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BAG, Ur­teil vom 14.11.2012, 5 AZR 886/11

   
Schlagworte: Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, AU-Bescheinigung
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 5 AZR 886/11
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 14.11.2012
   
Leitsätze: Die Ausübung des dem Arbeitgeber nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG eingeräumten Rechts, von dem Arbeitnehmer die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer schon vom ersten Tag der Erkrankung an zu verlangen, steht im nicht gebundenen Ermessen des Arbeitgebers.
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Köln, Urteil vom 3.5.2011 - 8 Ca 2519/11
Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 14.9.2011 - 3 Sa 597/11
   


BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT


5 AZR 886/11
3 Sa 597/11
Lan­des­ar­beits­ge­richt

Köln

 

Im Na­men des Vol­kes!

Verkündet am
14. No­vem­ber 2012

UR­TEIL

Rad­t­ke, Ur­kunds­be­am­tin

der Geschäfts­stel­le

In Sa­chen

Kläge­rin, Be­ru­fungskläge­rin und Re­vi­si­onskläge­rin,

pp.

Be­klag­te, Be­ru­fungs­be­klag­te und Re­vi­si­ons­be­klag­te,

hat der Fünf­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 14. No­vem­ber 2012 durch den Vi­ze­präsi­den­ten des Bun­des­ar­beits­ge­richts Dr. Müller-Glöge, die Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Biebl und Klo­se so­wie den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Feld­mei­er und die eh­ren­amt­li­che Rich­te­rin Rein­ders für Recht er­kannt:
 


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1. Die Re­vi­si­on der Kläge­rin ge­gen das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts Köln vom 14. Sep­tem­ber 2011 - 3 Sa 597/11 - wird zurück­ge­wie­sen.


2. Die Kläge­rin hat die Kos­ten der Re­vi­si­on zu tra­gen.

Von Rechts we­gen!

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über die Be­rech­ti­gung der Be­klag­ten, von der Kläge­rin die Vor­la­ge ei­ner ärzt­li­chen Be­schei­ni­gung über das Be­ste­hen der Ar­beits­unfähig­keit und de­ren vor­aus­sicht­li­che Dau­er schon von dem ers­ten Tag der Er­kran­kung an zu ver­lan­gen.


Die Kläge­rin ist bei der be­klag­ten Rund­funk­an­stalt als Re­dak­teu­rin beschäftigt. Auf das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en fin­det der Man­tel­ta­rif­ver­trag des West­deut­schen Rund­funks Köln vom 8. Au­gust 1979 idF vom 15. Sep­tem­ber 2006 (fort­an: MTV) An­wen­dung, der in § 9 Abs. 2 be­stimmt:


„Er­krankt ein Ar­beit­neh­mer, so muss spätes­tens am vier­ten Tag ein ärzt­li­ches At­test bei­ge­bracht wer­den. Der WDR ist be­rech­tigt, ein At­test des me­di­zi­ni­schen Diens­tes der Kran­ken­ver­si­che­rung zu ver­lan­gen; die hier­durch ent­ste­hen­den Kos­ten trägt der WDR.“

Die Kläge­rin hat­te für den 30. No­vem­ber 2010 ei­nen Dienst­rei­se­an­trag ge­stellt, dem ihr Vor­ge­setz­ter nicht ent­sprach. Ei­ne noch­ma­li­ge An­fra­ge der Kläge­rin we­gen der Dienst­rei­se­ge­neh­mi­gung am 29. No­vem­ber 2010 wur­de ab­schlägig be­schie­den. Am 30. No­vem­ber 2010 mel­de­te sich die Kläge­rin krank und er­schien am Fol­ge­tag wie­der zur Ar­beit. Dar­auf­hin for­der­te die Be­klag­te die Kläge­rin mit Schrei­ben vom 10. De­zem­ber 2010 auf, „bei zukünf­ti­gen Krank­heitsfällen schon am ers­ten Tag der Krank­mel­dung ei­nen Arzt auf­zu­su­chen und ein ent­spre­chen­des At­test zu lie­fern“.
 


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Mit der am 30. März 2011 beim Ar­beits­ge­richt ein­ge­reich­ten Kla­ge hat sich die Kläge­rin ge­gen die­se An­wei­sung ge­wandt und die Auf­fas­sung ver­tre­ten, das Ver­lan­gen der Vor­la­ge ei­ner ärzt­li­chen Ar­beits­unfähig­keits­be­schei­ni­gung be­reits ab dem ers­ten Tag der Er­kran­kung bedürfe ei­ner sach­li­chen Recht­fer­ti­gung. Zu­dem ste­he § 9 Abs. 2 MTV ei­nem der­ar­ti­gen Ver­lan­gen ent­ge­gen. Über­dies würde im Hau­se der Be­klag­ten von § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG nur Ge­brauch ge­macht, wenn auffälli­ge Fehl­zei­ten vorlägen (wie zB je­de zwei­te Wo­che, im­mer am Mon­tag oder Frei­tag, im­mer an Brück­en­ta­gen, im­mer zu be­stimm­ten dis­po­nier­ten Diens­ten oder sons­ti­gen dis­po­nier­ten Ter­mi­nen, bei Sucht­kran­ken).


Die Kläge­rin hat zu­letzt be­an­tragt, 


die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, ih­re ge­gen die Kläge­rin ge­rich­te­te An­wei­sung vom 10. De­zem­ber 2010, im Fal­le ei­ner Er­kran­kung be­reits ab dem ers­ten Tag ein ärzt­li­ches At­test ein­zu­ho­len und vor­zu­le­gen, zu wi­der­ru­fen.

Die Be­klag­te hat Kla­ge­ab­wei­sung be­an­tragt und gel­tend ge­macht, das Ver­lan­gen nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG bedürfe we­der ei­ner Be­gründung noch ei­nes Miss­brauchs­ver­dachts. Un­abhängig da­von hätten hin­rei­chen­de Zwei­fel an ei­ner Ar­beits­unfähig­keit der Kläge­rin am 30. No­vem­ber 2010 be­stan­den. Ei­ne ab­sch­ließen­de Re­ge­lung zur Hand­ha­bung des § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG be­ste­he eben­so we­nig wie ei­ne be­trieb­li­che Übung.

Das Ar­beits­ge­richt hat die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat die Be­ru­fung der Kläge­rin zurück­ge­wie­sen. Mit der vom Lan­des­ar­beits­ge­richt zu­ge­las­se­nen Re­vi­si­on ver­folgt die Kläge­rin ih­ren Kla­ge­an­trag wei­ter.

Ent­schei­dungs­gründe


Die Re­vi­si­on der Kläge­rin ist un­be­gründet. Die Vor­in­stan­zen ha­ben die Kla­ge zu Recht ab­ge­wie­sen.
 


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I. Ob und un­ter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen der Ar­beit­neh­mer über die Fest­stel­lung hin­aus, nicht zur Be­fol­gung ei­ner Wei­sung des Ar­beit­ge­bers ver­pflich­tet zu sein, den Wi­der­ruf ei­ner Wei­sung des Ar­beit­ge­bers im Sin­ne ei­ner - wie die Kläge­rin in der münd­li­chen Ver­hand­lung vor dem Se­nat klar­ge­stellt hat - Auf­he­bung der Maßnah­me für die Zu­kunft ver­lan­gen kann, be­darf kei­ner ab­sch­ließen­den Ent­schei­dung des Se­nats (zum Wi­der­ruf un­zu­tref­fen­der oder ab­wer­ten­der Äußerun­gen, vgl. BAG 27. No­vem­ber 1985 - 5 AZR 101/84 - BA­GE 50, 202). Denn das in dem Schrei­ben der Be­klag­ten vom 10. De­zem­ber 2010 geäußer­te Ver­lan­gen nach Vor­la­ge ei­ner ärzt­li­chen Ar­beits­unfähig­keits­be­schei­ni­gung schon für und ab dem ers­ten Tag ei­ner Er­kran­kung ist von § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG ge­deckt und verstößt we­der ge­gen § 9 Abs. 2 MTV noch ge­gen ei­ne be­trieb­li­che Übung.


1. Dau­ert ei­ne Ar­beits­unfähig­keit länger als drei Ka­len­der­ta­ge, hat der Ar­beit­neh­mer gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG ei­ne ärzt­li­che Be­schei­ni­gung über das Be­ste­hen der Ar­beits­unfähig­keit so­wie de­ren vor­aus­sicht­li­che Dau­er spätes­tens an dem dar­auf­fol­gen­den Ar­beits­tag vor­zu­le­gen. Nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG ist der Ar­beit­ge­ber je­doch be­rech­tigt, die Vor­la­ge der ärzt­li­chen Be­schei­ni­gung früher zu ver­lan­gen. Die Re­ge­lung eröff­net dem Ar­beit­ge­ber nicht nur das Recht der zeit­lich frühe­ren An­for­de­rung, son­dern da­ne­ben das Recht, den Nach­weis der Ar­beits­unfähig­keit durch Vor­la­ge ei­ner ärzt­li­chen Be­schei­ni­gung auch für Zei­ten zu ver­lan­gen, die nicht länger als drei Ta­ge an­dau­ern, zB auch für ei­ne eintägi­ge Ar­beits­unfähig­keit (all­ge­mei­ne An­sicht, vgl. nur BAG 1. Ok­to­ber 1997 - 5 AZR 726/96 - zu II 2 e aa der Gründe, BA­GE 86, 357; 25. Ja­nu­ar 2000 - 1 ABR 3/99 - zu B I 2 b aa der Gründe, BA­GE 93, 276; ErfK/Dörner/Rein­hard 13. Aufl. § 5 EFZG Rn. 12; HWK/Schlie­mann 5. Aufl. § 5 EFZG Rn. 36 - je­weils mwN).


a) Das Ver­lan­gen nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG be­darf we­der ei­ner Be­gründung noch ei­nes sach­li­chen Grun­des oder gar be­son­de­rer Ver­dachts­mo­men­te auf Vortäuschung ei­ner Er­kran­kung in der Ver­gan­gen­heit (so auch die ganz über­wie­gen­de Mei­nung im Schrift­tum, vgl. et­wa ErfK/Dörner/Rein­hard 13. Aufl. § 5 EFZG Rn. 12; HWK/Schlie­mann 5. Aufl. § 5 EFZG Rn. 36;


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Schaub/Linck Ar­beits­rechts-Hand­buch 14. Aufl. § 98 Rn. 121; Sch­mitt EFZG 7. Aufl. § 5 Rn. 72 - je­weils mwN). Das er­gibt sich schon aus dem Wort­laut des § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG, der kei­ner­lei ein­schränken­de Vor­aus­set­zun­gen nennt, und wird bestätigt durch die Ent­ste­hungs­ge­schich­te der Norm. Während im ursprüng­li­chen Ent­wurf der Vor­schrift noch vor­ge­se­hen war, dass al­le Ar­beit­neh­mer ein ärzt­li­ches At­test be­reits vom ers­ten Tag der Ar­beits­unfähig­keit an vor­zu­le­gen hätten (vgl. BT-Drucks. 12/5263 S. 4 und S. 13 f.), geht die Ge­setz ge­wor­de­ne Fas­sung auf ei­ne Be­schluss­emp­feh­lung des Aus­schus­ses für Ar­beit und So­zi­al­ord­nung zurück. Die Ände­rung soll­te ei­ner mögli­chen Kos­ten­stei­ge­rung bei den Kran­ken­kas­sen ent­ge­gen­wir­ken, zu­gleich aber der Ar­beit­ge­ber „in je­dem Fall“ die Möglich­keit ha­ben, die Ar­beits­unfähig­keits­be­schei­ni­gung ab dem ers­ten Tag zu ver­lan­gen (BT-Drucks. 12/5798 S. 26).

Ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Re­vi­si­on ist § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG auch kei­ne Aus­nah­me­vor­schrift zu Satz 2. Dass letz­te­rer an­zu­wen­den ist, wenn der Ar­beit­ge­ber von sei­nem Recht aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG kei­nen Ge­brauch ge­macht hat, lässt we­der recht­lich noch tatsächlich den Schluss auf ein Re­gel-Aus­nah­me­verhält­nis zu (vgl. BAG 1. Ok­to­ber 1997 - 5 AZR 726/96 - zu II 2 c bb der Gründe, BA­GE 86, 357).


Die Vor­aus­set­zungs­lo­sig­keit des Ver­lan­gens nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG bestätigt auch § 275 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b iVm. Abs. 1a SGB V. Da­nach kann der Ar­beit­ge­ber ver­lan­gen, dass die Kran­ken­kas­se ei­ne gut­ach­ter­li­che Stel­lung­nah­me des me­di­zi­ni­schen Diens­tes zur Über­prüfung der Ar­beits­unfähig­keit ein­holt, al­ler­dings nur „zur Be­sei­ti­gung von Zwei­feln an der Ar­beits­unfähig­keit“. Ei­ne der­ar­ti­ge ein­schränken­de Vor­aus­set­zung fehlt in § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG (vgl. HWK/Schlie­mann 5. Aufl. § 5 EFZG Rn. 36).


b) Die Ausübung des dem Ar­beit­ge­ber nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG ein­geräum­ten Rechts steht im nicht ge­bun­de­nen Er­mes­sen des Ar­beit­ge­bers. Das er­gibt sich aus dem Feh­len von Ausübungs­vor­aus­set­zun­gen in der Norm selbst und wird wie­der­um bestätigt durch die Ent­ste­hungs­ge­schich­te. Soll der Ar­beit­ge­ber „in je­dem Fall“ die Möglich­keit ha­ben, ei­ne Be­schei­ni­gung der Ar­beits­unfähig­keit ab dem ers­ten Tag der Er­kran­kung zu ver­lan­gen (Be-
 


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schluss­emp­feh­lung des Aus­schus­ses für Ar­beit und So­zi­al­ord­nung, BT-Drucks. 12/5798 S. 26; vgl. da­zu auch BAG 25. Ja­nu­ar 2000 - 1 ABR 3/99 - zu B I 2 b dd (2) der Gründe, BA­GE 93, 276; 1. Ok­to­ber 1997 - 5 AZR 726/96 - zu II 2 d der Gründe, BA­GE 86, 357), ver­bie­tet es sich, das Ver­lan­gen des Ar­beit­ge­bers ei­ner Bil­lig­keits­kon­trol­le zu un­ter­wer­fen (so aber HWK/Schlie­mann 5. Aufl. § 5 EFZG Rn. 36; Tre­ber EFZG 2. Aufl. § 5 Rn. 36; Stau­din­ger/Oet­ker BGB Be­ar­bei­tung 2002 § 616 Rn. 316; P. Feicht­in­ger in Feicht­in­ger/Malk­mus 2. Aufl. § 5 EFZG Rn. 43, 45; Vo­gel­sang EFZG Rn. 300; DFL/Vos­sen 5. Aufl. § 5 EFZG Rn. 13; Schoof in Kitt­ner/Zwan­zi­ger/Dei­nert Ar­beits­recht 6. Aufl. § 39 Rn. 236; im Er­geb­nis wie hier ErfK/Dörner/Rein­hard 13. Aufl. § 5 EFZG Rn. 12; Schaub/Linck Ar­beits­rechts-Hand­buch 14. Aufl. § 98 Rn. 121; AnwK-ArbR/Sie­vers 2. Aufl. § 5 EFZG Rn. 27). An­de­ren­falls wäre der Ar­beit­ge­ber für sei­ne Maßnah­me ent­ge­gen § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG ei­nem Be­gründungs­zwang aus­ge­setzt.


c) Ih­re Gren­ze fin­det das Ver­lan­gen nach ei­ner Vor­la­ge der ärzt­li­chen Ar­beits­unfähig­keits­be­schei­ni­gung schon ab dem ers­ten Tag ei­ner Er­kran­kung an den all­ge­mei­nen Schran­ken je­der Rechts­ausübung, ins­be­son­de­re darf das Ver­lan­gen nicht schi­kanös oder willkürlich sein und we­der ge­gen den all­ge­mei­nen Gleich­be­hand­lungs­grund­satz noch ge­gen Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bo­te ver­s­toßen (vgl. Sch­mitt EFZG 7. Aufl. § 5 Rn. 87 mwN).

aa) Die An­wei­sung der Be­klag­ten vom 10. De­zem­ber 2010 er­folg­te nicht oh­ne je­den An­lass. Der en­ge zeit­li­che Zu­sam­men­hang zwi­schen der (noch­ma­li­gen) Ab­leh­nung ei­ner Dienst­rei­se für den 30. No­vem­ber 2010 und der plötz­li­chen Er­kran­kung der Kläge­rin just an die­sem Tag schließt Schi­ka­ne oder Willkür aus, zu­mal die Kläge­rin die nähe­ren Umstände der eintägi­gen Er­kran­kung nicht erläutert hat.


bb) Der Vor­trag der Kläge­rin recht­fer­tigt nicht die An­nah­me, die Be­klag­te ha­be ge­gen den ge­wohn­heits­recht­lich an­er­kann­ten ar­beits­recht­li­chen Gleich­be­hand­lungs­grund­satz, der die sach­frem­de Schlech­ter­stel­lung ein­zel­ner Ar­beit­neh­mer in ver­gleich­ba­rer La­ge ver­bie­tet, ver­s­toßen. Die Kläge­rin hat kei­nen dem ih­ren ver­gleich­ba­ren „Fall“ be­nannt, den die Be­klag­te an­ders als bei der

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Kläge­rin nicht zum An­lass ge­nom­men ha­be, von ih­rem Recht aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG Ge­brauch zu ma­chen. An­halts­punk­te für ei­ne Dis­kri­mi­nie­rung et­wa we­gen ih­res Ge­schlechts oder ih­res Al­ters hat die Kläge­rin nicht vor­ge­bracht.

2. § 9 Abs. 2 MTV schließt das Recht der Be­klag­ten aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG nicht aus.

a) Durch Ta­rif­ver­trag kann zu­guns­ten des Ar­beit­neh­mers ei­ne von § 5 EFZG ab­wei­chen­de Re­ge­lung der An­zei­ge- und Nach­weis­pflich­ten bei Ar­beits­unfähig­keit ge­trof­fen wer­den, § 12 EFZG. Ei­ne sol­che Ab­wei­chung be­darf aber ei­ner kla­ren Re­ge­lung (vgl. BAG 20. Ja­nu­ar 2010 - 5 AZR 53/09 - Rn. 12, BA­GE 133, 101).

b) Die­ser An­for­de­rung genügt § 9 Abs. 2 MTV nicht. 

§ 9 Abs. 2 Satz 1 MTV ent­spricht in der Fas­sung vom 15. Sep­tem­ber 2006 der Ur­sprungs­fas­sung vom 8. Au­gust 1979, die iden­tisch ist mit der Fas­sung vom 15. De­zem­ber 1969, die wie­der­um wört­lich zurück­geht auf § 20 Abs. 1 Satz 1 des Man­tel­ta­rif­ver­trags des Nord­west­deut­schen Rund­funks - dem Rechts­vorgänger der Be­klag­ten - vom 9. Ok­to­ber 1954. Die Re­ge­lung zur Bei­brin­gung ei­nes ärzt­li­chen At­tests be­steht bei der Be­klag­ten mit­hin seit die­sem Zeit­punkt in­halt­lich un­verändert. Hätte durch Ta­rif­ver­trag ei­ne ab­wei­chen­de Re­ge­lung zum Recht des Ar­beit­ge­bers aus dem weit­aus später in Kraft ge­tre­te­nen § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG ge­trof­fen wer­den sol­len, hätten die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en auf die veränder­te Ge­set­zes­la­ge re­agie­ren und ei­ne aus­drück­li­che, das Ver­lan­gen des Ar­beit­ge­bers auf ei­ne frühe­re Vor­la­ge der Ar­beits­unfähig­keits­be­schei­ni­gung aus­sch­ließen­de Re­ge­lung tref­fen müssen. Das bloße „Schwei­gen“ des Ta­rif­ver­trags genügt hierfür nicht.


3. Die Be­klag­te hat sich bei der Ausübung ih­res Rechts aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG nicht durch ei­ne be­trieb­li­che Übung ge­bun­den.
 


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a) Un­ter ei­ner be­trieb­li­chen Übung ist die re­gelmäßige Wie­der­ho­lung be­stimm­ter Ver­hal­tens­wei­sen des Ar­beit­ge­bers zu ver­ste­hen, aus de­nen die Ar­beit­neh­mer schließen können, ih­nen sol­le ei­ne Leis­tung oder ei­ne Vergüns­ti­gung auf Dau­er ein­geräumt wer­den. Aus die­sem als Ver­trags­an­ge­bot zu wer­ten­den Ver­hal­ten des Ar­beit­ge­bers, dass von den Ar­beit­neh­mern in der Re­gel still­schwei­gend an­ge­nom­men wird (§ 151 BGB), er­wach­sen ver­trag­li­che Ansprüche auf die üblich ge­wor­de­nen Leis­tun­gen. Ent­schei­dend für die Ent­ste­hung ei­nes An­spruchs ist nicht der Ver­pflich­tungs­wil­le, son­dern wie der Erklärungs­empfänger die Erklärung über das Ver­hal­ten des Ar­beit­ge­bers nach Treu und Glau­ben un­ter Berück­sich­ti­gung al­ler Be­gleit­umstände (§§ 133, 157 BGB) ver­ste­hen muss­te und durf­te (BAG 17. März 2010 - 5 AZR 317/09 - Rn. 20 mwN, BA­GE 133, 337).


b) Es kann da­hin­ge­stellt blei­ben, ob ei­ne Selbst­be­schränkung des Ar­beit­ge­bers bei der Ausübung des Rechts aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG über­haupt ei­ner be­trieb­li­chen Übung der­ge­stalt zugäng­lich ist, dass sich der Ar­beit­ge­ber auf Dau­er bin­det und den Ar­beit­neh­mern ein An­spruch erwächst, nicht bzw. nur in be­stimm­ten Fall­kon­stel­la­tio­nen ei­ner Ver­pflich­tung nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG un­ter­wor­fen zu wer­den. Denn die für das Be­ste­hen ei­ner ihr güns­ti­gen be­trieb­li­chen Übung dar­le­gungs­pflich­ti­ge Kläge­rin (vgl. zur Dar­le­gungs­last BAG 29. Au­gust 2012 - 10 AZR 571/11 - Rn. 20, NZA 2013, 40) hat kei­ne Mit­tei­lung oder sons­ti­ge Ver­hal­tens­wei­se der Be­klag­ten an bzw. ge­genüber der Be­leg­schaft vor­ge­tra­gen, aus der die Beschäftig­ten nach Treu und Glau­ben schließen durf­ten, die Be­klag­te wol­le von dem Recht aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG nur un­ter be­stimm­ten Vor­aus­set­zun­gen Ge­brauch ma­chen. Aus den vom Be­triebs­arzt der Kläge­rin bei­spiel­haft mit­ge­teil­ten „An­lassfällen“ er­gibt sich ei­ne ent­spre­chen­de Ver­laut­ba­rung der Be­klag­ten an die Be­leg­schaft je­den­falls nicht.



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II. Die Kläge­rin hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kos­ten der Re­vi­si­on zu tra­gen.

Müller-Glöge 

Biebl 

Klo­se 

Feld­mei­er 

Rein­ders

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