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BAG, Ur­teil vom 30.01.1979, 1 AZR 342/76

   
Schlagworte: Abmahnung, Ermahnung
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 1 AZR 342/76
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 30.01.1979
   
Leitsätze:

1. Auch wenn ein arbeitsvertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers zugleich einen Verstoß gegen die kollektive betriebliche Ordnung darstellt, ist eine mitbestimmungsfreie Abmahnung der in dem Verhalten liegenden Vertragspflichtverletzung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber möglich. Der Arbeitgeber ist in einem solchen Falle nicht darauf beschränkt, das zu beanstandende Verhalten in der Form einer mitbestimmungspflichtigen Betriebsbuße zu ahnden. Soweit aus dem Urteil des Senats vom 1975-12-05 1 AZR 94/74 = AP Nr 1 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße, auch zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung bestimmt, etwas anderes entnommen werden kann, wird hieran nicht festgehalten.

2. Ob eine Rüge des Arbeitgebers im Einzelfall als bloße Abmahnung vertragswidrigen Verhaltens oder als Betriebsbuße anzusehen ist, bedarf im Zweifel der Auslegung der Erklärung unter Berücksichtigung ihres Wortlauts, ihres Gesamtzusammenhangs und ihrer Begleitumstände. Eine mitbestimmungspflichtige Betriebsbuße liegt vor, wenn die Erklärung des Arbeitgebers über die Geltendmachung seines Gläubigerrechts auf vertragsgemäßes Verhalten des Arbeitnehmers einschließlich der Androhung individualrechtlicher Konsequenzen für den Wiederholungsfall hinausgeht und Strafcharakter annimmt, wenn also das beanstandete Verhalten geahndet werden soll.

3. Hat der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer wegen eines angeblich vertragswidrigen Verhaltens abgemahnt und hierüber einen Vermerk zu dessen Personalakten genommen, so kann der Arbeitnehmer die Entfernung dieses Vermerks aus den Personalakten verlangen, wenn der Vorwurf ungerechtfertigt ist.

Vorinstanzen: Landesarbeitsgericht Hamburg, Urteil vom 18.02.1976, 5 Sa 96/75
   

1 AZR 342/76
5 Sa 96/75 Ham­burg
 


Verkündet am

30. Ja­nu­ar 1979

gez. Ude,

An­ge­stell­te
als Ur­kunds­be­am­ter

der Geschäfts­stel­le

Im Na­men des Vol­kes!

Ur­teil

In Sa­chen

PP.
 


hat der Ers­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 30. Ja­nu­ar 1979 durch den Rich­ter Bich­ler als Vor­sit­zen­den, die Rich­ter Dr. Sei­den­sti­cker und Triebfürst so­wie die eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Dr. Mus­sil und An­dersch für Recht er­kannt:

Auf die Re­vi­si­on der Be­klag­ten wird das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts Ham­burg vom 18. Fe­bru­ar 1976 - 5 Sa 96/75 - auf­ge­ho­ben.

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Die Sa­che wird zur er­neu­ten Ver­hand­lung und Ent­schei­dung, auch über die Kos­ten der Re­vi­si­on, an das Lan­des­ar­beits­ge­richt zurück­ver­wie­sen.

Von Rechts we­gen!

Tat­be­stand:

Der 1954 ge­bo­re­ne Kläger ist seit dem 16. Au­gust 1973 bei der Be­klag­ten, ei­nem Ver­lags­un­ter­neh­men, als Ver­kaufs­as­sis­tent beschäftigt. Seit März 1975 ist er Mit­glied des Be­triebs­rats.

Die Be­klag­te nahm mit Da­tum vom 24. Ju­ni 1974, oh­ne den Be­triebs­rat zu be­tei­li­gen, fol­gen­den Ver­merk zu den Per­so­nal­ak­ten des Klägers:

"Herr T (Kläger) wird hier­mit an sei­ne Pflich­ten aus dem zwi­schen ihm und dem Ver­lag ab­ge­schlos­se­nen An­stel­lungs­ver­trag vom 3.8.1973 er­mahnt. Es wird aus­drück­lich auf den Satz, daß über Geschäfts- und Be­triebs­vorgänge Still­schwei­gen zu be­wah­ren ist, hin­ge­wie­sen. Das gilt auch für die Wei­ter­ga­be von In­for­ma­tio­nen über Geschäfts- und Be­triebs­vorgänge oh­ne Ge­neh­mi­gung sei­nes Ab­tei­lungs­lei­ters an an­de­re Ab­tei­lun­gen des Ver­la­ges und in Be­triebs­ver­samm­lun­gen.

Herr T hat­te in der Be­triebs­ver­samm­lung vom 27.2.1974, nach­dem die Geschäfts­lei­tung der Be­leg­schaft ei­ne Be­ur­tei­lung der wirt­schaft­li­chen La­ge des Ver­la­ges gab und auf die sta­gnie­ren­de bis rückläufi­ge Ten­denz im An­zei­gen­geschäft für das Jahr 1974 hin­wies, be­haup­tet, die­ser Be­richt sei Schwarz­ma­le­rei, er wis­se als Mit­ar­bei­ter der An­zei­gen­ab­tei­lung, daß mit ei­nem An­zei­gen­zu­wachs von über 50 % zu rech­nen sei.


In der Be­triebs­ver­samm­lung am 12. Ju­ni 1974 wur­de von der Geschäfts­lei­tung u.a.

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Herrn T an­hand neu­es­ter Zah­len nach­ge­wie­sen, daß sei­ne Be­haup­tun­gen völlig falsch wa­ren. Herr T äußer­te dar­auf wie­der sinn­gemäß, er ha­be oder könne Ma­te­ri­al be­schaf­fen, mit dem er be­wei­sen will, daß die von der An­zei­gen­lei­tung - in der Be­triebs­ver­samm­lung be­kannt­ge­ge­be­nen - er­stell­ten Zah­len falsch sind. Vom Be­triebs­rats-vor­sit­zen­den auf die durch den Ten­denz­schutz-Pa­ra­gra­phen vor­han­de­nen Ein­schränkun­gen im Zu­sam­men­hang mit der Be­kannt­ga­be von Zah­len des Ar­beit­ge­bers hin­ge­wie­sen, äußer­te er sinn­gemäß, er müsse den Ver­lag zwin­gen, die rich­ti­gen Zah­len auf den Tisch zu le­gen.

Herrn T wur­de vom Spre­cher der Geschäfts­lei­tung noch in die­ser Be­triebs­ver­samm­lung ge­sagt, daß ihm kei­nes­wegs sach­li­che Dis­kus­si­ons­beiträge in der Be­triebs­ver­samm­lung un­ter­sagt wären, daß sei­ne Äußerun­gen aber ab­ge­se­hen von der sach­li­chen Un­rich­tig­keit - als Dro­hung aus­ge­legt wer­den könn­ten. Die Geschäfts­lei­tung be­hal­te sich vor, dar­aus die er­for­der­li­chen Kon­se­quen­zen zu zie­hen. Herrn T wur­de aus­drück­lich ge­sagt, er ha­be mit sei­nem An­stel­lungs­ver­trag Rech­te - er ha­be aber auch Pflich­ten. An die­se wur­de er be­son­ders er­in­nert."

Der Kläger, der un­ter dem 23. Ju­li 1974 ei­ne Ge­gen­dar­stel­lung zu sei­nen Per­so­nal­ak­ten ge­ge­ben hat, ver­langt mit der vor­lie­gen­den Kla­ge die Ent­fer­nung des Ver­merks der Be­klag­ten aus den Per­so­nal­ak­ten. Er hat da­zu vor­ge­tra­gen:

Bei dem Ver­merk han­de­le es sich um ei­ne Ver­war­nung, die den Cha­rak­ter ei­ner Be­triebs­buße ha­be und da­her gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 1 Be­trVG der Mit­be­stim­mung des Be­triebs­rats un­ter­lie­ge. Da der Be­triebs­rat nicht mit­ge­wirkt ha­be, sei die Ver­war­nung un­wirk­sam, so daß der Ver­merk schon aus die­sem Grun­de aus den Per­so­nal­ak­ten ent­fernt wer­den müsse. Im übri­gen sei­en aber auch die in dem Ver­merk ent­hal­te­nen Vorwürfe un­be­rech­tigt. Auf ei­ner Be­triebs­ver­samm­lung vom 27.

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Fe­bru­ar 1974 könne er sich über­haupt nicht geäußert ha­ben, weil er zu je­nem Zeit­punkt im Kran­ken­haus ge­le­gen ha­be. Der Ver­merk be­tref­fe of­fen­bar ei­ne Be­triebs­ver­samm­lung vom Herbst 1973, auf der er sich je­doch auch nicht so geäußert ha­be, wie es in dem Ver­merk dar­ge­stellt wer­de. Sei­ne Ver­trags­pflich­ten ha­be er nicht ver­letzt; denn sein Ar­beits­ver­trag ent­hal­te kei­ne Be­stim­mung, die es ihm ver­bie­te, auf ei­ner Be­triebs­ver­samm­lung all­ge­mein zugäng­li­ches und im Be­trieb ver­brei­te­tes In­for­ma­ti­ons­ma­te­ri­al vor­zu­tra­gen. Nichts an­de­res ha­be er ge­tan.

Der Kläger hat da­her be­an­tragt,

die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, den von ihr ver­faßten Ver­merk vom 24. Ju­ni 1974 aus der Per­so­nal­ak­te des Klägers zu ent­fer­nen.

Die Be­klag­te hat Kla­ge­ab­wei­sung be­an­tragt und ent­geg­net:

Sie ha­be dem Kläger kei­ne Ver­war­nung im Sin­ne ei­ner Be­triebs­buße er­teilt. Sie ha­be ihm auch kei­nen Ver­s­toß ge­gen die be­trieb­li­che Ord­nung vor­ge­wor­fen, son­dern ihn auf ei­ne Ver­let­zung sei­ner Pflich­ten aus dem An­stel­lungs­ver­trag hin­ge­wie­sen und ihn an die­se Ver­trags­pflich­ten be­son­ders er­in­nert. Sie ha­be den Kläger al­so le­dig­lich ab­ge­mahnt. Ei­ne sol­che schlich­te Ab­mah­nung un­ter­lie­ge nicht der Mit­be­stim­mung des Be­triebs­rats. Der zu den Per­so­nal­ak­ten ge­ge­be­ne Ver­merk sei mit Aus­nah­me des Da­tums der Be­triebs­ver­samm­lung vom 27. Fe­bru­ar 1974 auch in­halt­lich rich­tig. Es ha­be sich nicht um die Be­triebs­ver­samm­lung vom 27. Fe­bru­ar 1974, son­dern um ei­ne Be­triebs­ver­samm­lung vom 28. No­vem­ber 1973 ge­han­delt. In­so­weit bedürfe der Ver­merk der Be­rich­ti­gung. Im übri­gen tref­fe er zu.
 

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Das Ar­beits­ge­richt hat die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat das erst­in­stanz­li­che Ur­teil ab­geändert und der Kla­ge statt­ge­ge­ben. Mit ih­rer vom Lan­des­ar­beits­ge­richt zu­ge­las­se­nen Re­vi­si­on er­strebt die Be­klag­te die Wie­der­her­stel­lung des erst­in­stanz­li­chen Ur­teils, während der Kläger um Zurück­wei­sung der Re­vi­si­on bit­tet.

Ent­schei­dungs­gründe:

Die Re­vi­si­on ist be­gründet. Sie führt zur Zurück­ver­wei­sung der Sa­che an das Be­ru­fungs­ge­richt.

I. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt sieht in dem zu den Per­so­nal­ak­ten des Klägers ge­nom­me­nen Ver­merk vom 24. Ju­ni 1974 ei­ne Be­triebs­buße, die es we­gen der feh­len­den Zu­stim­mung des Be­triebs­rats für un­zulässig hält.

1.a) Ei­ne Be­triebs­buße dient der Ahn­dung von Verstößen ge­gen die be­trieb­li­che Ord­nung. Als Sank­ti­ons­mit­tel kom­men außer ei­ner Geld­buße auch ein Ver­weis oder ei­ne förm­li­che Ver­war­nung in Be­tracht. Wie das Lan­des­ar­beits­ge­richt zu­tref­fend an­nimmt, gehört die Verhängung von Be­triebs­bußen zu den Fra­gen der Ord­nung des Be­trie­bes und des Ver­hal­tens der Ar­beit­neh­mer im Be­trieb, bei de­nen der Be­triebs­rat gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 1 Be­trVG mit­zu­be­stim­men hat. Die­ses Mit­be­stim­mungs­recht um­faßt so­wohl die Auf­stel­lung ei­ner Be­triebs­bußen­ord­nung als Vor­aus­set­zung für die Ahn­dung von Verstößen ge­gen die be­trieb­li­che Ord­nung als auch die Verhängung der Be­triebs­buße im Ein­zel­fall; auch die ein­zel­ne Sank­ti­ons­maßnah­me dient der Auf­recht­er­hal­tung oder Wie­der­her­stel­lung und da­mit der Durch­set­zung der all­ge­mei­nen be­trieb­li­chen Ord­nung. Sie kann da­her nur für Verstöße in Be­tracht kom­men, die sich ge­gen die be­trieb­li­che Ord­nung als sol­che rich­ten, die al­so ein ge­mein­schafts­wid­ri­ges Ver­hal­ten dar­stel­len. Es muß im­mer ein

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kol­lek­ti­ver Be­zug vor­han­den sein. Das ent­spricht der ständi­gen Recht­spre­chung des Se­nats (vgl. das auch zum Ab­druck in der Amt­li­chen Samm­lung des Bun­des­ar­beits­ge­richts vor­ge­se­he­ne Ur­teil vom 5. De­zem­ber 1975 - 1 AZR 94/74 -, AP Nr. 1 zu § 87 Be­trVG 1972 Be­triebs­buße [zu 1 der Gründe] mit wei­te­ren Nach­wei­sen).

b) Von der Ver­war­nung als Sank­ti­ons­mit­tel für Verstöße ge­gen die kol­lek­ti­ve be­trieb­li­che Ord­nung ist zu un­ter­schei­den die nicht un­ter die Be­triebs­straf­ge­walt fal­len­de und auch sonst nicht der Mit­be­stim­mung des Be­triebs­rats un­ter­lie­gen­de Ab­mah­nung des Ar­beit­neh­mers we­gen Ver­let­zung sei­ner ar­beits­ver­trag­li­chen Pflich­ten. Sie ist die Ausübung ei­nes ver­trag­li­chen Rüge­recht s, mit dem der Gläubi­ger den Schuld­ner auf Ver­trags­ver­let­zun­gen hin­weist, von ihm für die Zu­kunft ver­trags­gemäßes Ver­hal­ten for­dert und ihm ge­ge­be­nen­falls mögli­che in­di­vi­du­al­recht­li­che Kon­se­quen­zen bei er­neu­ter Ver­trags­ver­let­zung in Aus­sicht stellt. Die­ses ver­trag­li­che Rüge­recht kann. un­ter Umständen so­gar zu ei­ner Gläubi­ge­r­ob­lie­gen­heit wer­den. So wird vom Ar­beit­ge­ber in der Re­gel ei­ne vor­he­ri­ge Ab­mah­nung ver­langt, wenn er dem Ar­beit­neh­mer we­gen ei­nes Fehl­ver­hal­tens im Leis­tungs­be­reich kündi­gen will (vgl. BAG AP Nr. 9 zu § 1 KSchG Ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung [zu 4 c der Gründe] mit wei­te­ren Recht­spre­chungs­nach­wei­sen). Wie der Ar­beit­ge­ber ei­ne sol­che Ab­mah­nung be­zeich­net, ob er sie Ver­war­nung, Ver­weis oder Mah­nung nennt, ist recht­lich oh­ne Be­deu­tung. Ent­schei­dend ist al­lein, ob die durch die Ab­mah­nung als schlich­te Ausübung ei­ner ver­trag­li­chen Be­fug­nis ge­zo­ge­nen Gren­zen ein­ge­hal­ten wer­den (Se­nats­ur­teil vom 5. De­zem­ber 1975, ga0; Luh­mann, Be­triebs­jus­tiz und Rechts­staat, 1975, S. 107).
 

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c) Ob mit ei­ner schrift­li­chen Er­mah­nung ei­ne Be­triebs­buße verhängt oder le­dig­lich ein ver­trags­wid­ri­ges Ver­hal­ten ab­ge­mahnt wer­den soll, kann im Ein­zel­fal­le zwei­fel­haft sein, wenn nämlich das be­an­stan­de­te Ver­hal­ten des Ar­beit­neh­mers so­wohl ei­ne Ver­trags­ver­let­zung als auch ei­nen Ver­s­toß ge­gen die kol­lek­ti­ve be­trieb­li­che Ord­nung dar­stellt. Wird in der mißbil­li­gen­den Äußerung des Ar­beit­ge­bers nicht ein­deu­tig ge­sagt, was ge­meint ist, so muß der erklärte Wil­le durch Aus­le­gung er­mit­telt wer­den.

2.a) Im vor­lie­gen­den Fal­le sind Ge­gen­stand des zu den Per­so­nal­ak­ten ge­nom­me­nen Ver­merks vom 24. Ju­ni 1974 an­geb­lich un­rich­ti­ge Äußerun­gen des Klägers über die Ent­wick­lung des An­zei­gen­geschäfts der Be­klag­ten, in de­nen die­se ei­ne Ver­let­zung der Pflich­ten des Klägers aus sei­nem An­stel­lungs­ver­trag, ins-be­son­de­re sei­ner ver­trag­li­chen Pflicht zur Ver­schwie­gen­heit über geschäft­li­che und be­trieb­li­che Vorgänge sieht. Da die Äußerun­gen des Klägers aber auf Be­triebs­ver­samm­lun­gen ge­fal­len sind, hat das be­an­stan­de­te Ver­hal­ten zu­gleich auch ei­nen kol­lek­ti­ven Be­zug. We­gen die­ses kol­lek­ti­ven Be­zugs ist das Lan­des­ar­beits­ge­richt zu der Auf­fas­sung ge­langt, es han­de­le sich bei dem um­strit­te­nen Ver­merk um ei­ne mit­be­stim­mungs­pflich­ti­ge Be­triebs­buße und nicht um ei­ne mit­be­stim­mungs­freie Ab­mah­nung ei­nes ver­trags­wid­ri­gen Ver­hal­tens. Es führt da­zu aus, die Be­klag­te ha­be in dem Ver­merk aus­drück­lich gerügt, daß der Kläger vor al­len Be­leg­schafts­an­gehöri­gen un­rich­ti­ge An­ga­ben über die Ent­wick­lung im An­zei­gen­geschäft ge­macht und die von der Geschäfts­lei­tung be­kannt­ge­ge­be­nen Zah­len als falsch be­zeich­net ha­be. Da­mit wol­le die Be­klag­te - so heißt es in dem an­ge­foch­te­nen Ur­teil wei­ter - dem Kläger vor­wer­fen, daß er ih­re Geschäfts­lei­tung vor der Be­leg­schaft als un­glaubwürdig hin­ge­stellt ha­be. Hier­in lie­ge der Vor­wurf ei­nes Ver-
 

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stoßes ge­gen die be­trieb­li­che Ord­nung, möge sein Ar­beits­ver­trag den Kläger zur Ver­schwie­gen­heit über sol­che Vorgänge ver­pflich­ten oder nicht. Auch wenn der dem Kläger vor­ge­wor­fe­ne Ver­s­toß ge­gen die be­trieb­li­che Ord­nung von ei­ner Ver­let­zung des Ein­zel­ar­beits­ver­tra­ges aus­ge­he, grei­fe er hier in den Be­reich der be­trieb­li­chen Ord­nung über. Das Mit­be­stim­mungs­recht des Be­triebs­rats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 Be­trVG wer­de aber berührt, wenn sich ei­ne Ver­trags­ver­let­zung auf die be­trieb­li­che Ord­nung aus­wir­ke. Grei­fe ein Ver­s­toß ge­gen die ar­beits­ver­trag­li­chen Pflich­ten auch in den Be­reich der be­trieb­li­chen Ord­nung über, könn­ten Ver­war­nun­gen und Ver­wei­se nur nach Maßga­be ei­ner Be­triebs­bußen­ord­nung aus­ge­spro­chen wer­den. Feh­le es an ei­ner sol­chen Be­triebs­bußen­ord­nung, dann müsse der Ar­beit­ge­ber ei­ne Störung der be­trieb­li­chen Ord­nung, die zu­gleich ei­ne Ver­trags­ver­let­zung dar­stel­le, ent­we­der un­gerügt las­sen oder er müsse oh­ne die Zwi­schen­stu­fe ei­ner Ver­war­nung un­mit­tel­bar zur Kündi­gung über­ge­hen.

b) Bei die­sen Ausführun­gen stützt sich das Lan­des­ar­beits­ge­richt weit­ge­hend auf das wie­der­holt erwähn­te Se­nats­ur­teil vom 5. De­zem­ber 1975, das sich mit der Aus­le­gung ei­ner schrift­li­chen Ver­war­nung be­faßt, die der Ar­beit­ge­ber ei­nem Be­triebs­rats­mit­glied we­gen der Ver­tei­lung von Flugblättern par­tei­po­li­ti­schen In­halts im Be­trie­be während der Ar­beits­zeit er­teilt und in der das Be­ru­fungs­ge­richt die mit­be­stim­mungs­freie Ausübung des ar­beits­ver­trag­li­chen Rüge­rechts des Ar­beit­ge­bers und kei­ne Be­triebs­buße ge­se­hen hat­te. Das Be­ru­fungs­ge­richt hat­te dies u.a. da­mit be­gründet, daß ei­ne mit dem Be­triebs­rat ver­ein­bar­te Bußord­nung in dem dor­ti­gen Be­trie­be nicht be­ste­he und der Ar­beit­ge­ber des­halb auch kei­ne Be­triebs­buße ha­be verhängen, son­dern nur von sei­nen Gläubi­ger­rech­ten aus dem Ar­beits­ver­trag ha­be Ge-

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brauch ma­chen wol­len. Die­se Aus­le­gung des Ver­war­nungs­schrei­bens hat der Se­nat da­mals nicht ge­bil­ligt und da­zu aus­geführt, die vom Be­ru­fungs­ge­richt aus dem Feh­len ei­ner be­trieb­li­chen Bußord­nung ge­zo­ge­ne Schlußfol­ge­rung sei nicht zwin­gend; es bedürfe im Grund­satz auch nicht des Ab­schlus­ses ei­ner kol­lek­ti­ven Bußord­nung, um ei­ne Un­ter­schei­dung zwi­schen ein­zel­ver­trag­lich zulässi­gen, mit­be­stim­mungs­frei­en Maßnah­men des Ar­beit­ge­bers und die be­trieb­li­che Ord­nung berühren­den mit­be­stim­mungs­pflich­ti­gen Maßnah­men über­haupt tref­fen zu können; die Un­ter­schei­dung er­ge­be sich vor­be­halt­lich ei­ner Präzi­sie­rung in ei­ner Bußord­nung schon aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 Be­trVG selbst; fol­ge man der Auf­fas­sung des Be­ru­fungs­ge­richts, dann könn­te ein Ar­beit­ge­ber je­der­zeit un­ter Um­ge­hung des Mit­be­stim­mungs­rechts des Be­triebs­rats ein­sei­tig ei­nen Ver­s­toß ge­gen die be­trieb­li­che Ord­nung un­ter dem Ge­sichts­punkt ei­ner Ar­beits­ver­trags­ver­let­zung ahn­den.

Die­se Ausführun­gen des Se­nats sind im Schrift­tum auf Kri­tik ges­toßen (Kon­zen, Anm. zu AP Nr. 1 zu § 87 Be­trVG 1972 Be­triebs­buße [zu I 3 a]; Wie­se, Anm. zu dem ge­nann­ten Se­nats­ur­teil in EzA § 87 Be­trVG 1972 Be­trieb­li­che Ord­nung Nr. 1). Sie können in der Tat da­hin ver­stan­den wer­den - und das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat sie auch so ver­stan­den -, daß der Ar­beit­ge­ber Ver­trags­pflicht­ver­let­zun­gen sei­nes Ar­beit­neh­mers, die zu­gleich die kol­lek­ti­ve be­trieb­li­che Ord­nung berühren und ge­gen sie ver­s­toßen, nur im We­ge ei­ner mit­be­stim­mungs­pflich­ti­gen Be­triebs­buße, nicht aber in Ausübung sei­nes ver­trag­li­chen Rüge­rechts oh­ne Be­tei­li­gung des Be­triebs­rats ab­mah­nen könn­te. Hier­an hält der Se­nat nicht fest. Er ist viel­mehr der Auf­fas­sung, daß auch in sol­chen Fällen ei­ne mit­be­stim­mungs­freie Ab­mah­nung als Ausübung der je­dem Gläubi­ger zu­ste­hen­den Be­fug­nis, den
 


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Schuld­ner auf ei­ne Ver­let­zung sei­ner Ver­trags­pflich­ten auf­merk­sam zu ma­chen und von ihm künf­tig ver­tragsmäßiges Ver­hal­ten zu ver­lan­gen, möglich ist. Woll­te man je­de Ab­mah­nung ei­ner auch die be­trieb­li­che Ord­nung berühren­den Ver­trags­pflicht­ver­let­zung als nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 Be­trVG mit­be­stim­mungs-pflich­tig an­se­hen, so wäre dies der sich aus dem Be­triebs­ver­fas­sungs­ge­setz er­ge­ben­den Ab­stu­fung der Be­tei­li­gungs­rech­te des Be­triebs­rats nicht ge­recht. Für die Kündi­gung als schärfs­te in­di­vi­du­al­recht­li­che Re­ak­ti­on des Ar­beit­ge­bers auf Ver­trags­ver­let­zun­gen des Ar­beit­neh­mers schreibt § 102 Abs. 1 Be­trVG nur die vor­he­ri­ge Anhörung und da­mit die schwächs­te Form der Be­tei­li­gung des Be­triebs­rats vor. Es wäre sys­tem­wid­rig und würde auch ei­nes ein­leuch­ten­den Grun­des ent­beh­ren, die der Kündi­gung häufig vor­aus­ge­hen­de, we­sent­lich mil­de­re Maßnah­me der bloßen War­nung vor wei­te­rer Pflicht­ver­let­zung an die stärks­te Be­tei­li­gungs­form, nämlich an die Zu­stim­mung des Be­triebs­rats zu bin­den. Ei­ne nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 Be­trVG mit­be­stim­mungs­pflich­ti­ge Maßnah­me des Ar­beit­ge­bers liegt erst dann vor, wenn sie über die Gel­tend­ma­chung der Gläubi­ger­po­si­ti­on ein­sch­ließlich der An­dro­hung in­di­vi­du­al­recht­li­cher Kon­se­quen­zen bei Fort­set­zung des pflicht­wid­ri­gen Ver­hal­tens hin­aus­geht und Straf­cha­rak­ter an­nimmt, wenn das be­an­stan­de­te ge­mein­schafts- und zu­gleich ver­trags­wid­ri­ge Ver­hal­ten al­so ge­ahn­det wer­den soll. Ob die Rüge des Ar­beit­ge­bers als Ab­mah­nung oder als Buße an­zu­se­hen ist, be­darf im Zwei­fel der Aus­le­gung un­ter Berück­sich­ti­gung des Wort­lauts und des Ge­samt­zu­sam­men­hangs der Erklärung so­wie ih­rer Be­gleit­umstände. Da­bei kommt es dar­auf an, wie der Ar­beit­neh­mer die Be­an­stan­dung des Ar­beit­ge­bers nach Treu und Glau­ben ver­ste­hen mußte.
 


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c) Im vor­lie­gen­den Fal­le be­ruht die Aus­le­gung, die das Lan­des­ar­beits­ge­richt dem um­strit­te­nen Ver­merk der Be­klag­ten ge­ge­ben hat, auf der rechts­ir­ri­gen Erwägung, schon der kol­lek­ti­ve Be­zug des gerügten Ver­hal­tens des Klägers schließe ei­ne mit­be­stim­mungs­freie Ab­mah­nung die­ses Ver­hal­tens als ei­ner Ver­trags­pflicht­ver­let­zung aus. Da der maßgeb­li­che Sach­ver­halt fest­steht, kann der Se­nat die in dem Ver­merk ent­hal­te­ne Erklärung der Be­klag­ten selbst aus­le­gen. Wie sich aus ih­rem In­halt er­gibt, be­schränkt sie sich auf die bloße Ab­mah­nung ver­trags­wid­ri­gen Ver­hal­tens und geht in ih­ren Wer­tun­gen darüber nicht hin­aus.

Im Ein­gangs­satz des Ver­merks wird der Kläger an sei­ne Pflich­ten aus dem zwi­schen den Par­tei­en ab-ge­schlos­se­nen An­stel­lungs­ver­trag er­mahnt. So­dann wird auf die ver­trag­lich aus­drück­lich ver­ein­bar­te Pflicht zur Ver­schwie­gen­heit über Geschäfts- und Be­triebs­vorgänge hin­ge­wie­sen und die Auf­fas­sung der Be­klag­ten über die recht­li­che Trag­wei­te die­ser Ver­trags­be­stim­mung erläutert. Es folgt ei­ne Schil­de­rung der Vorgänge, aus de­nen die Be­klag­te ei­nen Ver­s­toß des Klägers ge­gen sei­ne Ver­trags­pflich­ten her­lei­tet. Ab­sch­ließend heißt es in dem Ver­merk, die Geschäfts­lei­tung be­hal­te sich vor, dar­aus die er­for­der­li­chen Kon­se­quen­zen zu zie­hen; dem Kläger sei ge­sagt wor­den, er ha­be mit sei­nem An­stel­lungs­ver­trag Rech­te, aber auch Pflich­ten; an die­se sei er be­son­ders er­in­nert wor­den.

Da­mit hält sich der Ver­merk im Rah­men ei­ner schlich­ten Ab­mah­nung ver­trags­wid­ri­gen Ver­hal­tens. Er hat nicht den Cha­rak­ter ei­ner Be­triebs­buße und be­durf­te des­halb ent­ge­gen der Auf­fas­sung des Lan­des­ar­beits­ge­richts nicht der Zu­stim­mung des Be­triebs­rats. Das an­ge­foch­te­ne Ur­teil konn­te da­her kei­nen Be­stand ha­ben.
 


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II. Zu ei­ner ab­sch­ließen­den Ent­schei­dung des Rechts­streits ist der Se­nat nicht in der La­ge. Hier­zu be­darf es viel­mehr wei­te­rer Sach­aufklärung durch das Lan­des­ar­beits­ge­richt. Da­bei ist in recht­li­cher Hin­sicht da­von aus­zu­ge­hen, daß auch die Be­rech­ti­gung ei­ner Ab­mah­nung ar­beits­ver­trags­wid­ri­gen Ver­hal­tens durch den Ar­beit­ge­ber vom gerügten Ar­beit­neh­mer zur ge­richt­li­chen Nach­prüfung ge­stellt wer­den kann, wenn die mißbil­li­gen­de Äußerung des Ar­beit­ge­bers nach Form oder In­halt ge­eig­net ist, den Ar­beit­neh­mer in sei­ner Rechts­stel­lung zu be­ein­träch­ti­gen. Wie der Fünf­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts in sei­nem Ur­teil vom 22. Fe­bru­ar 1978 - 5 AZR 801/76 - (AP Nr. 84 zu § 611 BGB Fürsor­ge­pflicht [zu II 1 der Gründe]) aus­ge­spro­chen hat, gehören je­den­falls for­mel­le, zu den Per­so­nal­ak­ten ge­nom­me­ne schrift­li­che Rügen oder Ver­war­nun­gen zu den Hand­lun­gen, die die Rechts­stel­lung des Ar­beit­neh­mers nach­tei­lig be­ein­flus­sen können. Dem tritt der er­ken­nen­de Se­nat bei. Es ist nicht aus­zu­sch­ließen, daß der­ar­ti­ge for­mel­le Rügen, wenn sie un­be­rech­tigt sind, später die Grund­la­ge für ei­ne fal­sche Be­ur­tei­lung des Ar­beit­neh­mers ab­ge­ben und da­durch sein be­ruf­li­ches Fort­kom­men be­hin­dern oder daß sie an­de­re sei­ne Rechts­stel­lung be­ein­träch­ti­gen­de ar­beits­recht­li­che Maßnah­men zur Fol­ge ha­ben. Hier han­delt es sich um ei­ne sol­che for­mel­le, zu den Per­so­nal­ak­ten ge­nom­me­ne schrift­li­che Rüge, an de­ren Ent­fer­nung aus sei­nen Per­so­nal­ak­ten der Kläger ein schutzwürdi­ges In­ter­es­se hat, wenn die Rüge un­ge­recht­fer­tigt ist. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt wird des-halb prüfen müssen, ob die in dem um­strit­te­nen Ver­merk er­ho­be­nen Vorwürfe der Be­klag­ten zu­tref­fen.

gez.: Bich­ler 

Triebfürst 

Dr. Sei­den­sti­cker

Dr. Mus­sil 

An­dersch

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