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ARBEITSRECHT AKTUELL // 11/004

Auch ren­ten­na­he Ar­beit­neh­mer ha­ben ei­nen An­spruch auf Ab­fin­dungs­zah­lung

EuGH stärkt Rech­te äl­te­rer Ar­beit­neh­mer bei Ab­fin­dun­gen: Eu­ro­päi­scher Ge­richts­hof, Ur­teil vom 12.10.2010, C-499/08 (In­ge­niør­fo­re­nin­gen i Dan­mark ./. Re­gi­on Syddan­mark)
Europafahne Mit ei­ner Ab­fin­dung in die Ren­te

06.01.2011. Das hier be­spro­che­ne Ur­teil des Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hofs (EuGH) be­trifft ei­nen aus Dä­ne­mark stam­men­den Vor­la­ge­fall.

Der Fall und sei­ne eu­ro­pa­recht­li­che Be­wer­tung durch EuGH sind auch für das deut­scher Ar­beits­recht in­ter­es­sant, weil es hier um die Fra­ge geht, ob bzw. un­ter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen „ren­ten­na­he“ Ar­beit­neh­mer von Ab­fin­dun­gen aus­ge­schlos­sen und auf den Be­zug von Al­ters­ren­te ver­wie­sen wer­den kön­nen.

Aus Sicht der be­trof­fen äl­te­ren Ar­beit­neh­mer liegt hier ei­ne recht­lich un­zu­läs­si­ge Dis­kri­mi­nie­rung we­gen ih­res Al­ters vor: EuGH, Ur­teil vom 12.10.2010, C-499/08 (In­ge­niør­fo­re­nin­gen i Dan­mark ./. Re­gi­on Syddan­mark).

Über wel­che Rechts­fra­ge hat der Eu­ropäische Ge­richts­hof ent­schie­den?

Al­ters­be­ding­te Un­gleich­be­hand­lun­gen im Be­ruf sind in der Re­gel rechts­wid­rig, d.h. sie bedürfen ei­ner sach­li­chen Recht­fer­ti­gung. Das All­ge­mei­ne Gleich­be­hand­lungs­ge­setz (AGG) be­sagt hier im An­schluss an die Richt­li­nie 2000/78/EG des Ra­tes vom 27.11.2000, dass al­ters­be­ding­te Schlech­ter­stel­lun­gen zulässig sind, wenn sie „durch ein le­gi­ti­mes Ziel ge­recht­fer­tigt“ so­wie „ob­jek­tiv und an­ge­mes­sen“ und die Mit­tel zur Er­rei­chung ei­nes sol­chen Ziels „an­ge­mes­sen und er­for­der­lich“ sind, § 10 Satz 1 und 2 AGG.

Ein kon­kre­tes Bei­spiel für ei­ne sol­che Aus­nah­me nennt § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG: Ren­ten­na­he Ar­beit­neh­mer, die auf­grund ei­ner Be­triebsände­rung gekündigt wer­den, ha­ben kei­nen An­spruch auf ei­ne So­zi­al­plan­ab­fin­dung, falls Be­triebs­rat und Ar­beit­ge­ber das in ei­nem So­zi­al­plan so ent­schie­den ha­ben. In der So­zi­al­plan­pra­xis ha­ben ren­ten­n­ah­ne Ar­beit­neh­mer zwar doch in al­ler Re­gel ei­nen Ab­fin­dungs­an­spruch, doch ist der ge­rin­ger als bei jünge­ren, d.h. nicht ren­ten­na­hen Ar­beit­neh­mern.

Nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG) steht § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG nicht in Wi­der­spruch zum Eu­ro­pa­recht, ins­be­son­de­re nicht zu den Vor­ga­ben der Richt­li­nie 2000/78/EG (BAG, Ur­teil vom 26.05.2009, 1 AZR 198/08). Auf der Grund­la­ge die­ser Recht­spre­chung ist es in Deutsch­land üblich, So­zi­al­plan­ab­fin­dun­gen nach zwei un­ter­schied­li­chen For­meln zu er­rech­nen:

Auf jünge­re Ar­beit­neh­mer wird die So­zi­al­plan­ab­fin­dung nach ei­ner eher güns­ti­gen, ver­gan­gen­heits­be­zo­ge­nen Be­rech­nungs­for­mel er­mit­telt. Für die­se For­mel ist ins­be­son­de­re die Dau­er der Be­triebs­zu­gehörig­keit maßgeb­lich, so dass die Ab­fin­dung re­la­tiv hoch ausfällt.

Dem­ge­genüber wird die Ab­fin­dung ren­ten­na­her Ar­beit­neh­mer nach ei­ner eher ungüns­ti­gen, zu­kunfts­be­zo­ge­nen Be­rech­nungs­for­mel er­mit­telt. Für die­se For­mel ist maßgeb­lich, wie hoch der ent­las­sungs­be­ding­te fi­nan­zi­el­le Ver­lust bis zum Ein­tritt in die Ren­te ist, d.h. es geht um ei­nen Aus­gleich für den Lohn­ver­lust in­fol­ge des Be­zugs von Ar­beits­lo­sen­geld bzw. um ei­nen Aus­gleich von Ren­tenkürzun­gen in­fol­ge des vor­zei­ti­gen Be­ren­tungs ei­ner Ren­te, so dass die Ab­fin­dung nach die­ser Be­rech­nungs­wei­se eher ge­ring ausfällt.

Ob ei­ne Schlech­ter­stel­lung ren­ten­na­her Ar­beit­neh­mer bei der Ab­fin­dungshöhe mit der Richt­li­nie 2000/78/EG ver­ein­bar ist oder nicht, ist al­ler­dings frag­lich. Im­mer­hin gilt die­se Richt­li­nie auch in Be­zug auf die „Ent­las­sungs­be­din­gun­gen“ (Art. 3 Abs. 1 Buch­sta­be a) der Richt­li­nie). Der Eu­ropäische Ge­richts­hof (EuGH) hat nun­mehr in ei­nem däni­schen Vor­la­ge­fall zu die­ser Fra­ge Stel­lung ge­nom­men (EuGH, Ur­teil vom 12.10.2010, C-499/08).

Wel­cher Sach­ver­halt lag dem Ur­teil des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs zu­grun­de?

In Däne­mark ist ge­setz­lich fest­ge­legt, dass Ar­beit­neh­mer bei be­tribs­be­ding­ter Kündi­gung ei­nes min­des­tens 12jähri­gen Dienst­verhält­nis­ses ei­ne Ab­fin­dungs­zah­lung be­an­spru­chen können. Je nach Dau­er ei­ner Be­triebs­zu­gehörig­keit von zwölf, 15 oder 18 Jah­ren gibt es ei­ne Ab­fin­dung von ei­nem, zwei oder drei Mo­nats­gehältern.

Hat der Ar­beit­neh­mer al­ler­dings nach sei­nem Aus­tritt An­spruch auf ei­ne ge­setz­li­che Al­ters­ren­te oder be­steht auch nur die Möglich­keit ei­ner vor­zei­ti­gen In­an­spruch­nah­me ei­ner Al­ters­ren­te mit Ren­ten­ab­schlägen (!), so gilt die­se Re­ge­lung nicht, d.h. es gibt kei­ne Ab­fin­dung - selbst wenn der ent­las­se­ne Ar­beit­neh­mer zur Ver­mei­dung von Ren­ten­ab­schlägen wei­ter ar­bei­ten möch­te und da­her kei­ne Ren­te be­zieht.

Der bei ei­nem öffent­li­chen Ar­beit­ge­ber, der Re­gi­on Syddan­mark, beschäftig­te 63jähri­ge Ole An­der­sen wur­de nach 27 Jah­ren Be­triebs­zu­gehörig­keit En­de Au­gust 2006 be­triebs­be­dingt gekündigt. Er hätte ei­ne vor­zei­ti­ge Ren­te mit Ab­schlägen be­an­spru­chen können, ent­schied sich aber ge­gen die­se Möglich­keit und mel­de­te sich ar­beits­su­chend. Der Ar­beit­ge­ber wei­ger­te sich, ei­ne Ab­fin­dung zu zah­len, wor­auf­hin die Ge­werk­schaft, die In­ge­niørfo­re­nin­gen i Dan­mark, für Herrn An­der­sen auf Zah­lung ei­ner Ab­fin­dung klag­te.

Das däni­sche Ge­richt setz­te dar­auf­hin das Ver­fah­ren aus und frag­te den EuGH, ob der Aus­schluss ren­ten­be­rech­tig­ter Ar­beit­neh­mer von ei­nem Ab­fin­dungs­an­spruch ge­gen die Richt­li­nie 2000/78/EG verstößt (wir be­rich­te­ten über den Ent­schei­dungs­vor­schlag der Ge­ne­ral­anwältin in: Ar­beits­recht ak­tu­ell: 10/114 Aus­schluss ren­ten­na­her Ar­beit­neh­mer von Ab­fin­dung).

Wie hat der Eu­ropäische Ge­richts­hof ent­schie­den?

Der EuGH geht zunächst da­von aus, dass der Aus­schluss ren­ten­be­rech­tig­ter Ar­beit­neh­mer von ei­nem an sich be­ste­hen­den ge­setz­li­chen Ab­fin­dungs­an­spruch ei­ne al­lein al­ters­be­ding­te Be­nach­tei­li­gung ist, da man erst ab ei­nem be­stimm­ten Al­ter ren­ten­be­rech­tigt ist.

Art. 6 Abs. 1 Un­ter­ab­satz 1 der Richt­li­nie 2000/78/EG be­sagt al­ler­dings eben­so wie § 10 Satz 1 und 2 AGG, dass al­ters­be­ding­te Schlech­ter­stel­lun­gen ge­recht­fer­tigt sind und so­mit kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung dar­stel­len, wenn sie „ob­jek­tiv und an­ge­mes­sen“, durch ein „le­gi­ti­mes Ziel“ ge­recht­fer­tigt und wenn auch die „Mit­tel zur Er­rei­chung die­ses Ziels an­ge­mes­sen und er­for­der­lich“ sind.

Ein sol­ches le­gi­ti­mes Ziel im Sin­ne der Richt­li­nie kann nach An­sicht des EuGH dar­in lie­gen, Ar­beit­neh­mer mit lan­ger Be­triebs­zu­gehörig­keit zu schützen und sie bei ih­rer be­ruf­li­chen Wie­der­ein­glie­de­rung zu un­terstützen. Ent­spre­chend die­ser Ziel­stel­lung kann es ei­ne "ob­jek­ti­ve" Schlech­ter­stel­lung im Sin­ne der Richt­li­nie sein, ren­ten­be­rech­tig­te Ar­beit­neh­mer von der Un­terstützung bzw. Ab­fin­dung aus­zu­sch­ließen, weil die­se - an­ders als jünge­re Ar­beit­neh­mer - auf­grund der Ren­ten­be­rech­ti­gung nicht ge­hal­ten sind, sich ei­ne neue Ar­beit zu su­chen und in­fol­ge­des­sen auch kei­ne Ab­fin­dung benöti­gen.

Trotz die­ser im Aus­gangs­punkt ge­ge­be­nen sach­li­chen Nach­voll­zieh­bar­keit bzw. "Ob­jek­ti­vität" der strei­ti­gen däni­schen Re­ge­lung meint der EuGH, sie sei nicht er­for­der­lich und un­an­ge­mes­sen. Denn der völlig Aus­schluss von Ab­fin­dungs­zah­lun­gen ist für sol­che älte­ren bzw. ren­ten­be­rech­tig­ten Ar­beit­neh­mer un­zu­mut­bar, die ei­ner vor­zei­ti­gen Be­ren­tung ein er­neu­tes Beschäfti­gungs­verhält­nis vor­zie­hen.

Fa­zit: "Ren­ten­na­he" Ar­beit­neh­mer bei be­triebs­be­ding­ten Ent­las­sun­gen von jeg­li­chen Ab­fin­dungs­ansprüchen aus­zu­sch­ließen, wie dies § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG vor­sieht, wi­der­spricht wohl der Richt­li­nie 2000/78/EG. Das schließt nicht aus, dass ren­ten­na­he Ar­beit­neh­mer bei be­triebs­be­ding­ten Ent­las­sungs­wel­len bes­ser als jünge­re Kol­le­gen wirt­schaft­lich ab­ge­si­chert sind und die Be­triebs­part­ner dies bei der Fest­le­gung von So­zi­al­plan­ab­fin­dungs­for­meln berück­sich­ti­gen.

Will man ren­te­n­a­he Ar­beit­neh­mer al­ler­dings bei der So­zi­al­plan­ge­stal­tung we­nig güns­tig be­han­deln als jünge­re, wird man künf­tig ge­nau­er als bis­her prüfen müssen, in wel­chem Maße ei­ne sol­che wirt­schaft­li­che Bes­ser­stel­lung vor­liegt.

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Letzte Überarbeitung: 10. Juni 2017

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