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ARBEITSRECHT AKTUELL // 22/004

Wer Ur­laub nimmt, soll­te kei­ne fi­nan­zi­el­len Nach­tei­le er­lei­den

Die In­an­spruch­nah­me von Ur­laub darf nicht zum Ver­lust von Über­stun­den­zu­schlä­gen füh­ren: Eu­ro­päi­scher Ge­richts­hof, Ur­teil vom 13.01.2022, C-514/20
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18.01.2022. Ta­rif­li­che und ar­beits­ver­trag­li­che Re­ge­lun­gen se­hen oft vor, dass es für Über­stun­den Zu­schlä­ge gibt. Be­zahlt wird dann nicht die nur der üb­li­che St­un­den­lohn für die zu­sätz­lich ge­leis­te­ten Mehr­ar­beits­stun­den, son­dern ein Auf­geld.

Se­hen die ar­beits- oder ta­rif­ver­trag­li­chen Vor­schrif­ten zu den Über­stun­den­zu­schlä­gen vor, dass ei­ne be­stimm­te Min­dest-St­un­den­zahl pro Tag, Wo­che oder Mo­nat Vor­aus­set­zung für die Zu­schlä­ge ist, wirkt sich das zu­las­ten von Teil­zeit­kräf­ten aus. Denn wenn sie Über­stun­den leis­ten, op­fern sie auch ih­re Frei­zeit, doch er­rei­chen sie nicht die für die Zu­schlags­be­rech­ti­gung fest­ge­leg­te Min­dest­stun­den­zahl. Sol­che Re­ge­lun­gen sind in den letz­ten Jah­ren zu­neh­mend in der Kri­tik, da sie mit­tel­bar auch den Ef­fekt ha­ben, Frau­en zu be­nach­tei­li­gen, denn Teil­zeit­ar­beit wird nach wie vor über­wie­gend von Frau­en ver­rich­tet.

Ta­rif­lich fest­ge­leg­te ho­he Min­dest­ar­beits­stun­den für den An­spruch auf Über­stun­den­zu­schlä­ge kön­nen aber auch in ei­ner an­de­ren Wei­se zu recht­lich frag­wür­di­gen Sei­ten­ef­fek­ten füh­ren. Um sol­che Ne­ben­fol­gen ging es in ei­nem Fall, den das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) im Ju­ni 2020 dem Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hof (EuGH) vor­ge­legt hat und zu dem der EuGH vor ei­ner Wo­che Stel­lung ge­nom­men hat: EuGH, Ur­teil vom 13.01.2022, C-514/20.

Über­stun­den­zu­schläge auf der Grund­la­ge des Man­tel­ta­rif­ver­trags für die Zeit­ar­beit, vom 17.09.2013

Der Man­tel­ta­rif­ver­trag für die Zeit­ar­beit, den der In­ter­es­sen­ver­band Deut­scher Zeit­ar­beits­un­ter­neh­men (iGZ e.V.) mit ver­schie­de­nen Mit­glieds­ge­werk­schaf­ten des DGB am 17.09.2013 ver­ein­bart hat­te (MTV Zeit­ar­beit 2013), sieht die Zah­lung von Über­stun­den­zu­schlägen vor.

Vor­aus­set­zung ist al­ler­dings, dass Zeit­ar­beit­neh­mer lan­ge mo­nat­li­che Ar­beits­zei­ten vor­wei­sen können. Sehr lan­ge mo­nat­li­che Ar­beits­zei­ten.

Denn gemäß § 4.1.2. MTV Zeit­ar­beit 2013 wer­den Mehr­ar­beits­zu­schläge von 25 Pro­zent u.a. für Ar­beits­zei­ten ge­zahlt, die in Mo­na­ten mit 23 Ar­beits­ta­gen über 184 „ge­leis­te­te St­un­den“ hin­aus­ge­hen. Dem­ent­spre­chend gibt es die­se Zu­schläge nur in "lan­gen" Ka­len­der­mo­na­ten mit 23 Ar­beits­ta­gen, und sie wer­den außer­dem nur dann be­zahlt, wenn der Ar­beit­neh­mer in die­se "lan­gen" Mo­na­ten über 184 St­un­den ge­ar­bei­tet hat, d.h. mehr als rech­ne­risch nur acht St­un­den pro Tag.

Frag­lich ist hier­bei al­ler­dings, wel­che Fol­gen es hat, wenn ein Ar­beit­neh­mer während ei­nes "lan­gen" Ka­len­der­mo­nats, z.B. in ei­nem Ju­li oder ei­nem Au­gust, für ei­ni­ge Ta­ge be­zahl­ten Ur­laub in An­spruch nimmt. Wer­den die Ur­laubs­ta­ge bzw. die auf die Ur­laubs­ta­ge ent­fal­len­den Ur­laubs­stun­den nicht zu den ta­rif­lich er­for­der­li­chen Min­dest­stun­den hin­zu­gezählt, die Vor­aus­set­zung für die Mehr­ar­beits­zu­schläge sind, be­kommt der Ar­beit­neh­mer auch dann kei­ne Zu­schläge, wenn er in dem Mo­nat tatsächlich Über­stun­den ge­leis­tet hat.

Das wie­der­um führt zu ei­ner mit­tel­ba­ren fi­nan­zi­el­len Be­nach­tei­li­gung in­fol­ge der In­an­spruch­nah­me von Ur­laub. Wer "lan­gen" Ka­len­der­mo­na­ten Ur­laub macht, wird durch den Weg­fall der Mehr­ar­beits­zu­schläge be­straft. Das könn­te ge­gen Art.7 Abs.1 der Richt­li­nie 2003/88/EG (Ar­beits­zeit­richt­li­nie) ver­s­toßen, denn die­se Vor­schrift ga­ran­tiert al­len Ar­beit­neh­mern in den Mit­glieds­staa­ten der Eu­ropäischen Uni­on ei­nen vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laub. Und der EuGH hat in sei­ner Recht­spre­chung zu die­ser Vor­schrift im­mer wie­der be­tont, dass Ar­beit­neh­mer durch fi­nan­zi­el­le Nach­tei­le nicht da­zu mo­ti­viert wer­den dürfen, auf ih­ren Ur­laub zu ver­zich­ten.

Der Dort­mun­der Streit­fall: Über­stun­den­zu­schläge ei­nes Leih­ar­beit­neh­mers für Au­gust 2017 - auch bei zehn Ur­laubs­ta­gen?

Ein Leih­ar­beit­neh­mer hat­te sei­nen Ar­beit­ge­ber, ein Zeit­ar­beits­un­ter­neh­men, auf Zah­lung von Über­stun­den­zu­schlägen für Au­gust 2017 ver­klagt. Grund­la­ge sei­ner Kla­ge­for­de­rung war § 4.1.2. MTV Zeit­ar­beit 2013, denn im Au­gust 2017 fie­len 23 Ar­beits­ta­ge an. Da­her be­stand die Möglich­keit, Über­stun­den­zu­schläge zu ver­die­nen, vor­aus­ge­setzt, man könn­te im Au­gust 2017 mehr als 184 „ge­leis­te­te St­un­den“ vor­wei­sen.

Auf die­sem Stand­punkt stand der Kläger, denn er hat­te im strei­ti­gen Au­gust 2017 im­mer­hin 121,75 St­un­den ge­ar­bei­tet und außer­dem zehn Ta­ge Ur­laub ge­nom­men, wo­bei der Ar­beit­ge­ber die Ur­laubs­ta­ge mit 84,70 St­un­den be­rech­ne­te. Der Kläger rech­ne­te sei­ne 121,75 Ar­beits­stun­den mit den 84,70 Ur­laubs­stun­den zu­sam­men und kam auf 206,45 St­un­den, d.h. auf ei­ne St­un­den­zahl, die um 26,45 St­un­den über der ta­rif­li­chen Gren­ze von min­des­tens 184 Mo­nats­stun­den lag. Für die­se 26,45 St­un­den ver­lang­te er den ta­rif­li­chen Mehr­ar­beits­zu­schlag.

Das Ar­beits­ge­richt Dort­mund wies sei­ne Kla­ge ab (Ur­teil vom 14.02.2018, 10 Ca 4180/17), und auch vor dem Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Hamm hat­te der Leih­ar­beit­neh­mer kein Glück, denn das LAG wies sei­ne Be­ru­fung zurück (LAG Hamm, Ur­teil vom 14.12.2018, 13 Sa 589/18). Bei­de Ge­rich­te mein­ten nämlich, dass un­ter „ge­leis­te­te St­un­den“ im Sin­ne der Ta­rif­re­ge­lung nur die ef­fek­tiv ge­ar­bei­te­ten St­un­den zu ver­ste­hen wären. Und das wa­ren eben un­strei­tig nur 121,75 St­un­den.

Sch­ließlich lan­de­te der Fall beim Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG), das eben­falls der An­sicht war, dass der MTV 2013 nicht im Sin­ne des Klägers aus­zu­le­gen sei. Al­ler­dings hat­te das BAG Zwei­fel an der Ver­ein­bar­keit ei­ner sol­chen Ta­rif­aus­le­gung mit Art.7 Abs.1 der Ar­beits­zeit­richt­li­nie. Da­her leg­te es den Fall dem EuGH vor, und zwar mit fol­gen­den Vor­la­ge­fra­gen (BAG, Be­schluss vom 17.06.2020, 10 AZR 210/19 (A)):

"1. Der EuGH wird nach Art.267 AEUV um Vor­ab­ent­schei­dung über die Fra­ge er­sucht: Ste­hen Art.31 Abs.2 der Char­ta der Grund­rech­te der Eu­ropäischen Uni­on und Art.7 der Richt­li­nie 2003/88/EG ei­ner Re­ge­lung in ei­nem Ta­rif­ver­trag ent­ge­gen, die für die Be­rech­nung, ob und für wie vie­le St­un­den ei­nem Ar­beit­neh­mer Mehr­ar­beits­zu­schläge zu­ste­hen, nur die tatsächlich ge­ar­bei­te­ten St­un­den berück­sich­tigt und nicht auch die St­un­den, in de­nen der Ar­beit­neh­mer sei­nen be­zahl­ten Min­dest­jah­res­ur­laub in An­spruch nimmt?

2. Das Re­vi­si­ons­ver­fah­ren wird bis zu der Ent­schei­dung des Ge­richts­hofs der Eu­ropäischen Uni­on über das Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen aus­ge­setzt."

Am 13.01.2022 kam die Ant­wort des Ge­richts­hofs.

EuGH: Die In­an­spruch­nah­me von Ur­laub darf nicht zum Ver­lust von Über­stun­den­zu­schlägen führen

Wie nicht an­ders zu er­war­ten war, hat der EuGH in sei­ner Ant­wort auf die Vor­la­ge­fra­ge deut­lich ge­macht, dass ta­rif­li­che Re­ge­lun­gen wie die hier strit­ti­ge da­zu führen können, dass Ar­beit­neh­mer aus fi­nan­zi­el­len Gründen da­von ab­se­hen, ih­ren Ur­laubs­an­spruch aus­zuüben.

Das wie­der­um ist mit der be­son­de­ren so­zi­al­po­li­ti­schen Be­deu­tung des eu­ro­pa­weit gel­ten­den vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laubs gemäß Art.7 Abs.1 der Ar­beits­zeit­richt­li­nie nicht zu ver­ein­ba­ren.

Fa­zit: Auch wenn die hier zwi­schen den Par­tei­en um­strit­te­ne Ta­rif­vor­schrift ziem­lich spe­zi­ell ist und auch nur die­je­ni­gen Ar­beit­neh­mer be­trifft, die als Zeit­ar­beit­neh­mer un­ter den Ta­rif fal­len, zeigt das EuGH-Ur­teil wie­der ein­mal deut­lich, wie wich­tig dem Ge­richts­hof der in der Richt­li­nie gewähr­leis­te­te vierwöchi­ge Min­des­t­ur­laub ist. Auch ta­rif­li­che oder ge­setz­li­che Vor­schrif­ten, die auf den ers­ten Blick nichts mit dem Ur­laubs­recht zu tun ha­ben, können eu­ro­pa­recht­lich un­zulässig sein, wenn sie mit­tel­bar da­zu führen, dass Ar­beit­neh­mer von ih­rem vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laub kei­nen Ge­brauch ma­chen.

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Letzte Überarbeitung: 31. Januar 2022

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