesamt 17 Arbeitsverhältnisse.

In einer Massenentlassungsanzeige vom 17.06.2019 hieß es, man wolle von höchstens 37 Arbeitnehmern innerhalb von 30 Kalendertagen 17 Arbeitnehmer entlassen. Die Anzeige enthielt die Soll-Angaben gemäß § 17 Abs.3 Satz 5 KSchG nicht, d.h. sie machte keine Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer.

Eine Arbeitnehmerin, die am 18.06.2019 eine ordentliche Kündigung erhielt, erhob dagegen rechtzeitig Kündigungsschutzklage und berief sich darauf, dass die Kündigung gemäß § 134 BGB nichtig sei, da die Massenentlassungsanzeige die Soll-Angaben gemäß § 17 Abs.3 Satz 5 KSchG nicht enthielt.

Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main und das Hessische LAG hielten die Kündigung aus diesem Grund für unwirksam und gaben der Klage statt (Hessisches LAG, Urteil vom 18.08.2021, 14 Sa 1228/20).

Entscheidung des BAG

Das BAG entschied zugunsten des Arbeitgebers und verwies den Fall zurück zum LAG, das jetzt erneut entscheiden muss. In der derzeit allein vorliegenden Pressemeldung des BAG heißt es zur Begründung:

Auf der Grundlage der Feststellungen des LAG ist nicht klar, ob hier überhaupt eine Massenentlassung vorlag. Dazu müsste der Arbeitgeber mehr als fünf Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlassen haben (§ 17 Abs.1 Satz 1 Nr.1 KSchG). Der in dem LAG-Urteil erwähnte Zeitraum vom 18.06.2019 bis zum 18.07.2019 umfasste aber 31 Kalendertage. Hier rüffelte das BAG das LAG auch deshalb, weil unklar war, wie viele Kündigungen in diesem Zeitraum überhaupt zugegangen waren.

Das BAG widerspricht dem LAG auch darin, dass die fehlenden Angaben nach § 17 Abs.3 Satz 5 KSchG zur Nichtigkeit der Kündigung gemäß § 134 BGB geführt hätten. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift macht eine Massenentlassungsanzeige „nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers“ nicht unwirksam, so das BAG. Über diese gesetzgeberische Entscheidung dürfen sich die nationalen Gerichte nicht im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung hinwegsetzen.

Darüber hinaus meint das BAG auch, dass eine solche Auslegung gar nicht geboten sei. Durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist nach Ansicht des BAG geklärt, dass die in § 17 Abs.3 Satz 5 KSchG vorgesehenen Soll-Angaben nicht verpflichtend durch die MERL vorgegeben sind, insbesondere nicht durch Art.3 Abs.1 der MERL, wonach die Anzeige „alle zweckdienlichen Angaben“ enthalten muss.

Praxishinweis

Das Fehlen der Soll-Angaben nach § 17 Abs.3 Satz 5 KSchG in einer Massenentlassungsanzeige führt für sich allein noch nicht zur Fehlerhaftigkeit der Anzeige und somit nicht zur Unwirksamkeit der später ausgesprochenen Kündigungen.

Aus der Soll-Vorschrift des § 17 Abs.3 Satz 5 KSchG wird keine Muss-Vorschrift.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.05.2022, 2 AZR 467/21 (Pressemeldung des Gerichts)

 

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