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Hes­si­sches LAG, Ur­teil vom 04.04.2013, 16 TaBV­Ga 57/13

   
Schlagworte: Fortbildung, Schwerbehindertenvertretung
   
Gericht: Hessisches Landesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 16 TaBVGa 57/13
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 04.04.2013
   
Leitsätze:

1. Auf die Freistellung für Schulungen von Schwerbehindertenvertretern nach § 96 Abs. 4 SGB IX gerichtete einstweilige Verfügungen sind zulässig, weil gemäß §§ 85 Abs. 2 ArbGG , 935 , 940 ZPO auch im Beschlussverfahren dem Verfassungsgebot eines effektiven Rechtsschutzes mit der Möglichkeit des Erlasses einer einstweiligen Verfügung Rechnung zu tragen ist.

2. Eine Auslegung von § 96 Abs. 4 Satz 4 Nr. 1 i.V.m. § 95 Abs. 1 Satz 4 SGB IX ergibt, dass auch das mit der zweithöchsten Stimmenzahl gewählte stellvertretende Mitglied der Schwerbehindertenvertretung einen Schulungsanspruch hat, wenn es zur Wahrnehmung von Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung ständig herangezogen ist.

3. Soweit es um eine Grundschulung geht, die das mit der zweithöchsten Stimmenzahl gewählte stellvertretende Mitglied der Schwerbehindertenvertretung erst in die Lage versetzen soll, die ihm übertragenen Aufgaben ordnungsgemäß wahrzunehmen, sind an die Darlegung der Erforderlichkeit der Kenntnisse keine weiteren Anforderungen zu stellen.

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Frankfurt/Main, Urteil vom 27.03.2013, 17 BVGa 117/13
   

Te­nor:

Auf die Be­schwer­de des An­trags­stel­lers wird der Be­schluss des Ar­beits­ge­richts Frank­furt am Main vom 27.März 2013 – 17 BV­Ga 117/13 – ab­geändert:

Die Be­tei­lig­te zu 2. wird ver­pflich­tet die Be­tei­lig­te zu 3. für die Schu­lungs­ver­an­stal­tung „XY – SBV II“ in der Zeit vom 08.04.2013 bis 12.04.2013 in M, ver­an­stal­tet durch den Schu­lungs­träger V un­ter Fort­zah­lung der Vergütung von der Ar­beits­pflicht frei­zu­stel­len.

Gründe

I.

Die Be­tei­lig­ten strei­ten in dem einst­wei­li­gen Verfügungs­ver­fah­ren darüber, ob der Ar­beit­ge­ber das mit der zweithöchs­ten Stim­men­zahl gewähl­te wei­te­re stell­ver­tre­ten­de Mit­glied der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung für die Teil­nah­me an ei­ner Grund­schu­lung un­ter Fort­zah­lung der Vergütung frei­stel­len muss.

Ar­beit­ge­ber ist ei­ne Uni­ver­sitätskli­nik, bei der in der Re­gel mehr als 200 (im Jah­res­durch­schnitt 2012 ge­nau 320) schwer­be­hin­der­te Men­schen beschäftigt sind. Zum Ver­trau­ens­mann der Schwer­be­hin­der­ten wur­de K, zur 1. Stell­ver­tre­te­rin O und zur 2. Stell­ver­tre­te­rin die Be­tei­lig­te zu 3 gewählt.

Nach der durch ei­des­statt­li­che Ver­si­che­rung glaub­haft ge­mach­ten Be­haup­tung der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung (An­trag­stel­ler) wur­den der Be­tei­lig­ten zu 3 fol­gen­de Auf­ga­ben über­tra­gen:

-Teil­nah­me an BEM-Gesprächen,
-im Rah­men von Be­wer­bungs­ver­fah­ren,
-Be­ra­tun­gen für schwer­be­hin­der­te Mit­ar­bei­ter.

-Ständi­ge Hin­zu­zie­hung zur Teil­nah­me an der Ar­beits­grup­pe des Per­so­nal­rats der Uni­kli­nik zum The­ma Ver­mie­tung von Zim­mern und Woh­nun­gen für die Beschäftig­ten der An­stalt öffent­li­chen Rechts und der Töch­ter. Da­bei han­delt es sich größten­teils um im Ei­gen­tum der Uni­kli­nik ste­hen­de Per­so­nal­un­terkünf­te, wel­che an die Beschäftig­ten wei­ter ver­mie­tet wer­den. Die­se Tref­fen fin­den re­gelmäßig al­le 1-3 Wo­chen statt.
-Zu Ter­mi­nen, wenn der Ver­trau­ens­mann und sei­ne 1. Stell­ver­tre­te­rin zeit­gleich Ter­mi­ne der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung wahr­zu­neh­men ha­ben bzw. Auf­ga­ben aus ih­rem Beschäfti­gungs­verhält­nis zu erfüllen ha­ben,
-Be­ra­tung für die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung in Fällen länge­rer Ab­we­sen­heit des Ver­trau­ens­mann oder der 1. Stell­ver­tre­te­rin,
-Be­ra­tung der fast 400 schwer­be­hin­der­ten Mit­ar­bei­ter bei Maßnah­men zur Si­che­rung des Ar­beits­plat­zes,
-Her­an­zie­hung zur Be­ra­tung der Beschäftig­ten mit Han­di­cap bei Fra­gen zu de­ren Si­tua­ti­on am Ar­beits­platz,
-Her­an­zie­hung zur Um­set­zung der In­te­gra­ti­ons­ver­ein­ba­rung.

Im Anhörungs­ter­min vor dem Ar­beits­ge­richt hat der Ver­trau­ens­mann sei­ne ei­des­statt­li­che Ver­si­che­rung da­hin­ge­hend präzi­siert, dass der Bet. zu 3 nach Durchführung der Schu­lung noch als ständi­ge Auf­ga­be die Be­ra­tung der fast 400 schwer­be­hin­der­ten Mit­ar­bei­ter bei Maßnah­men zur Si­che­rung des Ar­beits­plat­zes, die Be­ra­tung der Beschäftig­ten mit Han­di­cap bei Fra­gen zu de­ren Si­tua­ti­on am Ar­beits­platz und bei der Um­set­zung der In­te­gra­ti­ons­ver­ein­ba­rung über­tra­gen wer­den sol­len.

Die Be­tei­lig­te zu 3 nahm im Fe­bru­ar 2011 be­reits an dem 1. Bau­stein der Grund­schu­lung „XY I“ teil. Sie be­ab­sich­tig­te dann in der Zeit vom 25. bis 30. Sep­tem­ber 2011 an der (Fol­ge-) Grund­schu­lung XY II teil­zu­neh­men und er­wirk­te in­so­weit, nach­dem der Ar­beit­ge­ber der Schu­lungs­teil­nah­me wi­der­sprach, im We­ge ei­nes einst­wei­li­gen Verfügungs­ver­fah­rens vor dem Ar­beits­ge­richt Frank­furt am Main (24 BV­Ga 775/11) die Frei­stel­lung un­ter Fort­zah­lung der Vergütung zu die­ser Ver­an­stal­tung. Ge­gen die­se Ent­schei­dung leg­te der Ar­beit­ge­ber Be­schwer­de ein. Zu ei­ner Ent­schei­dung des Lan­des­ar­beits­ge­richts kam es nicht, da die Be­tei­lig­te zu 3 we­gen Krank­heit an der Schu­lungs­ver­an­stal­tung nicht teil­neh­men konn­te.

Nach ih­rer Wie­der­ge­ne­sung be­gehrt die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung die Frei­stel­lung der Be­tei­lig­ten zu 3 un­ter Fort­zah­lung der Vergütung zu der Schu­lungs­ver­an­stal­tung „XY- SBV II“ in der Zeit vom 8. April 2013 bis 12. April 2013 in M, ver­an­stal­tet durch den Schu­lungs­träger V. Se­mi­nar­in­hal­te sind:

-Si­tua­ti­on schwer­be­hin­der­ter Men­schen in der Ar­beits­welt,
-Maßnah­men zur Si­che­rung des Ar­beits­plat­zes,
-Beschäfti­gungs- und Prüfpflicht des Ar­beit­ge­bers,
-be­hin­der­ten­ge­rech­te Ar­beits­platz­ge­stal­tung, Maßnah­men, Hil­fen und Leis­tun­gen,
-vom Ein­zel­fall­ma­nage­ment zur In­te­gra­ti­ons­ver­ein­ba­rung.

Die Se­min­ar­gebühren be­tra­gen 710 € zuzüglich Mehr­wert­steu­er. Hin­zu kom­men die Kos­ten der Ta­gungsstätte von ca. 483 € in­klu­si­ve Mehr­wert­steu­er.

Der Ver­an­stal­ter bie­tet ein in­halts­glei­ches Se­mi­nar neun­mal jähr­lich an, u.a. im näher ge­le­ge­nen G
(Hes­sen).

Mit Schrei­ben vom 6. De­zem­ber 2012 lehn­te der Ar­beit­ge­ber die Ge­neh­mi­gung und Fi­nan­zie­rung von Schu­lungs­maßnah­men für die Be­tei­lig­te zu 3 ab.

Mit ih­rem am 18. Fe­bru­ar 2013 beim Ar­beits­ge­richt ein­ge­gan­ge­nen An­trag auf Er­lass ei­ner einst­wei­li­gen Verfügung hat die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung die Frei­stel­lung der Be­tei­lig­ten zu 3 un­ter Fort­zah­lung der Vergütung für die Schu­lungs­ver­an­stal­tung ge­richt­lich gel­tend ge­macht.

Die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung hat die Auf­fas­sung ver­tre­ten, die im einst­wei­li­gen Verfügungs­ver­fah­ren er­for­der­li­che Eil­bedürf­tig­keit er­ge­be sich dar­aus, dass es ihr nicht zu­zu­mu­ten sei, wenn die Be­tei­lig­te zu 3 erst nach Durchführung ei­nes Mo­na­te dau­ern­den Haupt­sa­che­ver­fah­rens die Schu­lung be­su­chen könn­te. Da­mit wer­de ei­ne Amts­ausübung und die Wahr­neh­mung der Auf­ga­ben, zu de­nen die Be­tei­lig­te zu 3 her­an­ge­zo­gen wer­de, für ei­nen nicht un­we­sent­li­chen Zeit­raum ver­hin­dert. Der Eil­bedürf­tig­keit ste­he nicht ent­ge­gen, dass es ei­ner ei­ne Zu­stim­mungs- oder Frei­stel­lungs­erklärung des Ar­beit­ge­bers nicht bedürfe. Denn die Be­tei­lig­te zu 3 würde sonst Ge­fahr lau­fen, für die Dau­er der Schu­lung kei­ne Vergütung zu er­hal­ten. Auch ein Verfügungs­an­spruch sei ge­ge­ben. Die Teil­nah­me an dem 2. Teil des Grund­la­g­en­se­mi­nars sei zur Ausübung der Tätig­keit er­for­der­lich. Sch­ließlich ste­he § 96 Abs. 4 S. 4 SGB IX , der die Teil­nah­me an Schu­lungs- und Bil­dungs­ver­an­stal­tun­gen für das mit der höchs­ten Stim­men­zahl gewähl­te stell­ver­tre­ten­de Mit­glied vor­se­he, nicht ent­ge­gen. Dies er­ge­be sich dar­aus, dass § 95 Abs. 1 S. 4 SGB IX ei­ne Her­an­zie­hung des 2. Stell­ver­tre­ters in Be­trie­ben und Dienst­stel­len mit mehr als 200 schwer­be­hin­der­ten Men­schen gewähr­leis­te. Ei­ne der­ar­ti­ge Her­an­zie­hung set­ze je­doch vor­aus, dass das be­tref­fen­de Mit­glied der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung über die er­for­der­li­chen Grund­kennt­nis­se verfüge.

Der Ar­beit­ge­ber hat be­strit­ten, dass und in wel­chem Um­fang Auf­ga­ben der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung auf die Be­tei­lig­te zu 3 de­le­giert wor­den. Hin­sicht­lich der 2. Stell­ver­tre­te­rin der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung be­ste­he kein Schu­lungs­an­spruch, was sich aus § 96 Abs. 4 S. 4 SGB IX ein­deu­tig er­ge­be. Es wer­de be­strit­ten, dass die Be­tei­lig­te zu 3 ständig i.S.d. § 95 Abs. 1 S. 4 SGB IX her­an­ge­zo­gen wer­de. Dem Ar­beit­ge­ber dürfe nicht gren­zen­los in Be­zug auf Dienst­be­frei­ung und die Über­nah­me von Kos­ten hin­sicht­lich der Teil­nah­me an Schu­lungs­ver­an­stal­tun­gen be­las­tet wer­den.

We­gen der Ein­zel­hei­ten des erst­in­stanz­li­chen Vor­brin­gens der Be­tei­lig­ten und der ge­stell­ten Anträge wird auf die Ausführun­gen des Ar­beits­ge­richts im Be­schluss un­ter I der Gründe ver­wie­sen.

Das Ar­beits­ge­richt hat den An­trag zurück­ge­wie­sen. Es feh­le be­reits am Vor­lie­gen ei­nes Verfügungs­grun­des. Zwi­schen den Be­tei­lig­ten sei be­reits seit 2011 strei­tig ge­we­sen, ob ein Schu­lungs­an­spruch für die 2. Stell­ver­tre­te­rin der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung be­ste­he. Die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung hätte da­her los­gelöst von ei­nem kon­kre­ten Aus­gangs­fall ei­ne ge­richt­li­che Klärung des strei­ti­gen Rechts­verhält­nis­ses su­chen müssen. Da sie dies nicht ge­tan ha­be, son­dern bis zum nächs­ten kon­kre­ten An­lass ab­war­te­te, um dann wie­der­um einst­wei­li­gen Recht­schutz zu be­geh­ren, ha­be sie die Eil­bedürf­tig­keit selbst her­bei­geführt, wo­durch der Verfügungs­grund ent­fal­len sei. Un­abhängig hier­von ha­be die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung nicht dar­ge­legt und glaub­haft ge­macht, dass die Vor­aus­set­zun­gen des § 96 Abs. 4 S. 4 SGB IX erfüllt sind. Schon nach ih­rem ei­ge­nen Vor­trag wer­de die Be­tei­lig­te zu 3 dau­er­haft nur zur Teil­nah­me an der Ar­beits­grup­pe des Per­so­nal­rats zur Ver­mie­tung von Per­so­nal­un­terkünf­ten her­an­ge­zo­gen. Die wei­te­ren Auf­ga­ben über­neh­me sie nur teil­wei­se und spo­ra­disch.

Die­ser Be­schluss wur­de den Be­tei­lig­ten am 2. April 2013 per Te­le­fax und am 3. April 2013 mit Emp­fangs­be­kennt­nis zu­ge­stellt. Die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung hat da­ge­gen mit ei­nem am 28. März 2013 beim Lan­des­ar­beits­ge­richt ein­ge­gan­ge­nen Schrift­satz Be­schwer­de ein­ge­legt und die­se zu­gleich be­gründet.

Die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung ist der An­sicht, die Durchführung ei­nes Fest­stel­lungs­ver­fah­rens über ei­ne Schu­lungs­be­rech­ti­gung der Be­tei­lig­ten zu 3 sei nicht er­for­der­lich ge­we­sen, da die 24. Kam­mer des Ar­beits­ge­richts den Schu­lungs­an­spruch be­reits be­jaht ha­be. Im Übri­gen würde ein fest­stel­len­des Haupt­sa­che­ver­fah­ren den Schu­lungs­an­spruch der Be­tei­lig­ten zu 3 und de­ren Tätig­keit im Rah­men der Her­an­zie­hung durch die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung aus­he­beln, da bis zu ei­nem rechts­kräfti­gen Ab­schluss des Haupt­sa­che­ver­fah­rens zum ei­nen die Wahl­pe­ri­ode ab­ge­lau­fen sei und zum an­de­ren auf un­be­stimm­te Zeit die Wahr­neh­mung der Auf­ga­ben der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung durch die Be­tei­lig­te zu 3 aus­ge­schlos­sen wäre. Auch ein Verfügungs­an­spruch be­ste­he. Die­ser er­ge­be sich aus § 96 Abs. 4 S. 4 i.V.m. § 95 Abs. 1 S. 4 SGB IX . Die Wahr­neh­mung von Auf­ga­ben durch die 2. Stell­ver­tre­te­rin der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung er­for­de­re ei­ne vor­he­ri­ge Schu­lung. Die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung ha­be der Be­tei­lig­ten zu 3 hier auch kon­kre­te Auf­ga­ben zu­ge­wie­sen.

Die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung be­an­tragt,

den Be­schluss des Ar­beits­ge­richts Frank­furt am Main vom 27. März 2013-17 BV­Ga 117/13-ab­zuändern und den Ar­beit­ge­ber zu ver­pflich­ten, die Be­tei­lig­te zu 3, Frau E, für die Schu­lungs­ver­an­stal­tung „XY-SBV II“ in der Zeit vom 8. April 2013 bis ein­sch­ließlich 12. April 2013 in M, ver­an­stal­tet durch den Schu­lungs­träger V, un­ter Fort­zah­lung der Vergütung von der Ar­beits­pflicht frei­zu­stel­len.

Der Ar­beit­ge­ber be­an­tragt,

die Be­schwer­de zurück­zu­wei­sen.

Der Ar­beit­ge­ber ist der Auf­fas­sung, aus dem kla­ren Ge­set­zes­wort­laut von § 96 Abs. 4 S. 4 SGB IX er­ge­be sich, dass dem 2. stell­ver­tre­ten­den Mit­glied der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung kein An­spruch auf Teil­nah­me an Bil­dungs- und Schu­lungs­ver­an­stal­tun­gen zu­ste­he.

We­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten des Vor­brin­gens der Be­tei­lig­ten wird auf die ge­wech­sel­ten Schriftsätze nebst An­la­gen so­wie die Anhörungs­pro­to­koll Be­zug ge­nom­men.

II.

1. Die Be­schwer­de ist statt­haft, § 84 Abs. 1 ArbGG , und zulässig, da sie form- und frist­ge­recht ein­ge­legt und be­gründet wur­de, § 87 Abs. 2 S. 1 , § 66 Abs. 1 S. 1 , § 89 Abs. 1 und 2 ArbGG.

2. Die Be­schwer­de ist be­gründet. Das Ar­beits­ge­richt hat den An­trag der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung zu Un­recht zurück­ge­wie­sen.

a) Der er­for­der­li­che Verfügungs­grund liegt vor, § 85 Abs. 2 ArbGG i.V.m. §§ 935 , 940 ZPO.

Auf die Frei­stel­lung für Schu­lun­gen von Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tern nach § 96 Abs. 4 SGB IX ge­rich­te­te einst­wei­li­ge Verfügun­gen sind zulässig, weil gemäß §§ 85 Abs. 2 ArbGG , 935 , 940 ZPO auch im Be­schluss­ver­fah­ren dem Ver­fas­sungs­ge­bot ei­nes ef­fek­ti­ven Rechts­schut­zes mit der Möglich­keit des Er­las­ses ei­ner einst­wei­li­gen Verfügung Rech­nung zu tra­gen ist. Ei­ne Be­frie­di­gungs­verfügung ist trotz ih­rer nicht nur si­chern­den, son­dern be­frie­di­gen­den Wir­kung und der da­mit ver­bun­de­nen Vor­weg­nah­me der Ent­schei­dung im Haupt­sa­che­ver­fah­ren aus­nahms­wei­se zulässig, wenn sie zur Erfüllung des rechts­staat­li­chen Jus­tiz­gewährungs­an­spruchs auf ef­fek­ti­ven Rechts­schutz er­for­der­lich ist. Ent­schei­dend für die Zulässig­keit ei­ner Be­frie­di­gungs­verfügung ist in den Fällen der Dring­lich­keit we­gen der Ge­fahr ei­nes ir­re­ver­si­blen Rechts­ver­lust ei­ne Abwägung der In­ter­es­sen der Be­tei­lig­ten im je­weils ge­ge­be­nen Ein­zel­fall ( Hess. LAG 14. Ja­nu­ar 2010-9 TaBV­Ga 229/09 -Be­hin­der­ten­recht 2011,26; Rn. 6). Das In­ter­es­se der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung an ei­ner Be­frie­di­gungs­verfügung ist dar­in zu se­hen, dass die Schu­lung zeit­nah und nicht erst nach Durchführung ei­nes Haupt­sa­che­ver­fah­rens in viel­leicht 12 oder 18 Mo­na­ten statt­fin­det. Das zur Schu­lung ent­sand­te Mit­glied läuft Ge­fahr für die Dau­er der Schu­lung kei­ne Vergütung zu er­hal­ten und die Kos­ten für Un­ter­brin­gung und Fahrt selbst tra­gen zu müssen. Dem­ge­genüber liegt das In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers dar­in, dass nicht im Eil­ver­fah­ren oh­ne hin­rei­chend si­che­re Fest­stel­lung der Er­for­der­lich­keit und Verhält­nismäßig­keit der Schu­lung endgülti­ge und ir­re­pa­ra­ble Zustände ge­schaf­fen wer­den. Die­sem In­ter­es­se lässt sich bei­spiels­wei­se da­durch Rech­nung tra­gen, dass der Ar­beit­ge­ber im Rah­men ei­nes Anhörungs­ter­mins aus­rei­chend Ge­le­gen­heit erhält, sei­nen Stand­punkt dar­zu­stel­len. Fer­ner hat die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung ih­re tatsächli­chen Be­haup­tun­gen durch ei­des­statt­li­che Ver­si­che­rung glaub­haft zu ma­chen. Im Hin­blick auf die be­reits am 8. April 2013 be­gin­nen­de Schu­lungs­ver­an­stal­tung ist die Ent­schei­dung eil­bedürf­tig. Dem steht nicht ent­ge­gen, dass von dem­sel­ben Ver­an­stal­ter mehr­mals jähr­lich an ver­schie­de­nen Or­ten in­halts­glei­che Schu­lungs­ver­an­stal­tun­gen an­ge­bo­ten wer­den. Wenn be­reits da­mit die Eil­bedürf­tig­keit ver­neint wer­den könn­te, ließe sich bei je­der Schu­lungs­ver­an­stal­tung ein­wen­den, der Teil­neh­mer möge doch an der nächs­ten Ver­an­stal­tung teil­neh­men. So würde der Schu­lungs­an­spruch letzt­lich ver­ei­telt.

Die Eil­bedürf­tig­keit lässt sich ent­ge­gen der Auf­fas­sung des Ar­beits­ge­richts auch nicht des­halb ver­nei­nen, weil der Streit darüber, ob das 2. stell­ver­tre­ten­de Mit­glied der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung ei­nen Schu­lungs­an­spruch hat, zwi­schen den Be­tei­lig­ten be­reits seit 2011 be­stand, oh­ne dass die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung los­gelöst vom kon­kre­ten Fall ei­ne ge­richt­li­che Ent­schei­dung in ei­nem Haupt­sa­che­ver­fah­ren an­ge­strebt hätte. Ein der­ar­ti­ger An­trag wäre un­zulässig ge­we­sen. Auch im Be­schluss­ver­fah­ren muss der An­trag hin­rei­chend be­stimmt sein, § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO , § 46 Abs. 2 , § 80 Abs. 2 ArbGG . Oh­ne Kon­kre­ti­sie­rung von Zeit­punkt und Ort der Schu­lung kann nicht ab­sch­ließend be­ur­teilt wer­den, ob der An­trag be­gründet ist. Zeit­punkt und Ort der Schu­lung sind viel­mehr ne­ben ih­rem In­halt für die Fra­ge von Be­deu­tung, ob das Gre­mi­um die Schu­lung für er­for­der­lich hal­ten darf ( Bun­des­ar­beits­ge­richt 12. Ja­nu­ar 2011-7 ABR 94/09 -NZA 2011,813, Rn. 17).

Die­sen zwin­gen­den An­for­de­run­gen an die Be­stimmt­heit genügt ein An­trag, der sich dar­auf be­schränkt, die Be­rech­ti­gung des 2. stell­ver­tre­ten­den Mit­glieds der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung zur Teil­nah­me an Schu­lun­gen fest­zu­stel­len, nicht.

b) Der Verfügungs­an­spruch er­gibt sich aus § 96 Abs. 4 S. 4 Nr. 1 i.V.m. § 95 Abs. 1 S. 4 SGB IX.

Dies er­gibt ei­ne Aus­le­gung die­ser Vor­schrif­ten. § 96 Abs. 4 S. 4 SGB IX gilt nach sei­nem Wort­laut für das mit der höchs­ten Stim­men­zahl gewähl­ten stell­ver­tre­ten­de Mit­glied. Dies schließt ei­ne An­wen­dung der Norm auf das mit der zweithöchs­ten Stim­men­zahl gewähl­te stell­ver­tre­ten­de Mit­glied nicht aus­drück­lich aus. Die ent­ge­gen­ste­hen­de Auf­fas­sung von Hoh­mann (in: Wie­gand, SGB IX, § 96 Rn. 189), der meint § 96 Abs. 4 S. 4 SGB IX be­schränke den An­spruch aus­drück­lich auf das stell­ver­tre­ten­de Mit­glied der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung mit der höchs­ten Stim­men­zahl, trifft nicht zu. Die Vor­schrift nennt zwar aus­drück­lich nur das stell­ver­tre­ten­de Mit­glied der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung mit der höchs­ten Stim­men­zahl. Ei­nen Aus­schluss des An­spruchs auf Schu­lungs­teil­nah­me für das wei­te­re stell­ver­tre­ten­de Mit­glied mit der nächsthöchs­ten Stim­men­zahl im Sin­ne von § 95 Abs. 1 S. 4 Halbs. 2 SGB IX enthält § 96 Abs. 4 S. 4 je­doch nicht.

Viel­mehr spricht der sys­te­ma­ti­sche Zu­sam­men­hang zu § 95 Abs. 1 S. 4 SGB IX , der sich aus der Ver­wei­sung in § 96 Abs. 4 S. 4 Nr. 1 SGB IX er­gibt, dafür dass auch dem mit der nächsthöchs­ten Stim­men­zahl gewähl­ten wei­te­ren stell­ver­tre­ten­den Mit­glied ein An­spruch auf Teil­nah­me an Schu­lungs- und Bil­dungs­ver­an­stal­tun­gen zu­steht, wenn es zu be­stimm­ten Auf­ga­ben her­an­ge­zo­gen wird.

Ent­schei­dend er­gibt sich dies aus dem Sinn und Zweck der Norm. Die Her­an­zie­hung des mit der nächsthöchs­ten Stim­men­zahl gewähl­ten wei­te­ren stell­ver­tre­ten­den Mit­glieds nach § 95 Abs. 1 S. 4 SGB IX kann nur dann er­folg­reich im Sin­ne ei­ner Wahr­neh­mung der In­ter­es­sen der Schwer­be­hin­der­ten sein, wenn auch die­ses Mit­glied zu­vor ent­spre­chend ge­schult wur­de. Oh­ne die er­for­der­li­chen Grund­kennt­nis­se ist die Über­nah­me von Auf­ga­ben ei­ner Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung nicht möglich. Wenn da­her § 95 Abs. 1 S. 4 SGB IX die Her­an­zie­hung des mit der nächsthöchs­ten Stim­men­zahl gewähl­ten wei­te­ren Stell­ver­tre­ten­den­mit­glieds vor­sieht, muss die­ses ei­nen An­spruch auf Schu­lungs­teil­nah­me ha­ben (ähn­lich:Neu­mann/Pah­len/Ma­jer­ski, SGB IX, 12. Aufl., § 96 Rn. 14 am En­de). Die Be­schwer­de­kam­mer folgt da­mit der zu­tref­fen­den Recht­spre­chung der 24. Kam­mer des Ar­beits­ge­richts Frank­furt am Main vom 22. Sep­tem­ber 2011-24 BV­Ga 775/11.

Die bei dem Ar­beit­ge­ber ge­bil­de­te Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung, die mehr als 200 schwer­be­hin­der­te Men­schen re­präsen­tiert, hat das mit der nächsthöchs­ten Stim­men­zahl gewähl­te wei­te­re stell­ver­tre­ten­de Mit­glied nach § 95 SGB IX ständig her­an­ge­zo­gen. Dies ist durch die ei­des­statt­li­che Ver­si­che­rung des Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­ters glaub­haft ge­macht. Da­nach wur­den der Be­tei­lig­ten zu 3 un­ter an­de­rem die Teil­nah­me an BEM (be­trieb­li­ches Ein­glie­de­rungs­ma­nage­ment)-Gesprächen so­wie Auf­ga­ben im Rah­men von Be­wer­bungs­ver­fah­ren und Be­ra­tun­gen für schwer­be­hin­der­te Mit­ar­bei­ter über­tra­gen. Im Rah­men der Anhörung vor dem Lan­des­ar­beits­ge­richt hat der Schwer­be­hin­der­ten­ver­trau­ens­mann klar­ge­stellt, dass die Ar­beit der­art auf­ge­teilt ist, dass er, der haupt­be­ruf­lich im Ver­wal­tungs­be­reich ar­bei­tet, Gespräche führt, die Mit­ar­bei­ter in der Ver­wal­tung be­tref­fen, die 1. Stell­ver­tre­te­rin, die haupt­be­ruf­lich Kran­ken­schwes­ter ist, Gespräche führt, die Mit­ar­bei­ter aus die­sem Be­reich be­tref­fen und die 2. Stell­ver­tre­te­rin, die med.-tech­ni­sche As­sis­ten­tin ist, Gespräche führt, die Ar­beit­neh­mer aus die­sem Be­reich be­tref­fen. Die Be­schwer­de­kam­mer hält dies für ei­ne sach­ge­rech­te Auf­tei­lung. Hier­durch ist si­cher­ge­stellt, dass das be­tref­fen­de Mit­glied der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung ei­ne ei­ge­ne Kennt­nis der spe­zi­fi­schen Be­las­tun­gen an dem Ar­beits­platz, auf dem die be­tref­fen­de Per­son beschäftigt wird, hat. Ob bzw. in wel­chem Um­fang die 2. Stell­ver­tre­te­rin in der Ver­gan­gen­heit tatsächlich Auf­ga­ben der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung wahr­ge­nom­men hat, be­darf kei­ner Ent­schei­dung. Selbst wenn dies nicht der Fall sein soll­te, ist es nicht zu be­an­stan­den, wenn mit der Wahr­neh­mung der über­tra­ge­nen Auf­ga­ben so lan­ge zu­ge­war­tet wird, bis die er­for­der­li­chen Grund­schu­lun­gen von ihr be­sucht wur­den.

Da es hier um ei­ne Grund­schu­lung geht, die die 2. Stell­ver­tre­te­rin erst in die La­ge ver­set­zen soll, die ihr über­tra­ge­nen Auf­ga­ben ord­nungs­gemäß wahr­zu­neh­men, sind an die Dar­le­gung der Er­for­der­lich­keit der Kennt­nis­se kei­ne wei­te­ren An­for­de­run­gen zu stel­len (vgl. für Be­triebs­rats­schu­lun­gen: Bun­des­ar­beits­ge­richt 12. Ja­nu­ar 2011-7 ABR 94/09 -NZA 2011,813, Rn. 19).

Der Er­for­der­lich­keit der Teil­nah­me an der Schu­lungs­maßnah­me steht nicht ent­ge­gen, dass der­sel­be Ver­an­stal­ter ei­ne in­halts­glei­che Ver­an­stal­tung auch in G (Hes­sen) an­bie­tet, während sich die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung hier für ei­ne Ver­an­stal­tung in M (Ba­den-Würt­tem­berg) ent­schie­den hat. Wie weit die­se bei­den Or­te von Frank­furt am Main ent­fernt lie­gen, wird von den Be­tei­lig­ten nicht vor­ge­tra­gen. Es ist da­her nicht er­kenn­bar, um wie­viel höhe­re Fahrt­kos­ten nach M im Ver­gleich zu G an­fal­len. Letzt­lich misst die Be­schwer­de­kam­mer die­sem As­pekt im Hin­blick auf die ent­ste­hen­den Ge­samt­kos­ten (Teil­neh­mer­gebühr, Un­ter­brin­gung so­wie Fort­zah­lung der Vergütung) kei­ne ent­schei­den­de Be­deu­tung zu.

III.

Ge­gen die­se Ent­schei­dung ist die Rechts­be­schwer­de nicht statt­haft, § 92 Abs. 1 S. 3 ArbGG .

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