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HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

LAG Ba­den-Würt­tem­berg, Ur­teil vom 17.03.2014, 1 Sa 23/13

   
Schlagworte: Diskriminierung, Entschädigung, Präventionsverfahren
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg
Aktenzeichen: 1 Sa 23/13
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 17.03.2014
   
Leitsätze:
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Stuttgart 29 Ca 3414/13
   


Lan­des­ar­beits­ge­richt Ba­den-Würt­tem­berg

Ak­ten­zei­chen:

1 Sa 23/13
________________________________

29 Ca 3414/13 (ArbG Stutt­gart)
(Bit­te bei al­len Schrei­ben an­ge­ben!)

Verkündet am 17.03.2014

Ißler

Ur­kunds­be­am­tin der Geschäfts­stel­le

 

Lan­des­ar­beits­ge­richt

Ba­den-Würt­tem­berg

Im Na­men des Vol­kes

Ur­teil

 

In der Rechts­sa­che

- Kläge­rin/Be­ru­fungskläge­rin -

 

ge­gen

 

- Be­klag­te/Be­ru­fungs­be­klag­te -
 


hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt Ba­den-Würt­tem­berg - 1. Kam­mer -
durch den Präsi­den­ten des Lan­des­ar­beits­ge­richts Dr. Nat­ter,
den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter End­e­res...
und den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Ru­off
auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 17.03.2014.

 

für Recht er­kannt:

1. Die Be­ru­fung der Kläge­rin ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Stutt­gart vom 23.10.2013 - 29 Ca 3414/13 - wird zurück­ge­wie­sen.

2. Die Kläge­rin hat die Kos­ten der Be­ru­fung zu tra­gen.

3. Die Re­vi­si­on wird zu­ge­las­sen.
 

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Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten darüber, ob der Kläge­rin ei­ne Entschädi­gung nach § 15 Abs. 2 AGG zu­steht.

Die am 03.08.1954 ge­bo­re­ne Kläge­rin be­sitzt ei­nen Ab­schluss als Di­plomöko­no­min an der Uni­ver­sität T. Nach der Im­mi­gra­ti­on in die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land war sie von 1985 bis 2004 bei der S. AG in ver­schie­de­nen Funk­tio­nen tätig. Von 2004 bis Fe­bru­ar 2011 übte sie ver­schie­de­ne Funk­tio­nen bei der Fir­ma H. Ma­nage­ment GmbH, zu­letzt als kaufmänni­sche Re­gio­nal­lei­te­rin aus.

Im Jahr 2009 er­litt die Kläge­rin ei­nen Bur­nout. Seit 2009, ggf. auch erst seit 2010 ist die Kläge­rin als Schwer­be­hin­der­te mit ei­nem Grad der Be­hin­de­rung von 50 % an­er­kannt. Ob der Grad der Be­hin­de­rung auch auf den Bur­nout im Jahr 2009 zurück­zuführen ist, ist zwi­schen den Par­tei­en strei­tig.

Das Ar­beits­verhält­nis mit der Fir­ma H. en­de­te am 28.02.2011 aus be­triebs­be­ding­ten Gründen. Im Jahr 2012 be­warb sich die Kläge­rin beim LA Ba­den-Würt­tem­berg auf ei­ne Stel­le als Lei­te­rin der Or­ga­ni­sa­ti­ons­ein­heit 011 (Qua­litäts­ma­nage­ment/Con­trol­ling). Am 03.09.2012 schlos­sen die Par­tei­en ei­nen Ar­beits­ver­trag, wo­nach die Kläge­rin ab 01.10.2012 als Voll­zeit­beschäftig­te für Tätig­kei­ten der Ent­gelt­grup­pe 13 im LA ein­ge­stellt wer­de (An­la­ge BK 1). Nach § 3 des Ar­beits­ver­trags be­trug die Pro­be­zeit sechs Mo­na­te. Das mo­nat­li­che Brut­to­ent­gelt der Kläge­rin be­trug € 3.725,66.

Für die Ein­ar­bei­tungs­pha­se er­stell­te das LA ei­nen Ein­ar­bei­tungs­plan (An­la­ge 2 zum Schrift­satz des be­klag­ten Lan­des vom 10.10.2013). In wel­chem Um­fang der Ein­ar­bei­tungs­plan durch­geführt wur­de, ist zwi­schen den Par­tei­en strei­tig. Die Kläge­rin er­hielt außer­dem die Ge­le­gen­heit, an zwei EF­QM-Mo­du­len der Deut­schen Ge­sell­schaft für Qua­lität teil­zu­neh­men. Sie schloss die­se Aus­bil­dung am 26.01.2013 er­folg­reich ab.

Am 18. Ja­nu­ar 2013 teil­te der Präsi­dent des LAs, Herr S., der Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung der P. beim In­nen­mi­nis­te­ri­um Ba­den-Wüttem­berg im Rah­men ei­nes Gesprächs mit, dass die Kläge­rin sei­ne Er­war­tun­gen bis­lang nicht erfüllt ha­be. Am 11.02.2013 führ­te Herr S. mit der Kläge­rin ein Per­so­nal­gespräch. Im Rah­men die­ses Gesprächs teil­te Herr S. der Kläge­rin mit, er be­ab­sich­ti­ge, das Ar­beits­verhält­nis mit Ab­lauf der Pro­be­zeit zu be­en­di­gen. Un­ter dem Da­tum des 14.02.2013 er­stell­te Herr S. hier­zu ei­nen Eig­nungs­be­richt. Hier­in hielt Herr S. fest, die Kläge­rin ha­be die fach­li­chen An­for­de­run­gen und Er­war­tun­gen nicht erfüllen können. Ins­be­son­de­re

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ha­be sie die Auf­träge zur Er­stel­lung ei­ner Dienst­an­wei­sung zum Mit­ar­bei­ter­feed­back und zum Wis­sens- und Er­fah­rungs­trans­fer nicht er­le­digt. Es sei nicht zu er­war­ten, dass die er­kenn­ba­ren De­fi­zi­te be­ho­ben wer­den könn­ten. We­gen der Ein­zel­hei­ten wird auf den Eig­nungs­be­richt (An­la­ge 1 zum Schrift­satz des be­klag­ten Lan­des vom 11.07.2013) ver­wie­sen.

Un­ter dem Da­tum des 13.02.2013 über­sand­te der Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­ter, Herr
Dr. K., dem In­nen­mi­nis­te­ri­um ei­ne Stel­lung­nah­me zur be­ab­sich­tig­ten Kündi­gung der Kläge­rin (An­la­ge 3 zum Schrift­satz des be­klag­ten Lan­des vom 10.10.2013). Mit Schrei­ben vom 20.02.2013 (An­la­ge 1 zum Schrift­satz des be­klag­ten Lan­des vom 10.10.2013) hörte das In­nen­mi­nis­te­ri­um den Haupt­per­so­nal­rat der P. zu der be­ab­sich­tig­ten Pro­be­zeitkündi­gung an. Im Brief­kopf des Schrei­bens ist auch die Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung der P. auf­geführt. Das Schrei­ben ging am 21.02.2013 an den Haupt­per­so­nal­rat und den Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­ter per Mail ab. Der Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­ter gab auf das Schrei­ben vom 20.02.2013 hin kei­ne wei­te­re Stel­lung­nah­me ab. Ob er hier­auf nach ei­nem Gespräch mit Herrn O. aus­drück­lich ver­zich­te­te, ist zwi­schen den Par­tei­en strei­tig. Der Vor­sit­zen­de des Haupt­per­so­nal­rats teil­te dem In­nen­mi­nis­te­ri­um mit Mail vom 25.02.2013 (An­la­ge BK 5) noch vor der Sit­zung des Haupt­per­so­nal­rats mit, dass der Haupt­per­so­nal­rat der Kündi­gung wi­der­spre­chen wer­de. Die letzt­li­che Einschätzung des Haupt­per­so­nal­rats fol­ge nach der Sit­zung. Mit Mail vom 26.03.2013 (An­la­ge BK 6 - nicht vor­ge­legt) teil­te der Vor­sit­zen­de mit, der Haupt­per­so­nal­rat ha­be die Ab­leh­nung der Kündi­gung bestätigt.

Mit Schrei­ben vom 08.03.2013 kündig­te das be­klag­te Land das Ar­beits­verhält­nis zum Ab­lauf des 31.03.2013 (An­la­ge K 1). Mit Schrei­ben vom 18.04.2013 (An­la­ge K 2) mach­te die späte­re Pro­zess­be­vollmäch­tig­te der Kläge­rin ei­nen Entschädi­gungs­an­spruch in Höhe von drei Mo­nats­gehältern gel­tend. Zur Be­gründung führ­te sie aus, das be­klag­te Land ha­be es un­ter­las­sen, das Präven­ti­ons­ver­fah­ren nach § 84 Abs. 1 SGB IX vor dem Aus­spruch der Kündi­gung durch­zuführen. Mit Schrei­ben vom 25.04.2013 (An­la­ge K 3) lehn­te das be­klag­te Land die Zah­lung ei­ner Entschädi­gung ab.

Mit ih­rer am 13.05.2013 ein­ge­gan­ge­nen Kla­ge hat die Kläge­rin die Zah­lung ei­ner Entschädi­gung in Höhe von € 11.176,98 gel­tend macht. Sie hat vor­ge­tra­gen, das be­klag­te Land ha­be vor Aus­spruch der Kündi­gung kein Präven­ti­ons­ver­fah­ren nach § 84 Abs. 1 SGB IX ein­ge­lei­tet. Da­mit sei ihr die Möglich­keit ge­nom­men wor­den, et­wai­ge mögli­cher­wei­se be­hin­de­rungs­be­ding­te Fehl­leis-tun­gen zu be­he­ben. Das be­klag­te Land ha­be es auch un­ter­las­sen, die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung ein­zu­schal­ten und das In­te­gra­ti­ons­amt hin­zu­zie­hen.

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Im Güte­ter­min vom 26.06.2013 er­schien für das be­klag­te Land auf­grund ei­nes ver­spätet vor­ge­leg­ten An­trags auf Ter­min­ver­le­gung nie­mand. Dar­auf­hin ver­ur­teil­te das Ar­beits­ge­richt das be­klag­te Land, an die Kläge­rin € 11.176,98 nebst Zin­sen hier­aus in Höhe von 5 Pro­zent­punk­ten über dem Ba­sis­zins­satz seit 03.05.2013 zu be­zah­len. Ge­gen das am 11.07.2013 zu­ge­stell­te Versäum­nis­ur­teil leg­te das be­klag­te Land be­reits am 04.07.2013 Ein­spruch ein.

Es hat vor­ge­tra­gen, ein An­spruch auf Entschädi­gung be­ste­he nicht, weil die Kläge­rin nicht durch die Un­ter­las­sung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens nach den §§ 1, 7 Abs. 1 AGG be­nach­tei­ligt wor­den sei. Ei­ne Rechts­pflicht zur Durchführung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens ha­be nicht be­stan­den. In­ner­halb der ers­ten sechs Mo­na­te des Ar­beits­verhält­nis­ses bedürfe ei­ne Kündi­gung kei­ner so­zia­len Recht­fer­ti­gung. Da § 84 Abs. 1 SGB IX ei­ne Kon­kre­ti­sie­rung des Verhält­nismäßig­keits­grund­sat­zes dar­stel­le, schei­de vor Ab­lauf der sechs­mo­na­ti­gen War­te­zeit ei­ne Pflicht zur Durchführung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens aus.

Fer­ner sei zu berück­sich­ti­gen, dass der Son­derkündi­gungs­schutz für Schwer­be­hin­der­te nicht für Kündi­gun­gen gel­te, die in den ers­ten sechs Mo­na­ten des Ar­beits­verhält­nis­ses er­folg­ten. Durch ein auch bei ei­ner Pro­be­zeitkündi­gung vor­zu­schal­ten­des Präven­ti­ons­ver­fah­ren würden schwer­be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer bes­ser ge­stellt als nicht be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer. Auch bei schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mern müsse der Ar­beit­ge­ber Ge­le­gen­heit ha­ben, den Ar­beit­neh­mer frei von Kündi­gungs­be­schränkun­gen zu er­pro­ben.

Selbst wenn man ei­ne grundsätz­li­che Pflicht zur Durchführung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens in­ner­halb der War­te­zeit annähme, sei sie im vor­lie­gen­den Fall hier­zu nicht ver­pflich­tet ge­we­sen, weil die Kündi­gung nicht im Zu­sam­men­hang mit der Schwer­be­hin­de­rung der Kläge­rin er­folgt sei. Aus­weis­lich des Eig­nungs­be­richts von Herrn S. sei die Kündi­gung nicht auf­grund be­hin­de­rung-be­ding­ter Fehl­leis­tun­gen der Kläge­rin er­folgt. Ein Ver­s­toß ge­gen § 84 Abs. 1 SGB IX lie­ge so­mit nicht vor.

Das be­klag­te Land hat be­an­tragt,

das Versäum­nis­ur­teil vom 26.06.2013 auf­zu­he­ben und die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

 

Die Kläge­rin hat be­an­tragt,

das Versäum­nis­ur­teil vom 26.06.2013 auf­recht­zu­er­hal­ten.

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Sie hat vor­ge­tra­gen, das be­klag­te Land ver­ken­ne, dass § 84 Abs. 1 SGB IX ei­ne „an­ge­mes­se­ne Vor­keh­rung“ im Sin­ne des Art. 2 der Be­hin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on der Ver­ein­ten Na­tio­nen sei. Wenn ei­ne sol­che Vor­keh­rung nicht ge­trof­fen wer­de, sei dies als Dis­kri­mi­nie­rung zu wer­ten. Es sei dem be­klag­ten Land vor der Ein­stel­lung be­kannt ge­we­sen, dass sie über kei­ne Er­fah­run­gen in der öffent­li­chen Ver­wal­tung verfüge. Man ha­be ihr da­mals zu­ge­sagt, sie auf al­len Ge­bie­ten zu un­terstützen. Lei­der ha­be sie er­fah­ren müssen, dass ih­re Er­war­tun­gen nicht erfüllt wur­den. Es sei ihr kei­nes­wegs ei­ne Hos­pi­ta­ti­on bei al­len Ab­tei­lun­gen zu­ge­bil­ligt wor­den. Die Hos­pi­ta­ti­on ha­be sich auf die Ab­tei­lung I des LAs be­schränkt. Sie ha­be dar­auf­hin ei­genständig Kon­takt mit den an­de­ren Ab­tei­lun­gen auf­ge­nom­men.

Vor Aus­spruch der Kündi­gung sei es un­ter­las­sen wor­den, mit ihr ein Mit­ar­bei­ter­gespräch zu führen. Das Gespräch mit Herrn S. am 11.02.2013 sei für sie völlig über­ra­schend ge­we­sen. Ganz of­fen­sicht­lich ha­be das be­klag­te Land die War­te­zeit nut­zen wol­len, um das Ar­beits­verhält­nis oh­ne größere Schwie­rig­kei­ten zu be­en­den.

Bei der Höhe der Entschädi­gung sei zu berück­sich­ti­gen, dass sie bis­lang ei­nen höchst strin­gen­ten be­ruf­li­chen Wer­de­gang ge­habt ha­be. Die sehr kur­ze Beschäfti­gungs­dau­er beim LA stel­le ei­nen Ma­kel in ih­rem be­ruf­li­chen Le­bens­lauf dar. Zu berück­sich­ti­gen sei auch, dass sie ei­ne an­de­re lu­kra­ti­ve Stel­le aus­ge­schla­gen ha­be.

Mit Ur­teil vom 23.10.2013 hat das Ar­beits­ge­richt die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Zur Be­gründung hat das Ar­beits­ge­richt aus­geführt, die Kam­mer ha­be be­reits Zwei­fel, ob sich die Kläge­rin nicht zunächst ge­gen die Kündi­gung vom 08.03.2013 ha­be zur Wehr set­zen müssen. Zwar un­ter­lie­ge das Ar­beits­verhält­nis nicht dem Kündi­gungs­schutz­ge­setz. Wenn sich die Kläge­rin aber dar­auf be­ru­fe, dass die Kündi­gung mit ei­ner Dis­kri­mi­nie­rung ein­her­ge­he, sei die Kündi­gung sit­ten­wid­rig. Je­den­falls die for­ma­len Mängel der Kündi­gung ha­be die Kläge­rin in­ner­halb der Frist des § 4 KSchG rügen müssen.

Es könne aber auch kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung der Kläge­rin durch for­ma­le Feh­ler oder durch das Feh­len ei­nes be­trieb­li­chen Ein­glie­de­rungs­ma­nage­ments (Anm.: ge­meint ist das Präven­ti­ons­ver­fah­ren nach § 84 Abs. 1 SGB IX) fest­ge­stellt wer­den. Die Kläge­rin ha­be noch kei­nen Son­derkündi­gungs­schutz als Schwer­be­hin­der­te ge­nos­sen. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt ha­be in ständi­ger Recht­spre­chung klar­ge­stellt, dass das Präven­ti­ons­ver­fah­ren le­dig­lich im Rah­men des Verhält­nismäßig­keits­grund­sat­zes Be­ach­tung fin­de. Wenn der Ge­setz­ge­ber ei­nen Kündi­gungs­schutz erst nach Ab­lauf von sechs Mo­na­ten nor­mie­re, so ha­be dies den Grund, dass bei­de Ar­beits­ver-trags­par­tei­en sechs Mo­na­te lang die Möglich­keit ha­ben soll­ten, sich oh­ne be­son­de­re Be­schränkun­gen zu tes­ten. Ver­lan­ge man nun als Vor­aus­set­zung für ei­ne Kündi­gung die

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Durchführung ei­nes Präven­ti­ons­ver­fah­rens, so führe dies zu ei­ner Be­vor­zu­gung der schwer­be­hin­der­ten Mit­ar­bei­ter.

Der an­geführ­te Grund für die Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses ste­he auch mit der Be­hin­de­rung in kei­ner­lei Zu­sam­men­hang. Dies gel­te auch dann, wenn das be­klag­te Land die An­for­de-run­gen an die Kläge­rin mögli­cher­wei­se zu hoch an­ge­setzt ha­be und sich die Kläge­rin mögli­cher­wei­se mehr Un­terstützung ver­spro­chen ha­be. Al­lein das Un­ter­las­sen von Un­terstützung sei nicht zwin­gend Aus­druck ei­ner Be­nach­tei­li­gung.

Ge­gen das ihr am 31.10.2013 zu­ge­stell­te Ur­teil hat die Kläge­rin am 02.12.2013 (Mon­tag) Be­ru­fung ein­ge­legt und die­se am 27.12.2013 be­gründet. Sie trägt vor, die Auf­fas­sung des Ar­beits­ge-richts, sie ha­be die Kündi­gung vom 08.03.2013 mit dem Ar­gu­ment der Sit­ten­wid­rig­keit an­grei­fen müssen, tref­fe nicht zu. Es ge­be kei­ne ge­setz­li­che Vor­schrift, die als Vor­aus­set­zung für ei­ne Entschädi­gungs­kla­ge die Er­he­bung ei­ner Kündi­gungs­schutz­kla­ge ver­lan­ge. Das Ar­beits­ge­richt ha­be die Ziel­rich­tung des all­ge­mei­nen Gleich­be­hand­lungs­ge­set­zes ver­kannt. Die­ses wol­le be­reits die Ent­ste­hung von Un­gleich­be­hand­lun­gen ver­hin­dern.

Das Ar­beits­ge­richt ha­be fer­ner ver­kannt, dass sie kei­ne Be­vor­zu­gung ih­rer Per­son als Schwer­be­hin­der­te be­geh­re. Tat­sa­che sei, dass für Schwer­be­hin­der­te zur Ver­mei­dung von Nach­tei­len be­son­de­re Schutz­maßnah­men ge­trof­fen wor­den sei­en. Das Präven­ti­ons­ver­fah­ren nach § 84 Abs. 1 SGB IX sei zu be­schrei­ten, so­bald per­so­nen-, ver­hal­tens- oder be­triebs­be­ding­te Schwie­rig­kei­ten im Ar­beits­verhält­nis mit ei­nem schwer­be­hin­der­ten Men­schen auf­träten. Auch wenn das Präven­ti­ons­ver­fah­ren kündi­gungs­schutz­recht­lich erst nach Erfüllung der War­te­zeit re­le­vant wer­de, ge­he es vor­lie­gend um die Durchführung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens zur Ver­mei­dung ei­ner Be­nach­tei­li­gung. Die Un­ter­las­sung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens stel­le ei­nen Ver­s­toß ge­gen Art. 2 der Be­hin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on der Ver­ein­ten Na­tio­nen dar.

Das be­klag­te Land ha­be schließlich die ord­nungs­gemäße Be­tei­li­gung der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung und des Haupt­per­so­nal­rats nicht hin­rei­chend dar­ge­legt. Le­dig­lich die Vor­la­ge von E-Mails genüge nicht.

Die Kläge­rin be­an­tragt,

das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Stutt­gart vom 23.10.2013 - 29 Ca 3414/13 - ab­zuändern und das Versäum­nis­ur­teil des Ar­beits­ge­richts Stutt­gart vom 26.06.2013 auf­recht­zu­er­hal­ten.

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Das be­klag­te Land be­an­tragt,

die Be­ru­fung zurück­zu­wei­sen.

Es trägt vor, die Kläge­rin schei­ne das Präven­ti­ons­ver­fah­ren im­mer wie­der mit ei­nem Kündi­gungs­schutz­ver­fah­ren zu ver­wech­seln. Es ge­be kei­ne recht­li­che Ver­an­las­sung, die Be­tei­li­gung der Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung und des Haupt­per­so­nal­rats im De­tail dar­zu­stel­len. Es sei Sa­che der Kläge­rin, kon­kre­te An­halts­punk­te für ei­ne Dis­kri­mi­nie­rung zu be­nen­nen. Un­abhängig da­von sei die Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung und der Haupt­per­so­nal­rat ord­nungs­gemäß vor der Kündi­gung be­tei­ligt wor­den.

Das Ar­beits­verhält­nis der Kläge­rin sei gekündigt wor­den, weil die Kläge­rin die fach­li­chen An­for­de­run­gen und da­mit ver­bun­de­nen Er­war­tun­gen nicht erfüllen konn­te. Die im Zeit­punkt des Ar­beits­an­tritts be­ste­hen­den Auf­träge sei­en nur mit deut­li­cher Un­terstützung der St­abs­stel­le des LAs und mit zeit­li­cher Verzöge­rung be­ar­bei­tet wor­den. Es sei auch nicht zu er­war­ten ge­we­sen, dass die er­kenn­ba­ren De­fi­zi­te in ab­seh­ba­rer Zeit be­ho­ben wer­den würden. In­di­zi­en für ei­ne Dis­kri­mi­nie­rung der Kläge­rin als schwer­be­hin­der­ter Mensch sei­en da­mit er­sicht­lich.

We­gen der Ein­zel­hei­ten des Sach- und Streit­stands wird gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG, § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf den In­halt der ge­wech­sel­ten Schriftsätze nebst An­la­gen so­wie auf die Pro­to­kol­le über die münd­li­chen Ver­hand­lun­gen ver­wie­sen.

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Ent­schei­dungs­gründe

I.

Die Be­ru­fung der Kläge­rin ist gemäß § 64 Abs. 2 Buchst. b ArbGG statt­haft. Sie ist auch gemäß § 66 Abs. 1 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO in der ge­setz­li­chen Form und Frist ein­ge­legt und be­gründet wor­den.

II.

Die Be­ru­fung der Kläge­rin ist un­be­gründet. Das Ar­beits­ge­richt hat zu­tref­fend ent­schie­den, dass die Kläge­rin kei­nen An­spruch auf Entschädi­gung nach § 15 Abs. 2 AGG hat. Die zulässi­ge Kla­ge ist un­be­gründet.

1. Nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG kann der oder die Beschäftig­te we­gen ei­nes Scha­dens, der nicht Vermögens­scha­den ist, ei­ne an­ge­mes­se­ne Entschädi­gung in Geld ver­lan­gen. Vor­aus­set­zung für den Entschädi­gungs­an­spruch ist ein Ver­s­toß ge­gen das Be­nach­tei­li­gungs­ver­bot des § 7 Abs. 1 AGG. Dies wird zwar in § 15 Abs. 2 AGG nicht aus­drück­lich erwähnt, er­gibt sich aber aus dem Ge­samt­zu­sam­men­hang der Be­stim­mun­gen in § 15 AGG (BAG 25.04.2013 - 8 AZR 287/08 - NZA 2014, 224).

a) Der persönli­che An­wen­dungs­be­reich des AGG ist eröff­net. Die Kläge­rin ist Beschäftig­te im Sin­ne des § 6 Abs. 1 AGG. Das be­klag­te Land ist als Ar­beit­ge­ber nach § 6 Abs. 2 AGG pas­siv le­gi­ti­miert.

b) Die Kläge­rin hat ih­ren Entschädi­gungs­an­spruch recht­zei­tig in­ner­halb der Fris­ten des § 15 Abs. 4 AGG, § 61b Abs. 1 ArbGG gel­tend ge­macht. Nach § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG muss ein An­spruch nach § 15 Abs. 2 AGG in­ner­halb ei­ner Frist von zwei Mo­na­ten ge­richt­lich gel­tend ge­macht wer­den. Die Frist be­ginnt zu dem Zeit­punkt, in dem der oder die Beschäftig­te von der Be­nach­tei­li­gung Kennt­nis er­langt. Im Streit­fall hat die Frist frühes­tens mit dem Zu­gang der Kündi­gung vom 08.03.2013 be­gon­nen. Denn frühes­tens zu die­sem Zeit­punkt konn­te die Kläge­rin er­ken­nen, dass das be­klag­te Land die Kündi­gung oh­ne die vor­he­ri­ge Durchführung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens und ei­ne - nach Auf­fas­sung der Kläge­rin - un­genügen­de Be­tei­li­gung des Haupt­per­so­nal­rats so­wie der Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung aus­ge­spro­chen hat­te. Zum Zeit­punkt des Per­so­nal­gesprächs zwi­schen der Kläge­rin und dem Präsi­den­ten des LAs, Herrn S., am 11.02.2013, hat­te die Kläge­rin noch

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kei­ne An­halts­punk­te dafür, dass ein - aus ih­rer Sicht - Ver­s­toß ge­gen das Be­nach­tei­li-gungs­ver­bot des § 7 Abs. 1 AGG vor­lie­ge. Dem­zu­fol­ge hat die Kläge­rin die zwei­mo­na­ti­ge Frist zur schrift­li­chen Gel­tend­ma­chung mit ih­rem Schrei­ben vom 18.04.2013 ge­wahrt. Die wei­te­re drei­mo­na­ti­ge Frist zur Kla­ge­er­he­bung nach § 61b Abs. 1 ArbGG hat die Kläge­rin durch ih­re am 13.05.2013 ein­ge­gan­ge­ne Kla­ge eben­falls ein­ge­hal­ten.

c) Die Kläge­rin war nicht ge­hal­ten, vor­ran­gig ei­ne Be­stands­schutz­kla­ge zu er­he­ben, um die Un­ter­las­sung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens und die - aus ih­rer Sicht - un­zu­rei­chen­de Be­tei­li­gung des Haupt­per­so­nal­rats und der Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung zu rügen. Das Ar­beits­ge­richt hat in­so­weit Zwei­fel geäußert, ob sich die Kläge­rin nicht zunächst ge­gen die Kündi­gung des be­klag­ten Lan­des vom 08.03.2013 hätte zur Wehr set­zen müssen. Je­den­falls könne sich die Kläge­rin nicht dar­auf be­ru­fen, der Haupt­per­so­nal­rat und die Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung sei­en nicht ord­nungs­gemäß be­tei­ligt wor­den. Die­se Zwei­fel teilt die Kam­mer nicht.

aa) Das Verhält­nis von Kündi­gungs­schutz und Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz re­gelt § 2 Abs. 4 AGG da­hin­ge­hend, dass für Kündi­gun­gen aus­sch­ließlich die Be­stim­mun­gen zum all­ge­mei­nen und be­son­de­ren Kündi­gungs­schutz gel­ten. Wel­che Be­deu­tung die­ser Vor­schrift zu­kommt, war bis­lang bei Kündi­gun­gen, die nicht dem Kündi­gungs­schutz­ge­setz un­ter­fal­len, um­strit­ten. Mit Ur­teil vom 19.12.2013 (6 AZR 190/12 - Rn 22 ff.) hat sich das Bun­des­ar­beits­ge­richt der Auf­fas­sung an­ge­schlos­sen, dass § 2 Abs. 4 AGG Kündi­gun­gen während der War­te­zeit von vor­ne­her­ein nicht er­fasst. Zur Ver­mei­dung von Wie­der­ho­lun­gen schließt sich die Kam­mer der ausführ­lich be­gründe­ten Ent­schei­dung des Bun­des­ar­beits­ge­richts an.

bb) Hier­aus folgt, dass die Kläge­rin we­der mit ih­ren dis­kri­mi­nie­rungs­recht­li­chen Ein­wen­dun­gen, das be­klag­te Land ha­be das Präven­ti­ons­ver­fah­ren nach § 84 Abs. 1 SGB IX nicht durch­geführt und den Haupt­per­so­nal­rat so­wie die Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung nicht ord­nungs­gemäß be­tei­ligt, in ei­nem even­tu­el­len Be­stands­schutz­pro­zess aus­ge­schlos­sen ge­we­sen wäre noch erst recht im vor­lie­gen­den Entschädi­gungs­pro­zess mit die­sen Ein­wen­dun­gen aus­ge­schlos­sen ist, weil sie sich nicht ge­gen die Kündi­gung des be­klag­ten Lan­des vom 08.03.2013 ge­richt­lich ge­wandt hat. Das Kündi­gungs­schutz­ge­setz und das all­ge­mei­ne Entschädi­gungs­ge­setz ver­fol­gen un­ter­schied­li­che Zwe­cke. Mit der Kündi­gungs­schutz­kla­ge er­strebt der Ar­beit­neh­mer Be­stand­schutz, al­so die Er­hal­tung des gekündig­ten Ar­beits­verhält­nis­ses. Mit der Entschädi­gungs­kla­ge ver­langt der Ar­beit­neh­mer ei­nen Aus­gleich des im­ma­te­ri­el­len Scha­dens, den er durch den be­haup­te­ten Ver­s­toß ge­gen das Be­nach­tei­li­gungs­ver­bot

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nach § 7 Abs. 1 AGG er­lit­ten hat. Der Entschädi­gungs­an­spruch nach § 15 Abs. 2 AGG knüpft nicht an ei­ne dis­kri­mi­nie­rungs­be­ding­te Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung, son­dern aus­sch­ließlich dar­an an, dass der Ar­beit­ge­ber den An­spruch des Ar­beit­neh­mers auf ein be­nach­tei­li­gungs­frei­es Ver­fah­ren nicht ge­wahrt hat. So hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt im Zu­sam­men­hang mit der Ver­pflich­tung des Ar­beit­ge­bers, schwer­be­hin­der­te Be­wer­ber zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch ein­zu­la­den (§ 82 Satz 2 SGB IX), ent­schie­den, der Schutz­zweck des § 7 Abs. 1 AGG sei, das Recht des schwer­be­hin­der­ten Men­schen auf ein be­nach­tei­li­gungs­frei­es Be­wer­bungs­ver­fah­ren zu schützen (BAG 17.08.2010 - 9 AZR 839/08 - NZA 2011, 153; BAG 16.02.2012 - 8 AZR 697/10 - NZA 2012, 667; BVerwG 03.03.2011 - 5 C 16/10 - NJW 2011, 2452). Der An­spruch nach § 15 Abs. 2 AGG sank­tio­niert so­mit das durch ei­ne Dis­kri­mi­nie­rung er­lit­te­ne „Ver­fah­rensun­recht“.

Für die vom Ar­beits­ge­richt ver­tre­te­ne Auf­fas­sung, der Be­stands­schutz­pro­zess ent­fal­te ei­ne Sperr­wir­kung für Ein­wen­dun­gen im Entschädi­gungs­pro­zess, gibt es kei­ne recht­li­che Grund­la­ge. In der Be­stim­mung des § 2 Abs. 4 AGG kommt der - un­voll­kom­men geäußer­te - Wil­le des Ge­setz­ge­bers zum Aus­druck, den Vor­rang der Be­stim­mun­gen des Kündi­gungs­schutz­ge­set­zes im Kündi­gungs­schutz­pro­zess klar­zu­stel­len (BAG 19.12.2013 aaO Rn 30). Nicht ab­ge­lei­tet wer­den kann aus der Vor­schrift im Um­kehr­schluss, dass der Ar­beit­neh­mer mit Ein­wen­dun­gen, die er im Be­stands­schutz­pro­zess hätte er­he­ben können, im Entschädi­gungs­pro­zess aus­ge­schlos­sen ist. Ein der­ar­ti­ges Verständ­nis der Norm er­gibt sich we­der aus den Ge­set­zes­ma­te­ria­li­en noch lässt es sich aus dem Zweck der Vor­schrift her­lei­ten. Wenn § 2 Abs. 4 AGG bei Kündi­gun­gen, die man­gels Erfüllung der War­te­zeit des § 1 Abs. 1 KSchG noch nicht dem Kündi­gungs­schutz­ge­setz un­ter­lie­gen, kei­ne „Sperr­wir­kung“ ent­fal­tet, dann „sperrt“ die Norm den Ar­beit­neh­mer erst recht nicht mit Ein­wen­dun­gen im Entschädi­gungs­pro­zess.

2. Die Kläge­rin ist nicht we­gen ih­rer Be­hin­de­rung bei Aus­spruch der Kündi­gung vom 08.03.2013 be­nach­tei­ligt wor­den. Die Kläge­rin hat kei­ne An­halts­punk­te dafür auf­ge­zeigt, dass das be­klag­te Land ge­gen das Be­nach­tei­li­gungs­ver­bot nach § 7 Abs. 1 AGG ver­s­toßen hat.

a) Ei­ne un­mit­tel­ba­re Be­nach­tei­li­gung liegt nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG vor, wenn ei­ne Per­son we­gen ei­nes in § 1 AGG ge­nann­ten Grun­des ei­ne we­ni­ger güns­ti­ge Be­hand­lung er-fah­ren hat, als ei­ne an­de­re Per­son in ei­ner ver­gleich­ba­ren Si­tua­ti­on erfährt, er­fah­ren hat oder er­fah­ren würde. An­ders als im Be­wer­bungs­ver­fah­ren, bei dem die we­ni­ger güns­ti­ge Be­hand­lung des schwer­be­hin­der­ten Be­wer­bers im Aus­schluss aus dem Be­wer­bungs­ver­fah­ren, al­so in der Ver­sa­gung ei­ner Chan­ce liegt (zu­letzt BAG 22.08.2013 - 8 AZR 563/12 - NZA 2014, 82 Rn. 36), lässt sich im vor­lie­gen­den Fall die we­ni­ger güns­ti­ge

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Be­hand­lung nicht an ei­ner kon­kre­ten an­de­ren Per­son fest­ma­chen. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG stellt je­doch nicht aus­sch­ließlich auf ei­ne kon­kre­te an­de­re Ver­gleichs­per­son ab, son­dern lässt ei­ne hy­po­the­ti­sche Ver­gleichs­per­son genügen. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG ent­spricht da­mit der Le­gal­de­fi­ni­ti­on der un­mit­tel­ba­ren Dis­kri­mi­nie­rung in Art. 2 Abs. 2a der Rah­men­richt­li­nie 2000/78/EG vom 27.11.2000. Fol­ge­rich­tig ver­langt der Eu­ropäische Ge­richts­hof nicht, dass die be­schwer­te Per­son, die be­haup­tet, Op­fer ei­ner Dis­kri­mi­nie­rung ge­wor­den zu sein, iden­ti­fi­zier­bar ist (EuGH 10.07.2008 - C-54/07 - AP Richt­li­nie 2000/43/EG Nr. 1 <Fe­ryn>; EuGH 25.04.2013 - C-81/12 - < Aso­ca­tia AC­CEPT>; eben­so Thüsing, Ar­beits­recht­li­cher Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz, 2. Aufl. Rn 231; Bau­er/Göpfert/Krie­ger, AGG
3. Aufl., § 3 Rn 11). Al­ler­dings ist auch nach die­ser Recht­spre­chung er­for­der­lich, dass kon­kre­te An­halts­punk­te dafür vor­lie­gen, wie ei­ne sol­che Ver­gleichs­per­son tatsächlich be­han­delt wer­den würde (Er­fur­ter Kom­men­tar-Schlach­ter, 14. Aufl., § 3 Rn 5).

b) Bei die­ser Be­trach­tungs­wei­se kann ei­ne we­ni­ger güns­ti­ge Be­hand­lung der Kläge­rin nicht be­reits mit dem Ar­gu­ment ver­neint wer­den, das be­klag­te Land hätte auch bei ei­nem nicht­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mer das Ar­beits­verhält­nis in­ner­halb der War­te­zeit des § 1 Abs. 1 KSchG bei den fest­ge­stell­ten Eig­nungsmängeln durch Aus­spruch ei­ner Kündi­gung be­en­det. Aus­weis­lich des Eig­nungs­be­richts des Präsi­den­ten vom 14.02.2013 (An­la­ge 1 zum Schrift­satz des be­klag­ten Lan­des vom 11.07.2013) er­ga­ben sich im Lau­fe der Pro­be­zeit ver­schie­de­ne fach­li­che De­fi­zi­te bei der Kläge­rin. Die­se be­stan­den in der un­re­flek­tier­ten Über­nah­me von Er­geb­nis­sen und Erklärun­gen aus den Or­ga­ni­sa­ti­ons­ein­hei­ten, der Nicht-ein­hal­tung von Ter­mi­nen, der man­geln­den Ei­gen­in­itia­ti­ve, der we­nig aus­ge­prägten ana­ly­ti­schen Fähig­kei­ten und der un­zu­rei­chen­den Fähig­kei­ten zur par­al­le­len Be­ar­bei­tung ver­schie­de­ner Vorgänge un­ter Zeit­druck. Zu­min­dest ein Teil die­ser De­fi­zi­te kann mit der Be-hin­de­rung der Kläge­rin in Zu­sam­men­hang ge­bracht wer­den. Die­se re­sul­tier­te je­den­falls auch dar­aus, dass die Kläge­rin im Jahr 2009 ei­nen Bur­nout er­lit­ten hat­te. Un­ter ei­nem Bur­nout ist ein Zu­stand der emo­tio­na­len Erschöpfung mit ver­rin­ger­ter Leis­tungsfähig­keit zu ver­ste­hen. Nach den - be­strit­te­nen - An­ga­ben der Kläge­rin war der er­lit­te­ne Bur­nout zu­min­dest auch ein Grund, wes­halb im wei­te­ren Ver­lauf ein Grad der Be­hin­de­rung von 50 % an­er­kannt wur­de. Die­se Be­hin­de­rung konn­te die Ur­sa­che dafür bil­den, dass die Kläge­rin we­ni­ger be­last­bar war als ein nicht be­hin­der­ter Mensch.

Zum Aus­gleich von Nach­tei­len der schwer­be­hin­der­ten Men­schen im Er­werbs­le­ben hat der Ge­setz­ge­ber ver­schie­dent­lich „Chan­cen­vor­tei­le“ für die­sen Per­so­nen­kreis ge­schaf-

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fen. So muss ein schwer­be­hin­der­ter Be­wer­ber bei ei­nem öffent­li­chen Ar­beit­ge­ber nach § 82 Satz 2 SGB IX die Chan­ce ei­nes Vor­stel­lungs­gesprächs be­kom­men, auch wenn sei­ne fach­li-che Eig­nung zwei­fel­haft, aber nicht of­fen­sicht­lich aus­ge­schlos­sen ist. Der schwer­be­hin­der­te Be­wer­ber soll den öffent­li­chen Ar­beit­ge­ber im Vor­stel­lungs­gespräch von sei­ner Eig-nung über­zeu­gen können. Wird ihm die­se Möglich­keit ge­nom­men, liegt dar­in ei­ne we­ni­ger güns­ti­ge Be­hand­lung als sie das Ge­setz zur Her­stel­lung glei­cher Be­wer­bungs­chan­cen ge­genüber an­de­ren Be­wer­bern für er­for­der­lich hält. Der Aus­schluss aus dem wei­te­ren Be-wer­bungs­ver­fah­ren ist ei­ne Be­nach­tei­li­gung, die in ei­nem ursächli­chen Zu­sam­men­hang mit der Be­hin­de­rung steht (BAG 07.04.2011 - 8 AZR 679/09 - Rn. 35; BAG 16.02.2012 - 8 AZR 697/10 - NZA 2012, 667 Rn 48; BAG 22.08.2013 - 8 AZR 563/12 - NZA 2014, 82 Rn 59).

Bei die­ser Be­trach­tungs­wei­se kann auch in der Durchführung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens nach § 84 Abs. 1 SGB IX ein „Chan­cen­vor­teil“ ge­se­hen wer­den, der da­zu dient, glei­che Chan­cen des schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mers ge­genüber an­de­ren nicht­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mern während der Dau­er der Pro­be­zeit si­cher­zu­stel­len. Auf die­sen Ge­sichts­punkt hat die Kläge­rin in ih­rem Schrift­satz vom 13.08.2013 Sei­te 4 f. hin­ge­wie­sen. Sie hat vor­ge­tra­gen, ih­rer größeren Un­terstützungs­bedürf­tig­keit sei nicht durch die Durchführung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens und die Be­tei­li­gung der Per­so­nal­ver­tre­tun­gen Rech­nung ge­tra­gen wor­den. Da­mit hat die Kläge­rin ei­ne un­mit­tel­ba­re Be­nach­tei­li­gung im Sin­ne des § 3 Abs. 1 Satz 2 AGG zu­min­dest schlüssig dar­ge­legt. Der er­for­der­li­che Kau­sal­zu­sam­men­hang zwi­schen der be­nach­tei­li­gen­den Be­hand­lung und dem Merk­mal der Be­hin­de-rung liegt be­reits dann vor, wenn die Be­hin­de­rung der Kläge­rin Be­stand­teil ei­nes Mo­tivbündels für die Kündi­gung ge­we­sen wäre (ständi­ge Recht­spre­chung, vgl. nur BAG 25.04.2013 aaO Rn 34). Die Ein­wen­dung des be­klag­ten Lan­des, die Kündi­gung sei nicht im Zu­sam­men­hang mit der Schwer­be­hin­de­rung der Kläge­rin er­folgt, greift nicht durch, weil das Präven­ti­ons­ver­fah­ren als „Chan­cen­vor­teil“ für schwer­be­hin­der­te Men­schen ge­ra­de da­zu die­nen soll, die Ur­sa­che für die auf­ge­tre­te­nen Schwie­rig­kei­ten in Er­fah­rung zu brin­gen.

3. Das be­klag­te Land traf je­doch kei­ne Rechts­pflicht, in­ner­halb der War­te­zeit ein Präven­ti­ons­ver­fah­ren nach § 84 Abs. 1 SGB IX durch­zuführen. Dies gilt nicht nur - wie vom Bun­des­ar­beits­ge­richt be­reits ent­schie­den - für den Kündi­gungs­schutz­pro­zess, son­dern auch für den vor­lie­gen­den Entschädi­gungs­pro­zess.

a) Mit Ur­teil vom 07.12.2006 (2 AZR 182/06 - AP KSchG 1969 § 1 Ver­hal­tens­be­ding­te Kün-di­gung Nr. 56) hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt ent­schie­den, die Durchführung des Präven­ti­on-

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sver­fah­rens sei kei­ne for­mel­le Wirk­sam­keits­vor­aus­set­zung für den Aus­spruch ei­ner Kündi­gung ge­genüber ei­nem schwer­be­hin­der­ten Men­schen. Die Vor­schrift stel­le je­doch ei­ne Kon­kre­ti­sie­rung des dem ge­sam­ten Kündi­gungs­schutz­recht in­ne­woh­nen­den Verhält­nismäßig­keits­grund­sat­zes dar. Ei­ne Kündi­gung könne da­mit we­gen Ver­s­toßes ge­gen die­ses Prin­zip so­zi­al un­ge­recht­fer­tigt sein, wenn bei gehöri­ger Durchführung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens Möglich­kei­ten be­stan­den hätten, die Kündi­gung zu ver­mei­den.

Zur wei­te­ren Fra­ge, ob die Durchführung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens Aus­wir­kun­gen auf die Rechts­wirk­sam­keit ei­ner Kündi­gung in der War­te­zeit ent­fal­tet, hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG 28.06.2007 - 6 AZR 750/06 - AP BGB § 307 Nr. 27; BAG 24.01.2008 - 6 AZR 97/07 - NZA-RR 2008, 405) in kon­se­quen­ter Fortführung sei­ner Recht­spre­chung ent­schie­den, dass die un­ter­blie­be­ne Durchführung des Ver­fah­rens in­so­weit kei­ne kündi­gungs­recht­li­chen Fol­gen ha­be. Wenn das Kündi­gungs­schutz­ge­setz nicht an­wend­bar sei, fin­de der Grund­satz der Verhält­nismäßig­keit kei­ne An­wen­dung. Es kom­me hin­zu, dass auch der präven­ti­ve Kündi­gungs­schutz für schwer­be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer nach § 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX nicht für Kündi­gun­gen gel­te, die in den ers­ten sechs Mo­na­ten des Ar­beits­verhält­nis­ses er­folg­ten. Der Ar­beit­ge­ber ha­be sol­che Kündi­gun­gen le­dig­lich nach § 90 Abs. 3 SGB IX in­ner­halb von 4 Ta­gen dem In­te­gra­ti­ons­amt an­zu­zei­gen.

Un­ter Aus­ein­an­der­set­zung mit ei­ner ge­gen­tei­li­gen Mei­nung im Schrift­tum (Dei­nert, NZA 2010, 969; ders. in: Dei­nert/Neu­mann, Re­ha­bi­li­ta­ti­on und Teil­ha­be be­hin­der­ter Men­schen, 2. Aufl. § 18 Rn. 4) hat sich das Bun­des­ar­beits­ge­richt zu­dem mit der Fra­ge be­fasst, ob die Rah­men­richt­li­nie 2000/78/EG ei­ne an­de­re Be­trach­tungs­wei­se ver­lan­ge. Hier­zu hat es aus­geführt, es sei­en zwar nach Art. 5 der Richt­li­nie an­ge­mes­se­ne Vor­keh­run­gen zu tref-fen, um die An­wen­dung des Gleich­be­hand­lungs­grund­sat­zes auf Men­schen mit Be­hin­de­rung zu gewähr­leis­ten. Im Rah­men der An­ge­mes­sen­heits­prüfung sei aber zu berück­sich­ti­gen, dass der Ar­beit­ge­ber die Möglich­keit zur Er­pro­bung des neu ein­ge­stell­ten Mit­ar­bei­ters ha­ben müsse. Der gel­ten­de Son­derkündi­gungs­schutz nach §§ 85 ff. SGB IX wer­de dem ge­recht, weil er erst nach sechs­mo­na­ti­gem Be­ste­hen des Ar­beits­verhält­nis­ses ein­set­ze.

Die Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts ist im Schrift­tum im We­sent­li­chen auf Zu­stim­mung ges­toßen (Er­fur­ter Kom­men­tar 14. Aufl. § 84 Rn. 3; Knit­tel, SGB IX, 5. Aufl. § 84 Rn. 49; Lach­witz/Schell­horn/Welti-Trenk-Hin­ter­ber­ger, SGB IX, 3. Aufl. § 84 Rn. 25). Auch die Kam­mer hält sie für sie über­zeu­gend. An­ge­sichts der in § 1 Abs. 1 KSchG und § 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX nor­mier­ten Kündi­gungs­frei­heit wäre es wi­dersprüchlich, ei­ne Kün-di­gung von schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mern in­ner­halb der War­te­zeit - von dem ver-

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fas­sungs­recht­li­chen Min­dest­maß an Be­stands­schutz ab­ge­se­hen - an die Be­ach­tung des Grund­sat­zes der Verhält­nismäßig­keit zu bin­den.

b) Da­mit ist aber noch nicht die Fra­ge geklärt, ob auch im Entschädi­gungs­pro­zess die Un­ter­las­sung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens in­ner­halb der War­te­zeit oh­ne Rechts­fol­gen bleibt.

aa) Die vom Bun­des­ar­beits­ge­richt für den Be­stands­schutz­pro­zess an­ge­stell­ten Erwägun­gen können nicht oh­ne wei­te­res auf den Entschädi­gungs­pro­zess über­tra­gen wer­den. Wie be­reits oben aus­geführt, be­sit­zen das Kündi­gungs­schutz­recht und das Dis­kri­mi­nie­rungs­recht un­ter­schied­li­che Schutz­zwe­cke. Während es im Kündi­gungs­recht um die Wirk­sam­keit ei­ner Be­en­di­gungs­erklärung geht, soll das Dis­kri­mi­nie­rungs­recht ein be­nach­tei­li­gungs­frei­es Ver­fah­ren si­cher­stel­len (BAG 16.02.2012 aaO Rn 59; BAG 22.08.2013 aaO Rn 59; BVerwG 03.03.2011 aaO Rn 29; VGH Ba­den-Würt­tem­berg 10.09.2013 - 4 S 547/12 - NZA-RR 2014, 159). Hier­aus könn­te ge­fol­gert wer­den, dass das Präven­ti­ons­ver­fah­ren dis­kri­mi­nie­rungs­recht­lich ei­ne an­ge­mes­se­ne Vor­keh­rung im Sin­ne von Art. 5 der Rah­men­richt­li­nie dar­stellt, auch wenn es kündi­gungs­recht­lich für die Rechts­wirk­sam­keit ei­ner War­te­zeitkündi­gung kei­ne Aus­wir­kun­gen hat.

bb) Ge­gen die­se Be­trach­tungs­wei­se spricht aber ent­schei­dend, dass das Präven­ti­ons­ver­fah­ren kei­ne an­ge­mes­se­ne Vor­keh­rung im Sin­ne des Art. 5 der Rah­men­richt­li­nie 2000/78/EG sein kann, wenn es in­ner­halb des zur Verfügung ste­hen­den Zeit­raums nicht sinn­voll durch­geführt wer­den kann. § 84 Abs. 1 SGB IX re­gelt nicht, wel­che An-for­de­run­gen an das Präven­ti­ons­ver­fah­ren zu stel­len sind. Es be­stimmt le­dig­lich, dass der Ar­beit­ge­ber bei Ein­tre­ten von per­so­nen-, ver­hal­tens- oder be­triebs­be­ding­ten Schwie­rig­kei­ten im Ar­beits­verhält­nis, die zur Gefähr­dung die­ses Verhält­nis­ses führen können, möglichst frühzei­tig die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung und die in § 93 ge­nann­ten Ver­tre­tun­gen so­wie das In­te­gra­ti­ons­amt ein­schal­tet, um mit die­sen Stel­len die Möglich­kei­ten zu erörtern, mit de­nen die Schwie­rig­kei­ten be­sei­tigt wer­den können und das Ar­beits­verhält­nis möglichst dau­er­haft fort­ge­setzt wer­den kann. Eben­so wie das Be­trieb­li­che Ein­glie­de­rungs­ma­nage­ment han­delt es sich bei dem Präven­ti­ons­ver­fah­ren um ein dia­lo­gi­sches, ko­ope­ra­ti­ves und er­geb­nis­of­fe­nes Ver­fah­ren (Dau/Düwell/Jous­sen, SGB IX, 4. Aufl. § 84 Rn 24). Der Ar­beit­ge­ber soll un­ter Be­tei­li­gung von fach­lich zuständi­gen Stel­len und der Ar­beit­neh­mer­ver­tre­tun­gen son­die­ren, auf wel­che Wei­se die auf­ge­tre­te­nen Schwie­rig­kei­ten be­sei­tigt wer­den können. Die­ses Ver­fah­ren ist - sorgfältig durch­geführt - fach­lich an­spruchs­voll und zeit­lich aufwändig. Der Ar­beit­ge­ber genügt sei­nen Ver­pflich­tun­gen nicht be­reits da­durch, dass

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er die ver­schie­de­nen Stel­len anhört. Die in § 84 Abs. 1 SGB IX ge­nann­ten Stel­len und Per­so­nen müssen in die La­ge ver­setzt wer­den, den Sach­ver­halt zu prüfen und fun­dier­te Emp­feh­lun­gen zu ge­ben. Ein der­ar­ti­ges Ver­fah­ren er­for­dert Zeit.

Die­se Zeit steht aber in­ner­halb der War­te­zeit des § 1 Abs. 1 KSchG, § 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX nicht zur Verfügung. Im All­ge­mei­nen wird sich der Ar­beit­ge­ber ein Bild über die Eig­nung des Ar­beit­neh­mers nicht in­ner­halb der ers­ten Zeit des Ar­beits­verhält­nis­ses ma­chen können. Nach der Ein­ar­bei­tungs­pha­se wird er die ers­ten Ar­beits­er­geb­nis-se prüfen bzw. sich von den zuständi­gen Vor­ge­setz­ten Be­richt er­stat­ten las­sen. So­dann wird er ent­we­der Gespräche mit dem Ar­beit­neh­mer führen, um fest­ge­stell­te Mängel zu be­he­ben oder aber, falls die De­fi­zi­te zu gra­vie­rend sind, den Aus­spruch ei­ner Kündi­gung vor­be­rei­ten.

cc) Bei die­ser Sach­la­ge ist das recht­li­che Span­nungs­feld of­fen­kun­dig: Ent­we­der führt der Ar­beit­ge­ber das Präven­ti­ons­ver­fah­ren ent­spre­chend den ge­schil­der­ten An­for­de­run­gen durch; dann wird er ei­ne den­noch er­for­der­lich wer­den­de Kündi­gung zeit­lich nicht mehr in­ner­halb der War­te­zeit aus­spre­chen können. Oder er führt das Präven­ti­ons­ver­fah­ren im „Schnell­durch­gang“ durch; dann wird er den Vor­wurf auf sich zie­hen, das Präven­ti­ons­ver­fah­ren nur der Form hal­ber durch­geführt zu ha­ben, um entschädi­gungs­recht­li­che Nach­tei­le zu ver­mei­den. Bei die­ser Sach­la­ge ist die Kam­mer der Auf­fas­sung, dass die Rechts­ord­nung kei­ne An­for­de­rung stel­len darf, die der Ar­beit­ge­ber bei ord­nungs­gemäßer Hand­lungs­wei­se nicht erfüllen kann. Es verhält sich in­so­weit an­ders als in dem von der Kläge­rin her­an­ge­zo­ge­nen Fall der Ent­las­sung ei­nes schwer­be­hin­der­ten Rich­ters während der Pro­be­zeit. Hier­zu der Bun­des­ge­richts­hof (BGH 20.12.2006 - RiZ (R) 2/06) ent­schie­den, die Un­ter­las­sung des Präven­ti­ons­ver­fah­rens führe zwar nicht zur Rechts­wid­rig­keit der Ent­las­sung, könne aber bei der Ausübung des Er­mes­sens berück­sich­tigt wer­den. Hier­bei ist je­doch zu be­ach­ten, dass die rich­ter­li­che Pro­be­zeit nach § 12 Abs. 2 DRiG bis zu fünf Jah­ren beträgt.

4. Ei­ne Ver­mu­tung für ei­ne Be­nach­tei­li­gung der Kläge­rin folgt auch nicht aus ei­ner un­zu­rei­chen­den Be­tei­li­gung der Per­so­nal­ver­tre­tun­gen.

a) Nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts können Verstöße ge­gen ge­setz­li­che Ver­fah­rens­re­ge­lun­gen, die zur Förde­rung der Chan­cen der schwer­be­hin­der­ten Men­schen ge­schaf­fen wur­den, ei­ne In­dizwir­kung für ei­ne Be­nach­tei­li­gung be­gründen (BAG 17.08.2010 - 9 AZR 839/08 - AP AGG § 15 Nr. 4; BAG 21.02.2013 - 8 AZR 180/12 - NZA 2013, 840 Rn 37). Es han­delt sich hier­bei um Förder­pflich­ten im Sin­ne von § 5 AGG und

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Art. 5 der Rah­men­richt­li­nie 2000/78/EG. Im Stel­len­be­set­zungs­ver­fah­ren er­gibt sich aus § 81 Abs. 1 Satz 4 SGB IX, dass der Ar­beit­ge­ber die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung und die in § 93 SGB IX ge­nann­ten Ver­tre­tun­gen (ins­be­son­de­re Be­triebs- und Per­so­nal­rat) über die Ver­mitt­lungs­vor­schläge der Bun­des­agen­tur für Ar­beit und die vor­lie­gen­den Be­wer­bun­gen zu un­ter­rich­ten hat. Was die Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses durch Kündi­gung be-trifft, so hat der Ar­beit­ge­ber die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung nach § 95 Abs. 2 SGB IX über sei­ne Kündi­gungs­ab­sicht zu un­ter­rich­ten und die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung vor der Ent­schei­dung an­zuhören. Da­mit han­delt es sich auch bei die­ser Be­tei­li­gung der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung um ei­ne Förder­pflicht im Sin­ne von § 5 AGG und Art. 5 der Rah­men­richt­li­nie 2000/78/EG. Da schließlich auch die Per­so­nal­ver­tre­tung nach § 68 Abs. 1 Nr. 4 LPVG BW die all­ge­mei­ne Auf­ga­be hat, die Ein­glie­de­rung und be­ruf­li­che Ent­wick­lung von schwer­be­hin­der­ten Beschäftig­ten zu fördern, stellt auch die Be­tei­li­gung des Per­so­nal­rats ei­ne Förder­pflicht im Sin­ne der ge­nann­ten Vor­schrif­ten dar.

b) Das be­klag­te Land hat die ge­setz­li­chen Ver­fah­rens­re­ge­lun­gen, die zur Förde­rung der Chan­cen der schwer­be­hin­der­ten Men­schen ge­schaf­fen wur­den, im Streit­fall be­ach­tet.

aa) Das be­klag­te Land hat vor Aus­spruch der Kündi­gung vom 08.03.2013 die Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung und den Haupt­per­so­nal­rat be­tei­ligt. Die Zuständig­keit die­ser beim In­nen­mi­nis­te­ri­um ge­bil­de­ten Ver­tre­tun­gen er­gab sich dar­aus, dass die Kläge­rin dem „höhe­ren Dienst“ zu­zu­ord­nen war, die Ent­schei­dung über die Kündi­gung so­mit dem In­nen­mi­nis­te­ri­um ob­lag. Da­mit war nach § 85 Abs. 2 LPVG BW, § 97 Abs. 3 SGB IX der Haupt­per­so­nal­rat und die Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung vor Aus­spruch der Kündi­gung zu be­tei­li­gen.

bb) Die Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung in Per­son von Herrn Dr. K. er­hielt aus­weis­lich des Schrei­bens vom 13.02.2013 (An­la­ge BK 2) be­reits Mit­te Ja­nu­ar 2013 die In­for­ma­ti­on, dass die Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses mit der Kläge­rin be­ab­sich­tigt sei. Hier­auf wand­te sich Herr Dr. K. in dem be­sag­ten Schrei­ben „im Vor­griff auf die zu er­war­ten­de Be­tei­li­gungs­vor­la­ge“ an das In­nen­mi­nis­te­ri­um und brach­te sei­ne Be­den­ken ge­gen die­se Ent­schei­dung zum Aus­druck. Die of­fi­zi­el­le Be­tei­li­gung der Haupt-schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung und des Haupt­per­so­nal­rats er­folg­te so­dann mit Schrei­ben des In­nen­mi­nis­te­ri­ums vom 20.02.2013 (An­la­ge 1 zum Schrift­satz des be­klag­ten Lan­des vom 10.10.2013). Aus­weis­lich der vor­ge­leg­ten Mails ging die­ses Schrei­ben an Herrn Dr. K. und an den Haupt­per­so­nal­rat. Der Vor­sit­zen­de des Haupt­per­so­nal­rats, Herr L., äußer­te sich dar­auf­hin mit Mail vom 25.02.2013 (An­la­ge BK 5) ab­leh­nend zu der Kündi­gungs­ab­sicht des In­nen­mi­nis­te­ri­ums. Mit Mail vom

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26.02.2013 bestätig­te er im An­schluss an die Sit­zung des Haupt­per­so­nal­rats die Ab­leh­nung der Kündi­gung (An­la­ge BK 6 - nicht zur Ge­richts­ak­te ge­reicht).

cc) Auf­grund der ge­nann­ten Stel­lung­nah­men steht fest, dass so­wohl die Haupt­schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung als auch der Haupt­per­so­nal­rat die Ge­le­gen­heit hat­ten, sich für die Kläge­rin ein­zu­set­zen. Auf die zwi­schen den Par­tei­en strei­ti­ge Fra­ge, ob Herr Dr. K. in ei­nem Te­le­fo­nat vom 21.02.2013 auf ei­ne wei­te­re förm­li­che Stel­lung­nah­me ver­zich­te­te, kommt es nicht an. Sei­ne Be­den­ken ge­gen die be­ab­sich­tig­te Kündi­gung hat­te Herr Dr. K. be­reits in sei­nem Schrei­ben vom 13.02.2013 um­fas­send zum Aus­druck ge­bracht. Der Schutz­funk­ti­on der ge­setz­li­chen Ver­fah­rens­re­ge­lun­gen war da­mit genügt.

 

III.

Die Kläge­rin hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kos­ten ih­res oh­ne Er­folg ein­ge­leg­ten Rechts­mit­tels zu tra­gen. Die Zu­las­sung der Re­vi­si­on be­ruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG. Die Rechts­fra­ge, wel­che Be­deu­tung das Präven­ti­ons­ver­fah­ren dis­kri­mi­nie­rungs­recht­lich hat, ist bis­lang höchst­rich­ter­lich nicht geklärt.

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Rechts­mit­tel­be­leh­rung

1. Ge­gen die­ses Ur­teil kann d. Kläg. schrift­lich Re­vi­si­on ein­le­gen. Die Re­vi­si­on muss in­ner­halb ei­ner Frist von ei­nem Mo­nat, die Re­vi­si­ons­be­gründung in­ner­halb ei­ner Frist von zwei Mo­na­ten bei dem

Bun­des­ar­beits­ge­richt
Hu­go-Preuß-Platz 1
99084 Er­furt

ein­ge­hen.

Bei­de Fris­ten be­gin­nen mit der Zu­stel­lung des in vollständi­ger Form ab­ge­fass­ten Ur­teils, spätes­tens aber mit Ab­lauf von fünf Mo­na­ten nach der Verkündung.

Die Re­vi­si­on und die Re­vi­si­ons­be­gründung müssen von ei­nem Pro­zess­be­vollmäch­tig­ten un­ter­zeich­net sein. Als Pro­zess­be­vollmäch­tig­te sind nur zu­ge­las­sen:

a. Rechts­anwälte,

b. Ge­werk­schaf­ten und Ver­ei­ni­gun­gen von Ar­beit­ge­bern so­wie Zu­sam­men­schlüsse sol­cher Verbände für ih­re Mit­glie­der oder für an­de­re Verbände oder Zu­sam­men­schlüsse mit ver­gleich­ba­rer Aus­rich­tung und de­ren Mit­glie­der,

c. ju­ris­ti­sche Per­so­nen, die die Vor­aus­set­zun­gen des § 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 ArbGG erfüllen.

In den Fällen der lit. b und c müssen die han­deln­den Per­so­nen die Befähi­gung zum Rich­ter­amt ha­ben.

2. Für d. Bekl. ist ge­gen die­ses Ur­teil ein Rechts­mit­tel nicht ge­ge­ben. Auf § 72a ArbGG wird hin­ge­wie­sen.

 


Dr. Nat­ter

End­e­res

Ru­off

 


Hin­weis:
Die Geschäfts­stel­le des Bun­des­ar­beits­ge­richts wünscht die Vor­la­ge der Schriftsätze in sie­ben­fa­cher Fer­ti­gung, für je­den wei­te­ren Be­tei­lig­ten ei­ne wei­te­re Mehr­fer­ti­gung.

 


 

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