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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 09|2023

Update Arbeitsrecht 09|2023 vom 03.05.2023

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Zu weitgehender formularvertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25.01.2023, 10 AZR 109/22

Ein vom Arbeitgeber vorformulierter Freiwilligkeitsvorbehalt, der sich auf Sonderzuwendungen bezieht, muss eine Ausnahme für spätere Individualvereinbarungen enthalten.

§§ 133; 151; § 305b; 307 Abs.1; 315; 611a Abs.2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

Rechtlicher Hintergrund

Arbeitsvertragliche Freiwilligkeitsvorbehalte sind praktisch immer in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) enthalten, d.h. in einseitig vom Arbeitgeber vorformulierten Vertragsklauseln. Sie werden daher im Streitfall von den Gerichten auf ihre Verständlichkeit und inhaltliche Angemessenheit hin überprüft.

Gemäß § 307 Abs.1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) sind arbeitsvertragliche AGB unwirksam, wenn sie den Arbeitnehmer entgegen Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Dabei kann eine unangemessene Benachteiligung auch daraus folgen, dass eine Klausel nicht klar und verständlich („intransparent“) ist.

Bereits 2011 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dass die Kombination eines in AGB enthaltenen Freiwilligkeitsvorbehalts mit einem Widerrufsvorbehalt unklar und daher unwirksam ist (BAG, Urteil vom 14.09.2011, 10 AZR 526/10, Rn.18). Denn ein Freiwilligkeitsvorbehalt lässt einen Anspruch erst gar nicht entstehen, so dass ein Widerrufsrecht gegenstandslos ist.

Nach diesem BAG-Urteil sind Freiwilligkeitsvorbehalte auch unwirksam, wenn sie alle möglichen künftigen „Leistungen des Arbeitgebers“ erfassen, d.h. unabhängig von der Art der Leistung und der rechtlichen Anspruchsgrundlage (BAG, Urteil vom 14.09.2011, 10 AZR 526/10, Rn.29-41). 

Denn dies kann auch als Ausschluss von Ansprüchen auf laufendem Arbeitslohn zu verstehen sein. Ein solcher Anspruchsausschluss ist aber unzulässig (BAG, Urteil vom 14.09.2011, 10 AZR 526/10, Rn.18, 37).

Fraglich ist, ob Freiwilligkeitsvorbehalte wirksam sind, die sich nicht auf laufendes Arbeitsentgelt beziehen, sondern auf Einmalzahlungen, und die von vornherein jeden Anspruch ausschließen, so dass diese negative Bedeutung - zumindest auf den ersten Blick - eindeutig ist. 

Eine solche Klausel hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg, d.h. seine Elfte Kammer, 2021 abgesegnet (LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 12.10.2021, 11 Sa 33/21, Rn.11, 54, 55). 

Dieser Aussage hat aber kurz darauf die Neunte Kammer des LAG Baden-Württemberg widersprochen und entschieden, dass auch Freiwilligkeitsvorbehalte, die sich auf Sonderzuwendungen beziehen, eine Ausnahme für abweichende Individualvereinbarungen enthalten müssen (LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 10.01.2022, 9 Sa 66/21, s. dazu Update Arbeitsrecht 10|2022).

Vor kurzem musste das BAG über den Fall der Neunten Kammer des LAG Baden-Württemberg entscheiden und hat sich - zugunsten des klagenden Arbeitnehmers - der Ansicht der Neunten Kammer angeschlossen.

Sachverhalt

Im Streitfall ging es um einen in arbeitsvertraglichen AGB enthaltenen Freiwilligkeitsvorbehalt, der wie folgt lautete:

„Die Zahlung von Sonderzuwendungen insbesondere von Weihnachts- und/ oder Urlaubsgeld liegt im freien Ermessen des Arbeitgebers und begründet keinen Rechtsanspruch für die Zukunft, auch wenn die Zahlung mehrfach und ohne ausdrücklichen Vorbehalt der Freiwilligkeit erfolgt.“ 

Darüber hinaus war in den arbeitsvertraglichen AGB folgende Schriftformklausel enthalten:

„Mündliche Nebenabreden bestehen nicht. Änderung und Ergänzungen dieses Vertrages bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform.“ 

Nachdem der Arbeitgeber von 2015 bis 2019 jeweils im Juni ein Urlaubsgeld in Höhe von zuletzt 1.522,50 EUR brutto und im November ein Weihnachtsgeld in Höhe von zuletzt 1.540,00 EUR brutto ohne Vorbehalt an den Arbeitnehmer und an einige Kollegen gezahlt hatte, blieben diese Zahlungen im Jahr 2020 aus. 

Daher klagte der Arbeitnehmer auf 3.062,50 EUR brutto für 2020, d.h. auf die Summe des im Vorjahr 2019 gezahlten Urlaubsgeldes (1.522,50 EUR) und Weihnachtsgeldes (1.540,00 EUR). Das Arbeitsgericht Villingen-Schwenningen wies die Klage ab, da es den Freiwilligkeitsvorbehalt als wirksam ansah (Urteil vom 23.09.2021, 1 Ca 234/21). 

Demgegenüber gab die Neunte Kammer des LAG Baden-Württemberg dem Kläger recht. Die Anspruchsgrundlage lag hier in einer betrieblichen Übung und/oder in einer - durch mehrjährige Leistung bewirkten - stillschweigenden („konkludenten“) Vertragsergänzung. 

Aufgrund der wechselnden Höhe der Zahlungen bestand ein Anspruch auf Sonderzahlungen nach billigem Ermessen des Arbeitgebers gemäß § 315 BGB. Im Streitfall sprach nichts dagegen, die Zahlungen für 2020 gerichtlich in Höhe der Vorjahreszahlungen festzusetzen.

Nach Ansicht des LAG war der Freiwilligkeitsvorbehalt unwirksam, da er keine Ausnahme zugunsten von Ansprüchen enthielt, die sich aus späteren Individualvereinbarungen ergeben könnten. 

Entscheidung des BAG

Das BAG wies die Revision des Arbeitgebers bis auf einen Teil der Zinsforderungen zurück.

Der Kläger hatte einen Anspruch auf Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld in einer Höhe, die nach billigem Ermessen gemäß § 315 BGB festzusetzen war, und sich „aus betrieblicher Übung“ ergab (BAG, Urteil, Rn.10).

Entsprechend der vom BAG schon seit längerem vertretenen rechtsgeschäftlichen Herleitung einer betrieblichen Übung hebt das BAG darauf ab, dass die Sonderzahlungen und ihre Annahme durch den Arbeitnehmer in den Jahren 2015 bis 2019 als Vertragsangebot des Arbeitgebers und als stillschweigende Annahme durch den Arbeitnehmer gemäß § 151 BGB zu bewerten bzw. gemäß §§ 133, 157 BGB auszulegen waren (BAG, Urteil, Rn.11-18). 

Dass die Höhe der Zahlungen schwankte, verhinderte das Entstehen einer Betriebsübung nicht. Der Zahlungsanspruch lag zwar nicht exakt fest, bestand aber und richtete sich der Höhe nach „billigem Ermessen“ des Arbeitgebers (BAG, Urteil, Rn.18).

Der streitige Freiwilligkeitsvorbehalt war unwirksam. Er war zwar nicht intransparent, beinhaltete aber eine sachlich unangemessene Benachteiligung des Klägers im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB, da er nicht auf den Entstehungsgrund etwaiger Ansprüche auf Sonderzuwendungen abstellte. Daher ließ die Klausel die Auslegung zu, dass der Vorbehalt auch spätere Individualvereinbarungen über Sonderzuwendungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld erfassen sollte.

Mit diesem Inhalt verstieß die Klausel aber gegen den gesetzlichen Vorrang von Individualvereinbarungen gegenüber AGB, d.h. gegen § 305b BGB. Denn sie schloss nicht nur Ansprüche auf Sonderzahlungen aus, die sich aus einer Betriebsübung ergeben könnten, sondern sämtliche künftigen Ansprüche auf Sonderzahlungen, gleich aus welchem Rechtsgrund sie bestehen könnten (BAG, Urteil, Rn.26-27).

Diese weitgehende Auslegung der Klausel wurde durch die Schriftformklausel bestätigt. Sie verstärkte den Eindruck, dass sämtliche späteren, nicht schriftlich getroffenen Individualabreden entgegen § 305b BGB unwirksam sein sollten.

Praxishinweis

Dem BAG ist zuzustimmen. Freiwilligkeitsvorbehalte ohne eine ausdrückliche Ausnahme zugunsten späterer Individualvereinbarungen sind unwirksam, auch wenn sie wie im Streitfall „nur“ auf Sonderzuwendungen bezogen und vor allem gegen das Entstehen einer Betriebsübung gerichtet sind.

Wirksame Freiwilligkeitsvorbehalte müssen mit dem ausdrücklichen Hinweis versehen werden, dass der Vorbehalt nicht für spätere Individualvereinbarungen gelten soll, die gegenüber dem Vorbehalt rechtlich vorrangig sind.

Außerdem sollten Sonderzahlungen mit Begleitschreiben versehen werden, in denen auf die Freiwilligkeit der Zahlung hingewiesen wird und deutlich gemacht wird, dass die Zahlung keinen Anspruch für die Zukunft begründen soll. Dadurch wird verhindert, dass Arbeitnehmer die Zahlung als Angebot einer Vertragsergänzung verstehen, d.h. im Sinne der Begründung einer Betriebsübung.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25.01.2023, 10 AZR 109/22

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 10.01.2022, 9 Sa 66/21

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 12.10.2021, 11 Sa 33/21

 

Handbuch Arbeitsrecht: Arbeitsvertrag und allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB)

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Handbuch Arbeitsrecht: Betriebliche Übung

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