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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 25|2022

Update Arbeitsrecht 25|2022 vom 14.12.2022

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Versetzung ins Ausland per Arbeitsanweisung

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 30.11.2022, 5 AZR 336/21

Der Arbeitgeber kann den Arbeitnehmer auf der Grundlage seines Weisungsrechts gemäß § 106 GewO anweisen, an einem Arbeitsort des Unternehmens im Ausland zu arbeiten, falls nichts anderes vereinbart ist.

§ 106 Gewerbeordnung (GewO); §§ 315, 613a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); §§ 1, 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG)

Rechtlicher Hintergrund

§ 106 Satz 1 Gewerbeordnung (GewO) erlaubt es Arbeitgebern, Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung „nach billigem Ermessen“ einseitig zu bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, eine Betriebsvereinbarung, einen Tarifvertrag oder durch gesetzliche Vorschriften festgelegt sind.

Bei der Ausübung des Weisungsrechts dürfen Arbeitgeber nicht nur ihre Interessen verfolgen. Vielmehr müssen sie auch die berechtigten Belange der betroffenen Arbeitnehmer angemessen berücksichtigen. Andernfalls wäre die Weisung einseitig und würde daher nicht „billigem Ermessen“ entsprechen.

Sehen arbeitsvertragliche Regelungen vor, dass der Einsatzort eine bestimmte Stadt oder Region innerhalb Deutschlands sein soll, kann darin eine vertragliche Beschränkung des Weisungsrechts gemäß § 106 Satz 1 GewO liegen. 

In dieser Weise legt das Bundesarbeitsgericht (BAG) Einsatzort-Klauseln aber meistens nicht aus. Denn meistens gelten ergänzende Versetzungsvorbehalte. Das führt , dazu, dass der im Vertrag genannte Arbeitsort nur der Ort der erstmaligen Tätigkeit zu Beginn des Arbeitsverhältnisses ist.

Arbeitnehmer sind trotzdem vor unangemessenen Versetzungen geschützt, d.h. auch dann, wenn das Recht des Arbeitgebers zur Versetzung in eine andere Stadt nicht generell ausgeschlossen ist. Die Versetzung einer alleinerziehenden Mutter mit drei schulpflichtigen Kindern von Hamburg nach München dürfte in der Regel unbillig sein.

In der bisherigen Rechtsprechung des BAG ging es meist um Versetzungen innerhalb Deutschlands. Dabei kam das BAG oft zu dem Ergebnis, dass die Versetzung in eine andere Stadt Deutschlands rechtens ist, so z.B. im Fall einer langjährig beschäftigten Flugbegleiterin, die von ihrem bisherigen Beschäftigungsort Münster/Osnabrück nach Düsseldorf versetzt wurde (BAG, Urteil vom 18.10.2012, 6 AZR 86/11).

Ob das Weisungsrecht auch eine Versetzung ins Ausland umfasst, ist bislang nicht geklärt. Gegen eine so weitgehende Versetzungsmöglichkeit lässt sich eine ältere, noch vor Inkrafttreten von § 106 GewO ergangene Entscheidung des BAG anführen (BAG, Urteil vom 20.04.1989, 2 AZR 431/88, Rn.19: Kein Recht zur Versetzung von Berlin nach Lyon). Und auch das Arbeitsgericht Heilbronn hat sich einmal in diesem Sinne geäußert (Urteil vom 11.07.2013, 8 Ca 7/13, Leitsatz 2). 

Vor kurzem hat das BAG klargestellt, dass die Grenzen Deutschlands keine allgemeine räumliche Schranke des Versetzungsrechts gemäß § 106 Satz 1 GewO sind. 

Sachverhalt

Ein Verkehrspilot, der bei einer zur irischen Ryan Air-Gruppe gehörenden Gesellschaft arbeitete, war am Flughafen in Nürnberg als Homebase stationiert, in dessen Nähe er wohnte. In dem in Englisch verfassten Arbeitsvertrag von Dezember 2017 war die Anwendbarkeit von irischem Recht vereinbart. Außerdem enthielt der Vertrag eine Regelung zum Arbeitsort, die in deutscher Übersetzung lautete:

„Die Flugzeuge von R... sind in der Republik Irland registriert, und da Sie Ihre Aufgaben in diesen irischen Flugzeugen wahrnehmen werden, ist Ihr Arbeitsort das Hoheitsgebiet der Republik Irland. Sie werden sich hauptsächlich am Flughafen Nürnberg aufhalten und an einem oder mehreren anderen Orten, die das Unternehmen vernünftigerweise für die ordnungsgemäße Erfüllung Ihrer Pflichten und Verantwortlichkeiten im Rahmen dieses Vertrags benötigt. Es ist eine Bedingung Ihres Arbeitsverhältnisses, dass Sie alle diese Anforderungen erfüllen. Dies schließt (...) die Versetzung an eine beliebige Basis des Unternehmens ohne Ausgleich ein. Es versteht sich, dass Sie im Falle einer Versetzung an eine andere Basis nach dem dort geltenden Gehalts- und Flugvergütungssystem bezahlt werden.“

Zu Anfang Januar 2020 ging das Arbeitsverhältnis durch Betriebsübergang gemäß § 613a Abs.1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) auf eine andere, ebenfalls zur Ryan Air-Gruppe gehörende Fluggesellschaft über. Sie hatte Sitz und Homebase in Malta und führte an verschiedenen Flughäfen in Deutschland, Italien, Frankreich, Malta und Rumänien internationale Flüge durch.

Ebenfalls zu Anfang Januar 2020 stellte die Malteser Gesellschaft den Nürnberger Standort bzw. die dortige Homebase ein und versetzte den Piloten einseitig per Weisung zum 01.05.2020 nach Bologna in Italien. Vorsorglich für den Fall der Unwirksamkeit der Versetzung bzw. Weisung kündigte die Beklagte zu Ende April 2020 im Wege der Änderungskündigung, d.h. sie bot mit der Kündigung an, das Arbeitsverhältnis ab Mai 2020 in Bologna als neuem Arbeitsort fortzusetzen. 

Aus Anlass der Standortschließung vereinbarten die Pilotengewerkschaft Cockpit und Ryan Air einen Tarifsozialplan, d.h. einen Tarifvertrag mit sozialplantypischen Regelungen. Der Tarif sah u.a. vor, dass von den Piloten nicht gewünschte Versetzungen an andere Home Bases in engen Grenzen gehalten werden sollten. Außerdem wurde die Anwendbarkeit des deutschen Rechts rückwirkend ab Februar 2019 festgelegt.

Der Kläger nahm die Änderungskündigung unter dem Vorbehalt der sozialen Rechtfertigung gemäß § 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) an und klagte auf die Feststellung, dass die Versetzung unwirksam sei. Außerdem beantragte er, falls der gegen die Versetzung gerichtete Teil der Klage Erfolg haben sollte, die gerichtliche Feststellung, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam ist.

Das Arbeitsgericht Nürnberg (Urteil vom 29.10.2020, 9 Ca 797/20) und das Landesarbeitsgericht (LAG) Nürnberg wiesen die Klage ab, d.h. sie hielten die Versetzung für rechtens (LAG Nürnberg, Urteil vom 23.04.2021, 8 Sa 450/20).

Entscheidung des BAG

Auch in Erfurt vor dem BAG hatte der Pilot kein Glück. Das BAG wies seine Revision zurück. In der derzeit allein vorliegenden BAG-Pressemeldung heißt es zur Begründung:

Das LAG war zurecht von der Anwendbarkeit des deutschen Rechts ausgegangen. Daher war der Streit um die Versetzung auf der Grundlage von § 106 Satz 1 GewO zu entscheiden.

Diese Vorschrift, d.h. das Weisungsrecht des Arbeitgebers, umfasst auch eine Versetzung an einen ausländischen Arbeitsort, so das BAG. Eine Begrenzung auf Arbeitsorte in Deutschland ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. 

Die Versetzung entsprach auch im Fall des Piloten billigem Ermessen, d.h. die Ausübung des Versetzungsermessens durch die Airlines war in Ordnung. Denn wegen der Entscheidung, die Homebase am Flughafen Nürnberg aufzugeben, war die Möglichkeit entfallen, den Piloten dort zu stationieren. Freie Stellen anderswo in Deutschland gab es nicht, und daher wurden alle am Flughafen Nürnberg stationierten Piloten an einen Standort in Italien versetzt. 

Es war auch rechtens, dass der Pilot Gehaltseinbußen wegen der geringeren Tarifgehälter in Italien hinnehmen musste. 

Weil die Versetzung des Klägers bereits aufgrund des Weisungsrechts der Beklagten wirksam war, kam es auf die von ihr vorsorglich ausgesprochene Änderungskündigung nicht mehr an.

Praxishinweis

Mit der vorliegenden Entscheidung erweitert das BAG die nach seiner bisherigen Rechtsprechung schon große räumliche Reichweite des Versetzungsrechts gemäß § 106 Satz 1 GewO - jedenfalls theoretisch. 

In der Praxis werden Versetzungen ins Ausland im Einzelfall oft an den berechtigten Interessen des betroffenen Arbeitnehmers scheitern, z.B. wenn er schulpflichtige Kinder hat oder die am künftigen Einsatzort gesprochene Sprache nicht beherrscht. Diese Hindernisse können bei Berufspiloten weniger stark ins Gewicht fallen.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 30.11.2022, 5 AZR 336-21 (Pressemitteilung des Gerichts)

 

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