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HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

BAG, Ur­teil vom 17.08.2011, 10 AZR 202/10

   
Schlagworte: Weisungsrecht
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 10 AZR 202/10
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 17.08.2011
   
Leitsätze:
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Dresden, Urteil vom 13.01.2009, 9 Ca 2408/08
Sächsisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 12.11.2009, 6 Sa 104/09
   


BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT


10 AZR 202/10
6 Sa 104/09

Säch­si­sches
Lan­des­ar­beits­ge­richt

 

Im Na­men des Vol­kes!

Verkündet am

17. Au­gust 2011

UR­TEIL

Jatz, Ur­kunds­be­am­tin

der Geschäfts­stel­le

In Sa­chen

Be­klag­ter, Be­ru­fungskläger und Re­vi­si­onskläger,

pp.

Kläge­rin, Be­ru­fungs­be­klag­te und Re­vi­si­ons­be­klag­te,

hat der Zehn­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 17. Au­gust 2011 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Prof. Dr. Mi­kosch, die Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Ey­lert und Mest­werdt so­wie den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Si­mon und die eh­ren­amt­li­che Rich­te­rin Alex für Recht er­kannt:
 


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1. Auf die Re­vi­si­on des Be­klag­ten wird das Ur­teil des Säch­si­schen Lan­des­ar­beits­ge­richts vom 12. No­vem­ber 2009 - 6 Sa 104/09 - auf­ge­ho­ben.


2. Die Sa­che wird zur neu­en Ver­hand­lung und Ent­schei­dung, auch über die Kos­ten der Re­vi­si­on, an ei­ne an­de­re Kam­mer des Lan­des­ar­beits­ge­richts zurück­ver­wie­sen.

Von Rechts we­gen!

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über die Wirk­sam­keit ei­ner Ver­set­zung. Die 1965 ge­bo­re­ne und ver­hei­ra­te­te Kläge­rin ist seit dem 1. Ju­ni 1993 2
als voll­zeit­beschäftig­te An­ge­stell­te für den be­klag­ten Frei­staat ge­gen ein Brut­to­mo­nats­ent­gelt von zu­letzt 3.542,86 Eu­ro tätig. Nach § 2 des Ar­beits­ver­trags be­stimmt sich das Ar­beits­verhält­nis nach dem Ta­rif­ver­trag zur An­pas­sung des Ta­rif­rechts - Man­tel­ta­rif­li­che Vor­schrif­ten - (BAT-O) vom 10. De­zem­ber 1990 und den die­sen ergänzen­den, ändern­den oder er­set­zen­den Ta­rif­verträgen in der für den Be­reich der Ta­rif­ge­mein­schaft deut­scher Länder je­weils gel­ten­den Fas­sung.


Die Kläge­rin ist zuständig für die Er­tei­lung von Be­triebs­er­laub­nis­sen für Kin­der­ta­gesstätten gemäß § 45 SGB VIII. Ih­re Stel­le ist im Säch­si­schen Lan­des­ju­gend­amt an­ge­sie­delt. Im Ein­stel­lungs­schrei­ben vom 10. Mai 1993 wur­de der Kläge­rin ein Ar­beits­platz in der Zweig­stel­le D zu­ge­wie­sen. Sie be­treu­te bis zum 31. Ju­li 2008 den N-Kreis, den Kreis Baut­zen und 1/3 des Stadt­ge­biets der Stadt D. Seit dem 1. Au­gust 2008 ist die Kläge­rin für den neu­en Kreis B und wei­ter­hin für ei­nen Teil der Stadt D zuständig. Im Durch­schnitt an ei­nem Ar­beits­tag pro Wo­che prüft sie die Ein­rich­tun­gen vor Ort.
 


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Die Kläge­rin ist mit ih­rem in der Wer­be­bran­che selbstständig täti­gen Ehe­mann Ei­gentüme­rin ei­nes kre­dit­be­las­te­ten Wohn- und Geschäfts­hau­ses in D. Kin­der le­ben nicht mehr im ehe­li­chen Haus­halt.

Im Zu­ge der Ver­wal­tungs­re­form durch das Säch­si­sche Ver­wal­tungs­neu­ord­nungs­ge­setz vom 29. Ja­nu­ar 2008 wur­de das Säch­si­sche Lan­des­amt für Fa­mi­lie und So­zia­les, dem die Zweig­stel­le D des Säch­si­schen Lan­des­ju­gend­amts zu­ge­ord­net war, auf­gelöst. Das nun­mehr zuständi­ge Säch­si­sche Staats­mi­nis­te­ri­um für So­zia­les be­schloss, die Ver­wal­tung des Säch­si­schen Lan­des­ju­gend­amts in C zu kon­zen­trie­ren und die Zweig­stel­len in D und L auf­zulösen.


Nach Anhörung der Kläge­rin und Zu­stim­mung des Haupt­per­so­nal­rats wur­de die Kläge­rin mit Schrei­ben vom 14. Ju­li 2008 zum 1. Au­gust 2008 an das Säch­si­sche Lan­des­ju­gend­amt mit Dienst­sitz in C ver­setzt. Der ein­fa­che Ar­beits­weg von der Woh­nung der Kläge­rin in D zur Ar­beits­stel­le in C nimmt bei Nut­zung öffent­li­cher Ver­kehrs­mit­tel zwi­schen 1 St­un­de 45 Mi­nu­ten und 2 St­un­den 12 Mi­nu­ten in An­spruch. Orts­ter­mi­ne kann die Kläge­rin nach wie vor von D aus wahr­neh­men.


Die Kläge­rin hat die Auf­fas­sung ver­tre­ten, ihr Ar­beits­verhält­nis ha­be sich auf ei­ne Tätig­keit in D kon­zen­triert. Ein Um­zug nach C sei we­gen der selbstständi­gen Be­rufstätig­keit des Ehe­manns und des er­wor­be­nen Wohn- und Geschäfts­hau­ses aus­ge­schlos­sen. Sie könne ent­we­der in ei­nem Büro in D un­ter Bei­be­hal­tung ih­rer bis­he­ri­gen Tätig­keit oder nach Ver­set­zung in ei­ne an­de­re Dienst­stel­le in D wei­ter­beschäftigt wer­den.


Die Kläge­rin hat be­an­tragt


fest­zu­stel­len, dass sie nicht ver­pflich­tet ist, der Ver­set­zungs­an­ord­nung vom 14. Ju­li 2008 Fol­ge zu leis­ten und ih­re Ar­beits­kraft in C an­zu­bie­ten.


Der Be­klag­te hat be­an­tragt, die Kla­ge ab­zu­wei­sen, und die Auf­fas­sung ver­tre­ten, ei­ne wei­te­re Beschäfti­gung der Kläge­rin in D sei nicht möglich, weil de­ren Ar­beits­auf­ga­ben dort nicht mehr an­ge­sie­delt sei­en. Das Säch­si­sche

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Lan­des­ju­gend­amt sei in C zu­sam­men­geführt wor­den, um den fach­li­chen Aus-tausch zwi­schen den Mit­ar­bei­tern zu ver­bes­sern und Kon­takt- und In­for­ma­ti­ons­ver­lus­te aus­zu­sch­ließen. Al­le Mit­ar­bei­ter der ehe­ma­li­gen Zweig­stel­len sei­en nach C ver­setzt wor­den. Die­se Ver­set­zung sei der Kläge­rin zu­zu­mu­ten.


Die Vor­in­stan­zen ha­ben der Kla­ge statt­ge­ge­ben. Mit der vom Se­nat zu­ge­las­se­nen Re­vi­si­on be­gehrt der Be­klag­te wei­ter­hin die Ab­wei­sung der Kla­ge.

 

Ent­schei­dungs­gründe

Die Re­vi­si­on ist be­gründet. Mit der Be­gründung des Lan­des­ar­beits­ge­richts, die Ver­set­zung sei rechts­un­wirk­sam, weil der Zeit­auf­wand bei Nut­zung öffent­li­cher Ver­kehrs­mit­tel die Zeit­gren­zen des § 121 SGB III über­schrei­te, kann die Be­ru­fung des Be­klag­ten nicht zurück­ge­wie­sen wer­den. Der Se­nat kann man­gels aus­rei­chen­der Fest­stel­lun­gen nicht ab­sch­ließend über die Wirk­sam­keit der Ver­set­zung ent­schei­den. Die Re­vi­si­on führt da­her zur Auf­he­bung des an­ge­foch­te­nen Ur­teils und zur Zurück­ver­wei­sung der Sa­che an das Be­ru­fungs­ge­richt (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).


I. Die Kla­ge ist zulässig. 

Der An­trag be­darf der Aus­le­gung. Er ist dem Wort­laut nach auf Fest­stel­lung ge­rich­tet, dass die Kläge­rin der Ver­set­zungs­an­ord­nung vom 14. Ju­li 2008 kei­ne Fol­ge zu leis­ten und ih­re Ar­beits­kraft nicht in C an­zu­bie­ten hat. Der Sa­che nach be­gehrt die Kläge­rin die Fest­stel­lung, dass die Ver­set­zung rechts¬un­wirk­sam ist. Mit die­sem In­halt ist die Kla­ge als Fest­stel­lungs­kla­ge nach § 256 Abs. 1 ZPO zulässig. Bei ei­nem Streit über die Be­rech­ti­gung ei­ner Ver­set­zung kann der Ar­beit­neh­mer die­se im Rah­men ei­ner Fest­stel­lungs­kla­ge klären las­sen (st. Rspr., zB BAG 25. Au­gust 2010 - 10 AZR 275/09 - Rn. 12, AP Ge­wO § 106 Nr. 11 = EzA BGB 2002 § 307 Nr. 49).
 


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II. Die Kla­ge könn­te un­be­gründet sein. 


Nach § 106 Satz 1 Ge­wO kann der Ar­beit­ge­ber In­halt, Ort und Zeit der Ar­beits­leis­tung nach bil­li­gem Er­mes­sen näher be­stim­men, so­weit die­se Ar­beits­be­din­gun­gen nicht durch den Ar­beits­ver­trag, Be­stim­mun­gen ei­ner Be­triebs­ver­ein­ba­rung, ei­nes an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trags oder ge­setz­li­che Vor­schrif­ten fest­ge­legt sind.

1. Die Par­tei­en ha­ben den Ar­beits­ort D ver­trag­lich nicht fest­ge­legt. 


a) Der schrift­li­che Ar­beits­ver­trag vom 21. April 1993, des­sen äußeres Er­schei­nungs­bild ei­ne tatsächli­che Ver­mu­tung für das Vor­lie­gen von All­ge­mei­nen Geschäfts­be­din­gun­gen be­gründet (vgl. BAG 9. Ju­ni 2010 - 5 AZR 498/09 - Rn. 14, AP TVG § 1 Be­zug­nah­me auf Ta­rif­ver­trag Nr. 82), enthält kei­ne Fest­le­gung des Ar­beits­orts, son­dern nur den im öffent­li­chen Dienst übli­chen Ver­weis auf die gel­ten­den Ta­rif­verträge (zur Aus­le­gung von All­ge­mei­nen Geschäfts­be­din­gun­gen im Hin­blick auf ei­nen ver­trag­lich ver­ein­bar­ten Tätig­keits­ort: BAG 19. Ja­nu­ar 2011 - 10 AZR 738/09 - Rn. 12, AP BGB § 307 Nr. 50 = EzA Ge­wO § 106 Nr. 7; 25. Au­gust 2010 - 10 AZR 275/09 - Rn. 18, AP Ge­wO § 106 Nr. 11 = EzA BGB 2002 § 307 Nr. 49). Auch dem Ein­stel­lungs­schrei­ben vom 10. Mai 1993 ist ein An­ge­bot auf Fest­le­gung des Ar­beits­orts D nicht zu ent­neh­men; mit die­sem Schrei­ben hat der Be­klag­te le­dig­lich sein Di­rek­ti­ons­recht aus­geübt und der Kläge­rin den dor­ti­gen Ar­beits­platz zu­ge­wie­sen.


b) Der Ar­beits­ver­trag hat sich im Hin­blick auf den Ar­beits­ort nicht da­durch auf D kon­kre­ti­siert, dass die Kläge­rin seit ih­rer Ein­stel­lung bis zur Ver­set­zung nach C über 15 Jah­re dort tätig ge­we­sen ist. Ei­ne den Ar­beits­ver­trag abändern­de Ver­ein­ba­rung ha­ben die Par­tei­en nicht ge­trof­fen.


aa) Es ist nicht grundsätz­lich aus­ge­schlos­sen, dass Ar­beits­pflich­ten sich nach länge­rer Zeit auf be­stimm­te Ar­beits­be­din­gun­gen kon­kre­ti­sie­ren (vgl. BAG 13. März 2007 - 9 AZR 433/06 - Rn. 50, AP BGB § 307 Nr. 26; 3. Ju­ni 2004 - 2 AZR 577/03 - zu C II 2 b der Gründe, AP Be­trVG 1972 § 102 Nr. 141 = EzA
 


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KSchG § 1 So­zia­le Aus­wahl Nr. 55). Die Nicht­ausübung des Di­rek­ti­ons­rechts über ei­nen länge­ren Zeit­raum schafft re­gelmäßig aber kei­nen Ver­trau­en­stat­be­stand, dass der Ar­beit­ge­ber von die­sem ver­trag­lich und/oder ge­setz­lich ein­geräum­ten Recht kei­nen Ge­brauch mehr ma­chen will. Die Nicht­ausübung des Di­rek­ti­ons­rechts hat kei­nen Erklärungs­wert. Nur beim Hin­zu­tre­ten be­son­de­rer Umstände, auf­grund de­rer der Ar­beit­neh­mer dar­auf ver­trau­en darf, dass er nicht in an­de­rer Wei­se ein­ge­setzt wer­den soll, kann es durch kon­klu­den­tes Ver­hal­ten zu ei­ner ver­trag­li­chen Be­schränkung der Ausübung des Di­rek­ti­ons­rechts kom­men (vgl. BAG 13. März 2007 - 9 AZR 433/06 - Rn. 50, aaO; 11. April 2006 - 9 AZR 557/05 - Rn. 47, BA­GE 118, 22).

bb) Sol­che Umstände hat die Kläge­rin nicht vor­ge­tra­gen. Dass sie sich auf ei­ne aus­ge­schrie­be­ne Stel­le in D be­wor­ben und ihr die­ser Ar­beits­platz zu­ge­wie­sen wur­de, konn­te für sich ge­nom­men kei­nen Ver­trau­en­stat­be­stand be­gründen und kei­ne Kon­kre­ti­sie­rung der Ar­beits­pflicht auf die­sen Ar­beits­ort be­wir­ken.


2. Die Zu­wei­sung des Ar­beits­orts C mit Schrei­ben vom 14. Ju­li 2008 könn­te bil­li­gem Er­mes­sen iSv. § 106 Satz 1 Ge­wO, § 315 BGB ent­spre­chen. So­weit das Lan­des­ar­beits­ge­richt we­gen der Über­schrei­tung der in § 121 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 SGB III fest­ge­leg­ten Gren­zen für zu­mut­ba­re Pen­del­zei­ten die Ver­set­zung für er­mes­sens­feh­ler­haft er­ach­tet hat, hat es den Re­ge­lungs­ge­halt der Norm ver­kannt.


a) Die Leis­tungs­be­stim­mung nach bil­li­gem Er­mes­sen ver­langt ei­ne Abwägung der wech­sel­sei­ti­gen In­ter­es­sen nach ver­fas­sungs­recht­li­chen und ge­setz­li­chen Wer­tent­schei­dun­gen, all­ge­mei­nen Wer­tungs­grundsätzen der Verhält­nismäßig­keit und An­ge­mes­sen­heit so­wie der Ver­kehrs­sit­te und Zu­mut­bar­keit. In die Abwägung sind al­le Umstände des Ein­zel­falls ein­zu­be­zie­hen. Hier­zu gehören die Vor­tei­le aus ei­ner Re­ge­lung, die Ri­si­ko­ver­tei­lung zwi­schen den Ver­trags­par­tei­en, die bei­der­sei­ti­gen Bedürf­nis­se, außer­ver­trag­li­che Vor- und Nach­tei­le, Vermögens- und Ein­kom­mens­verhält­nis­se so­wie so­zia­le Le­bens­verhält­nis­se, wie fa­mi­liäre Pflich­ten und Un­ter­halts­ver­pflich­tun­gen (BAG 13. April
 


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2010 - 9 AZR 36/09 - Rn. 40, AP BGB § 307 Nr. 45 = EzA BGB 2002 § 307 Nr. 47; 21. Ju­li 2009 - 9 AZR 404/08 - Rn. 22, EzA TVG § 4 Luft­fahrt Nr. 18; be­reits auch: 28. No­vem­ber 1989 - 3 AZR 118/88 - zu II 1 a der Gründe, BA­GE 63, 267). Ei­ne so­zia­le Aus­wahl wie im Fal­le des § 1 Abs. 3 KSchG fin­det ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Kläge­rin nicht statt.


b) Es un­ter­liegt der ge­richt­li­chen Kon­trol­le, ob die Ent­schei­dung des Ar­beit­ge­bers der Bil­lig­keit ent­spricht, § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB. Ob die Ent­schei­dung des Be­ru­fungs­ge­richts we­gen der zu berück­sich­ti­gen­den Umstände des Ein­zel­falls nur ein­ge­schränkt durch das Re­vi­si­ons­ge­richt über­prüft wer­den kann (vgl. zB BAG 15. Sep­tem­ber 2009 - 9 AZR 643/08 - Rn. 29, AP TVG § 1 Al­ters­teil­zeit Nr. 44 = EzA TVG § 4 Al­ters­teil­zeit Nr. 31; aA zB 24. April 1996 - 5 AZR 1031/94 - Rn. 11, AP BGB § 611 Di­rek­ti­ons­recht Nr. 48 = EzA BGB § 611 Di­rek­ti­ons­recht Nr. 18; vgl. GMP/Müller-Glöge ArbGG 7. Aufl. § 73 Rn. 10), be­darf kei­ner Ent­schei­dung. Die Ent­schei­dung des Lan­des­ar­beits­ge­richts hält be­reits ei­ner ein­ge­schränk­ten Über­prüfung nicht stand.

aa) Nach § 121 Abs. 4 Satz 1 SGB III ist ei­nem Ar­beits­lo­sen aus per­so­nen­be­zo­ge­nen Gründen ei­ne Beschäfti­gung nicht zu­mut­bar, wenn die tägli­chen Pen­del­zei­ten zwi­schen sei­ner Woh­nung und der Ar­beitsstätte im Ver­gleich zur Ar­beits­zeit un­verhält­nismäßig lang sind. Als un­verhält­nismäßig lang sind nach § 121 Abs. 4 Satz 2 SGB III im Re­gel­fall Pen­del­zei­ten von ins­ge­samt mehr als zwei­ein­halb St­un­den bei ei­ner Ar­beits­zeit von mehr als sechs St­un­den und Pen­del­zei­ten von mehr als zwei St­un­den bei ei­ner Ar­beits­zeit von sechs St­un­den und we­ni­ger an­zu­se­hen.


bb) Ent­ge­gen ei­ner in der Recht­spre­chung ver­tre­te­nen Auf­fas­sung (LAG Hamm 24. Mai 2007 - 8 Sa 51/07 - NZA-RR 2008, 175; LAG Rhein­land-Pfalz 9. De­zem­ber 2004 - 6 Sa 326/04 -) kann aus den so­zi­al­recht­li­chen Re­geln über die Zu­mut­bar­keit ei­ner Beschäfti­gung kein be­last­ba­rer Maßstab für die ar­beits-recht­li­che Be­ur­tei­lung des Er­mes­sens­ge­brauchs nach § 106 Satz 1 Ge­wO, § 315 BGB bei ei­ner Ver­set­zung ab­ge­lei­tet wer­den. Dies zeigt be­reits die
 


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Re­ge­lungs­sys­te­ma­tik der Norm, weil nach § 121 Abs. 4 Satz 4 und Satz 5 SGB III bei nicht nur kurz­fris­ti­ger Ar­beits­lo­sig­keit so­gar ein Um­zug zur Auf­nah­me ei­ner Beschäfti­gung außer­halb des zu­mut­ba­ren Pen­del­be­reichs zu­mut­bar ist. Auch der Re­ge­lungs­ge­halt der Norm steht ei­ner Her­an­zie­hung der dort fest­ge­leg­ten Zu­mut­bar­keits­gren­zen im Rah­men der Er­mes­sens­kon­trol­le ent­ge­gen. Die Norm be­stimmt das Rechts­verhält­nis zwi­schen dem Ar­beits­lo­sen und der Ar­beits­ver­wal­tung. Sie dient der Bekämp­fung von Leis­tungs­miss­brauch und der Erhöhung der Ver­ant­wor­tung des Ar­beits­lo­sen für die Be­en­di­gung der Ar­beits­lo­sig­keit (BT-Drucks. 13/4941 S. 238 und 13/5676 S. 2). Die Ver­sa­gung des Ar­beits­lo­sen­gelds bei Ab­leh­nung ei­ner zu­mut­ba­ren Beschäfti­gung ist ei­ne öffent­lich-recht­li­che Sank­ti­on für man­geln­de ei­ge­ne Leis­tungs­be­reit­schaft des Leis­tungs­empfängers bei Be­zug ei­ner so­zi­al­ver­si­che­rungs­recht­li­chen Leis­tung (BAG 6. No­vem­ber 2007 - 1 AZR 960/06 - Rn. 25, BA­GE 124, 335).


cc) Da­mit ist we­der ei­ne Über­tra­gung der in § 121 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 SGB III ent­hal­te­nen Wer­tun­gen auf die Ge­stal­tung von So­zi­alplänen (vgl. BAG 6. No­vem­ber 2007 - 1 AZR 960/06 - Rn. 25, BA­GE 124, 335) noch auf die Ausübung bil­li­gen Er­mes­sens nach § 106 Satz 1 Ge­wO, § 315 BGB möglich. Re­ge­lungs­ziel der ge­setz­li­chen Vor­schrif­ten über die Ausübung bil­li­gen Er­mes­sens ist es, im Ein­zel­fall ei­ne Ent­schei­dung her­bei­zuführen, die den wech­sel­sei­ti­gen In­ter­es­sen der Ar­beits­ver­trags­par­tei­en an­ge­mes­sen Rech­nung trägt. Dies setzt ei­ne in­di­vi­du­el­le Abwägung al­ler be­trof­fe­nen In­ter­es­sen vor­aus und schließt ei­ne star­re An­wen­dung so­zi­al­recht­li­cher Zu­mut­bar­keits­re­geln aus. Das be­rech­tig­te In­ter­es­se des Ar­beit­neh­mers an kur­zen Pen­del­zei­ten und ge­rin­gem fi­nan­zi­el­len Auf­wand ist im Rah­men der Abwägung ein we­sent­li­ches Kri­te­ri­um. Ob die­se In­ter­es­sen an­ge­mes­sen berück­sich­tigt wur­den, kann nur durch Abwägung mit den dienst­li­chen Gründen des Ar­beit­ge­bers er­mit­telt wer­den, die zu der Ausübung des Di­rek­ti­ons­rechts geführt ha­ben. Bei wich­ti­gen dienst­li­chen Gründen können länge­re Pen­del­zei­ten zu­mut­bar, bei Gründen von ge­rin­ge­rem Ge­wicht aber be­reits kürze­re Pen­del­zei­ten un­zu­mut­bar sein. Fes­te Gren­zen las­sen sich nicht de­fi­nie­ren. § 121 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 SGB III ent­hal­ten
 


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kei­nen be­last­ba­ren Maßstab für die Kon­trol­le des Er­mes­sens­ge­brauchs. Die Ent­schei­dung des Lan­des­ar­beits­ge­richts ist des­halb auf­zu­he­ben.


3. Der Se­nat kann in der Sa­che nicht selbst ent­schei­den (§ 563 Abs. 3 ZPO). Zwar ist ei­ne ab­sch­ließen­de Ent­schei­dung des Re­vi­si­ons­ge­richts dann ge­bo­ten, wenn die maßgeb­li­chen Tat­sa­chen fest­ste­hen und nur ei­ne be­stimm­te Ent­schei­dung dem Maßstab der Bil­lig­keit ent­spricht (BAG 13. April 2010 - 9 AZR 36/09 - Rn. 39, AP BGB § 307 Nr. 45 = EzA BGB 2002 § 307 Nr. 47; 15. Sep­tem­ber 2009 - 9 AZR 643/08 - Rn. 29 mwN, AP TVG § 1 Al­ters­teil­zeit Nr. 44 = EzA TVG § 4 Al­ters­teil­zeit Nr. 31). Dies ist vor­lie­gend je­doch nicht der Fall. Es fehlt an Fest­stel­lun­gen im Hin­blick auf das Be­ste­hen oder Nicht­be­ste­hen al­ter­na­ti­ver Beschäfti­gungsmöglich­kei­ten in D; das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat auch kei­ne um­fas­sen­de Abwägung der wech­sel­sei­ti­gen In­ter­es­sen vor­ge­nom­men. Dies wird nach­zu­ho­len sein.


a) Zu berück­sich­ti­gen ist, dass die Zweig­stel­le des Säch­si­schen Lan­des­ju­gend­amts in D auf­gelöst wur­de und die dor­ti­gen Ar­beits­auf­ga­ben nun­mehr in C an­ge­sie­delt sind. Wer­den im Zu­ge ei­ner Ver­wal­tungs­re­form Ar­beits­auf­ga­ben ver­la­gert, be­steht re­gelmäßig ein be­rech­tig­tes In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers, die­se Auf­ga­ben am neu­en Ar­beits­ort wei­ter von dem dafür qua­li­fi­zier­ten und ein­ge­ar­bei­te­ten Per­so­nal wahr­neh­men zu las­sen (vgl. in­so­weit zum Per­so­nalüber­gang nach Ver­la­ge­rung der Auf­ga­ben auf ei­nen an­de­ren Träger: BAG 14. Ju­li 2010 - 10 AZR 182/09 - Rn. 56 f., AP GG Art. 12 Nr. 143). Dies gilt be­son­ders dann, wenn qua­li­fi­zier­te Tätig­kei­ten ver­la­gert wer­den. Durch die Ver­set­zung des Per­so­nals kann die kon­ti­nu­ier­li­che und sach­ge­rech­te Auf­ga­ben­erfüllung si­cher­ge­stellt wer­den.


b) Ge­genüber die­sem In­ter­es­se des Be­klag­ten an der Ver­set­zung der Kläge­rin nach C könn­te das In­ter­es­se der Kläge­rin an der Bei­be­hal­tung ih­res Ar­beits­plat­zes in D zurück­zu­tre­ten ha­ben.
 


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aa) Die Kläge­rin muss kei­ne el­ter­li­che Sor­ge ge­genüber min­derjähri­gen Kin­dern mehr aus­zuüben. Dass sie Mit­ei­gentüme­rin ei­nes kre­dit­be­las­te­ten Hau­ses und der Ehe­mann be­ruf­lich an den Wohn­ort D ge­bun­den ist, steht ei­ner Ver­set­zung nach C nicht ent­ge­gen. Die Kläge­rin muss bei ei­nem Wech­sel des Ar­beits­plat­zes ih­ren Wohn­ort nicht ändern. Dass sie aus fi­nan­zi­el­len Gründen zu ei­nem Not­ver­kauf des Hau­ses ge­zwun­gen ist, ist nicht er­kenn­bar.

bb) Der gel­tend ge­mach­te zeit­li­che Auf­wand ist in­di­vi­du­ell be­ein­fluss­bar. Die Kläge­rin kann öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel nut­zen oder mit ei­nem ei­ge­nen Pkw zum neu­en Dienst­ort fah­ren, wo­durch der Zeit­auf­wand sich beträcht­lich re­du­ziert. Ob der Nut­zung ei­nes Pkws ge­sund­heit­li­che Gründe ent­ge­gen­ste­hen, muss ggf. ge­prüft wer­den. Mögli­chen fi­nan­zi­el­len Mehr­be­las­tun­gen der Kläge­rin wird teil­wei­se da­durch Rech­nung ge­tra­gen, dass sie ih­re Ar­beits­leis­tun­gen zum Teil nach wie vor von ih­rem Wohn­ort aus er­brin­gen kann.

cc) Nicht fest­ge­stellt ist, ob es zum Zeit­punkt der Ver­set­zung für die Kläge­rin al­ter­na­ti­ve Beschäfti­gungsmöglich­kei­ten in D gab. Der Be­klag­te war zwar nicht ver­pflich­tet, von sich aus nach al­ter­na­ti­ven Ar­beitsplätzen für die Kläge­rin in D zu su­chen, weil re­gelmäßig zunächst ein be­rech­tig­tes In­ter­es­se be­steht, be­son­ders qua­li­fi­zier­te Auf­ga­ben wei­ter von den ein­ge­ar­bei­te­ten Ar­beits­kräften wahr­neh­men zu las­sen. Macht ein Ar­beit­neh­mer al­ler­dings gel­tend, es ge­be kon­kre­te al­ter­na­ti­ve Beschäfti­gungsmöglich­kei­ten, ist der Ar­beit­ge­ber ver­pflich­tet, die­se zu prüfen und im Rah­men der Ausübung des bil­li­gen Er­mes­sens ggf. in die Abwägung der wech­sel­sei­ti­gen In­ter­es­sen mit ein­zu­be­zie­hen. So­weit die Kläge­rin sich al­ler­dings in die­sem Zu­sam­men­hang bis­her auf die Ver­set­zung ei­ner Ar­beit­neh­me­rin von C nach D im März 2008 be­ru­fen hat, wäre die­ser Ar­beits­platz in D nicht in die Abwägung ein­zu­be­zie­hen, wenn er ta­rif­lich nied­ri­ger be­wer­tet war und die Kläge­rin dort­hin nicht durch Ausübung des Di­rek­ti­ons­rechts ver­setzt wer­den konn­te.
 


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III. Ab­sch­ließen­de, durch das Ver­fah­ren nicht ver­an­lass­te Erwägun­gen des Lan­des­ar­beits­ge­richts las­sen es ge­bo­ten er­schei­nen, von der Möglich­keit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Ge­brauch zu ma­chen und den Rechts­streit an ei­ne an­de­re Kam­mer zurück­zu­ver­wei­sen.

Mi­kosch 

Ey­lert 

Mest­werdt

Si­mon 

Alex

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