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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 01|2024

Update Arbeitsrecht 01|2024 vom 10.01.2024

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Wirksame Kündigung trotz fehlerhafter Massenentlassungsanzeige?

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B)

Die Massenentlassungsanzeige dient nicht der Verhinderung von Kündigungen, sondern soll die Verwaltungstätigkeit der Arbeitsagentur erleichtern. Ein Verstoß gegen die Anzeigepflicht führt daher nicht zur Unwirksamkeit von Kündigungen.

§ 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); Art.2, 3, 4 Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie - MERL); § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 45 Abs.3 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG)

Rechtlicher Hintergrund

Will der Arbeitgeber eine Massenentlassung durchführen, muss er sie gemäß § 17 Abs.1, Abs.3 Satz 2 bis 5 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) der Arbeitsagentur vorab schriftlich anzeigen. Als Massenentlassung gelten Entlassungen in Betrieben mit 21 oder mehr Arbeitnehmern, wenn die in § 17 Abs.1 KSchG festgelegte Zahl von Entlassungen überschritten wird. 

Gibt es in dem von einer Massenentlassung betroffenen Betrieb einen Betriebsrat, ist der Arbeitgeber nicht nur zur Massenentlassungsanzeige verpflichtet, sondern gemäß § 17 Abs.2 Satz 1 KSchG auch zur vorherigen, umfassenden und schriftlichen Information des Betriebsrats. 

Außerdem muss er sich mit dem Betriebsrat gemäß § 17 Abs.2 Satz 2 KSchG über die geplanten Entlassungen beraten („Konsultation“).
Hinter der Pflicht zur Anzeige geplanter Massenentlassungen gegenüber der Arbeitsverwaltung, der Pflicht zur Information des Betriebsrats und der Konsultationspflicht gemäß § 17 KSchG steht die Richtlinie 98/59/EG über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie - MERL), d.h. § 17 KSchG dient der Umsetzung der in Art.2 und 3 MERL vorgegebenen Arbeitgeberpflichten. 

Im Jahr 2005 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf der Grundlage eines deutschen Vorlagefalls klargestellt, dass unter dem in Art.2 und 3 MERL - wie in § 17 KSchG - verwendeten Begriff der „Entlassung“ nicht das Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis zu verstehen ist, sondern die (zeitlich frühere) Erklärung der Kündigung durch den Arbeitgeber (EuGH, Urteil vom 27.01.2005, C-188/03 - Junk).

Außerdem hat der EuGH im Junk-Urteil entschieden, dass Arbeitgeber Massenentlassungen erst nach der Konsultation mit der Arbeitnehmervertretung und nach Erstattung der Massenentlassungsanzeige vornehmen dürfen.

Auf der Grundlage des Junk-Urteils des EuGH vertritt das Bundesarbeitsgericht (BAG), v.a. sein für das Kündigungsschutzrecht zuständiger Zweiter Senat, die Meinung, dass nicht nur ein Verstoß gegen die Konsultationspflicht Kündigungen im Rahmen einer Massenentlassung unwirksam macht, sondern dass auch eine Verletzung der Anzeigepflicht diese Rechtsfolge hat (BAG, Urteil vom 22.11.2012, 2 AZR 371/11, Rn.37). 

Diese Rechtsprechung gilt seit 2012 praktisch unangefochten. Auch geringfügige Fehler bei der Erstattung einer Massenentlassungsanzeige bei der Arbeitsagentur können daher Kündigungen zu Fall bringen.

§ 17 KSchG selbst enthält allerdings keine Regelungen zu den Folgen eines Verstoßes des Arbeitgebers gegen seine verfahrensrechtlichen Pflichten. Die Nichtigkeit einer Kündigung, die unter Verstoß gegen die Anzeigepflicht erklärt wird, ergibt sich dieser Rechtsprechung zufolge aus § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Danach ist ein Rechtsgeschäft wie z.B. eine Kündigung nichtig, wenn es gegen ein gesetzliches Verbot verstößt. 

Fraglich ist allerdings, ob eine so weitgehende Rechtsfolge angemessen ist. Denn anders als die Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats dient die Anzeige der geplanten Kündigungen nicht dem Ziel, die Anzahl von Entlassungen zu verringern, sondern der Vorbereitung der örtlich zuständigen Arbeitsverwaltung auf eine größere Anzahl von zu vermittelnden Arbeitslosen.

Vor kurzem hat der Sechste BAG-Senat diese Frage aufgeworfen und den Zweiten BAG-Senat gefragt, ob er an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält.

Sachverhalt

Ein langjährig in einem Betrieb mit 22 Arbeitnehmern beschäftigter Monteur und Servicetechniker wurde, nach Insolvenzeröffnung über das Vermögen des Arbeitgebers am 01.12.2020, kurz darauf vom Insolvenzverwalter betriebsbedingt gekündigt, da der Verwalter den Betrieb stilllegen wollte.

Die Kündigung mit der gemäß § 113 Insolvenzordnung (InsO) auf drei Monate verkürzten Kündigungsfrist erklärte der Verwalter mit Schreiben vom 02.12.2020 zu Ende März 2021. Das Schreiben ging dem Arbeitnehmer am 08.12.2020 zu. 

In dem gesetzlichen 30-Tage-Zeitraum, auf den es für die Feststellung einer Massenentlassung ankommt, hatte der Verwalter mehr als fünf Arbeitnehmer entlassen, so dass gemäß § 17 Abs.1 Nr.1 KSchG eine anzeigepflichtige Massenentlassung vorlag. Eine Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs.1, Abs.3 Satz 2 KSchG bei der Agentur für Arbeit hatte der Verwalter aber nicht erstattet.

Das Arbeitsgericht Hamburg (Urteil vom 20.04.2021, 5 Ca 656/20) und Landesarbeitsgericht (LAG) Hamburg gaben der Kündigungsschutzklage des Monteurs daher statt (LAG Hamburg, Urteil vom 03.02.2022, 3 Sa 16/21). Das LAG ließ die Revision zum BAG zu. 

Entscheidung des BAG

Der mit dem Fall befasst Sechste BAG-Senat beabsichtigt, seine bisherige Rechtsprechung zur Unwirksamkeit einer Kündigung wegen fehlender oder unrichtiger Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs.1 und Abs.3 KSchG aufzugeben.

Allerdings war bislang nicht nur der Sechste BAG-Senat der Ansicht, dass eine fehlende oder unrichtige Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs.1 und Abs.3 KSchG in Verb. mit § 134 BGB zur Unwirksamkeit der Kündigung führt, sondern auch der Zweite BAG-Senat (Urteil vom 22.11.2012, 2 AZR 371/11). 

Daher müsste eigentlich der - aus Richtern mehrerer Senat gebildete - Große Senat des BAG über diese Frage entscheiden, wie dies in § 45 Abs.2 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) vorgesehen ist. Denn aus Gründen der Einheitlichkeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung geht es nicht an, dass zwei Senate des BAG dauerhaft gegensätzliche Rechtsansichten vertreten. 

Allerdings ist eine Entscheidung des Großen Senats nicht nötig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt, dass er an seiner bisherigen Rechtsauffassung nicht mehr festhält. Eine solche Anfrage richtete der Sechste BAG-Senat daher an den Zweiten BAG-Senat (sog. Divergenzanfrage).

Zur Begründung seiner aktuellen Rechtsansicht, der zufolge eine unterbliebene oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nicht (mehr) zur Unwirksamkeit einer Kündigung im Rahmen einer Massenentlassung führen soll, verweist der Sechste BAG-Senat auf den rein sozialrechtlichen Zweck einer Anzeige bei der Arbeitsagentur.

Es geht bei der Massenentlassungsanzeige nicht um die Verhinderung von Kündigungen (wie bei der Konsultation des Betriebsrats), sondern um die Erleichterung der Verwaltungstätigkeit der Arbeitsagentur angesichts einer Vielzahl zu vermittelnder Arbeitsloser. Dieser Verwaltungszweck hat keinen individualschützenden Charakter, d.h. es geht nicht um die Sicherung der arbeitsrechtlichen Interessen einzelner Arbeitnehmer.

Die - gesetzlich nicht zwingende - Unwirksamkeitsfolge ist daher nicht tauglich, um den hinter der Anzeigepflicht stehenden Gesetzeszweck abzusichern. Außerdem belastet sie den Arbeitgeber in unverhältnismäßiger Weise.

Der Sechste BAG-Senat hält allerdings daran fest, dass ein Verstoß des Arbeitgebers gegen die Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats wie bisher zur Unwirksamkeit von Kündigungen im Rahmen von Massenentlassungen führen soll.

Praxishinweis

Der Sechste BAG-Senat bringt plausible Argumente für eine Änderung der Rechtsprechung vor. Ob sie den Zweiten BAG-Senat überzeugen, ist offen. 

Der Sechste BAG-Senat hat für seine Position auch aktuell Rückenwind bekommen durch eine EuGH-Entscheidung von Sommer 2023, in der der Gerichtshof entschieden hat, dass die Pflicht des Arbeitgebers zur Vorab-Übersendung seiner an den Betriebsrat gegangenen ersten Information über die Entlasssungspläne nicht individualschützend ist (EuGH, Urteil vom 13.07.2023, C-134/22, s. dazu Update Arbeitsrecht 15|2023).

Möglicherweise führt die Meinungsverschiedenheit der beiden BAG-Senate auch zu einer erneuten Vorlage an den EuGH.

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B) (Pressemitteilung des Gerichts)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B)

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 13.07.2023, C-134/22

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A)

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.11.2012, 2 AZR 371/11

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 27.01.2005, C-188/03 (Junk)

 

Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsrat

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