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LAG Köln, Ur­teil vom 16.01.2014, 13 Sa 516/13

   
Schlagworte: Krankheit: Alkohol, Entgeltfortzahlung
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Köln
Aktenzeichen: 13 Sa 516/13
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 16.01.2014
   
Leitsätze: Bei einer Arbeitsunfähigkeit aufgrund langjähriger Alkoholabhängigkeit ist regelmäßig davon auszugehen, dass es sich um eine Krankheit handelt, die nicht vom Arbeitnehmer i.S.v. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG verschuldet ist (abweichend von der Rechtsprechung des BAG, vgl. etwa Urteil vom 27.05.1992 – 5 AZR 297/91).
Vorinstanzen:
   

Te­nor:

1. Die Be­ru­fung der Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Köln vom 29.05.2013 – 9 Ca 9134/12 – wird kos­ten­pflich­tig zurück­ge­wie­sen.

2. Die Re­vi­si­on wird zu­ge­las­sen.

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten darüber, ob die Be­klag­te der Kläge­rin aus über­ge­gan­ge­nem Recht (§ 115 Abs. 1 SGB X) Ent­gelt­fort­zah­lung schul­det.

Die Kläge­rin ist ei­ne ge­setz­li­che Kran­ken­kas­se. Ihr Mit­glied, Herr L war von 2007 bis zum 30.12.2011 bei der Be­klag­ten beschäftigt. Auf das Ar­beits­verhält­nis fin­det der all­ge­mein­ver­bind­li­che Bun­des­rah­men­ta­rif­ver­trag für das Bau­ge­wer­be (BRTV) An­wen­dung, der in § 15 ei­ne zwei­stu­fi­ge Aus­schluss­frist von je­weils zwei Mo­na­ten vor­sieht.

Ab dem 23.11.2011 war der al­ko­hol­abhängi­ge Herr L in­fol­ge ei­nes Sturz­trunks für über zehn Mo­na­te ar­beits­unfähig er­krankt. Er wur­de am 23.11.2011 mit ei­ner Al­ko­hol­ver­gif­tung (4,9 Pro­mil­le) bei völli­ger körper­li­cher und geis­ti­ger Be­we­gungs­lo­sig­keit ins S . F H ein­ge­lie­fert, wo er künst­lich be­at­met wer­den muss­te. Vom 29.11.2011 bis 15.01.2012 war er in sta­ti­onärer Be­hand­lung. In „so­zi­al­me­di­zi­ni­schen Be­ur­tei­lung“ des
„so­zi­al­me­di­zi­ni­schen Gut­ach­tens“ vom 14.05.2013 (Bl. 60 ff. d. A.) heißt es u. a.:

„Bei dem Ver­si­cher­ten be­steht auf­grund der vor­lie­gen­den me­di­zi­ni­schen Un­ter­la­gen zwei­fels­frei ei­ne langjähri­ge, chro­ni­sche Al­ko­hol­krank­heit mit den ty­pi­schen Fol­ge­er­kran­kun­gen wie z.B. die äthyl­to­xi­sche Le­ber­zir­rho­se mit Gal­len­kom­pli­ka­tio­nen. Aus den vor­lie­gen­den Un­ter­la­gen geht her­vor, dass der Ver­si­cher­te be­reits zwei­mal ei­ne sta­ti­onäre Ent­zugs­the­ra­pie durch­geführt hat. Es ist je­doch of­fen­sicht­lich im­mer wie­der zu Rückfällen ge­kom­men und so­mit auch zu dem Al­ko­hol­ex­zess am 23.11.2011, der bei dem Ver­si­cher­ten ei­nen, ko­matösen, be­at­mungs­pflich­ti­gen Zu­stand her­vor­rief bei re­spi­ra­to­ri­scher Insuf­fi­zi­enz in­fol­ge der Al­ko­holin­to­xi­ka­ti­on. Im Rah­men der not­wen­di­gen Lang­zeit­be­at­mung kam es dann zu den ty­pi­schen Kom­pli­ka­tio­nen im Ver­lauf, wie tu­busas­so­zi­ier­te, no­so­ko­mia­le Pneu­mo­nie, Aspi­ra­ti­ons­pneu­mo­nie und no­so­ko­mia­ler Si­nu­si­tis ma­xi­la­ris.

Auch die he­pa­to-bilären Kom­pli­ka­tio­nen sind, zu­min­dest zum Teil, Fol­ge der langjähri­gen, ex­zes­si­ven Al­ko­hol­kon­sums (Le­ber­zir­rho­se).

Es ist hier­aus zu fol­gern, dass der in­ten­si­ve Al­ko­hol­kon­sum, der am 23.11.2011 zur sta­ti­onären Be­hand­lungs­not­wen­dig­keit und zur Ar­beits­unfähig­keit führ­te im Rah­men ei­ner lang­wie­ri­gen, chro­ni­schen Er­kran­kung (Al­ko­hol­krank­heit) er­folg­te und nicht wil­lent­lich durch den Ver­si­cher­ten hätte ver­hin­dert oder ver­mie­den wer­den können (--Sucht­druck). Selbst­ver­schul­den ist so­mit me­di­zi­nisch aus­zu­sch­ließen.“ (Bl. 62, 63 d.A.)

Mit Schrei­ben vom 28.11.2011 kündig­te die Be­klag­te das Ar­beits­verhält­nis frist­los. Hier­ge­gen er­hob Herr L Kündi­gungs­schutz­kla­ge. Die Kläge­rin leis­te­te an ihn für den Zeit­raum 29.11.2011 bis 30.12.2011 Kran­ken­geld i. H. v. 1.303,36 € (32 Ta­ge x 40,73 €). Mit Schrei­ben vom 05.03. 2012 erklärte die Be­klag­te ge­genüber der Kläge­rin, dass sie für den Fall, dass das Ar­beits­verhält­nis durch Ur­teil oder Ver­gleich im Ar­beits­ge­richts­ver­fah­ren verlängert würde, auf die Ein­re­de des Lohn­ver­falls ver­zich­te. Am 21.06.2012 ei­nig­ten die Be­klag­te und Herr L im Kündi­gungs­schutz­ver­fah­ren auf ei­ne Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses zum 30.12.2011.

Mit Schrei­ben vom 18.07.2012 ver­lang­te die Be­klag­te von Herrn L Aus­kunft über „al­le für die Ent­ste­hung der be­haup­te­ten Al­ko­hol­abhängig­keit er­heb­li­chen Umstände“. Herr L re­agier­te dar­auf nicht. Die Kläge­rin mach­te mit Schrei­ben vom 19.07.2012 ih­re Ansprüche auf Ent­gelt­fort­zah­lung aus über­ge­gan­ge­nem Recht in Höhe von 1.306,36 € ge­genüber der Be­klag­ten gel­tend.

Das Ar­beits­ge­richt hat der Kla­ge statt­ge­ge­ben. Es hat zur Be­gründung aus­geführt, der Kläge­rin ste­he aus über­ge­gan­ge­nem Recht gemäß §§ 3 ff. EFZG, 115 Abs. 1 SGB X der gel­tend ge­mach­te Ent­gelt­fort­zah­lungs­an­spruch zu. Der An­spruch sei nicht nach § 15 BRTV ver­fal­len, da bei­de Stu­fen der Aus­schluss­frist be­reits durch die Kündi­gungs­schutz­kla­ge des Herrn L ge­wahrt sei­en. Dem Ent­gelt­fort­zah­lungs­an­spruch stünde nicht der Ein­wand des Ver­schul­dens an der Ar­beits­unfähig­keit (§ 3 Abs. 1 EFZG) ent­ge­gen. Die Ar­beits­unfähig­keit des Herrn L vom 23.11.2011 bis 30.12.2011 sei nicht des­halb als selbst­ver­schul­det an­zu­se­hen, weil die zu Grun­de lie­gen­de Al­ko­hol­abhängig­keit ver­schul­det her­bei­geführt wor­den sei. Ab­wei­chend von den durch das Bun­des­ar­beits­ge­richt auf­ge­stell­ten Grundsätzen ver­tritt das Ar­beits­ge­richt die Auf­fas­sung, dass es auf die Fra­ge des Ver­schul­dens an der der ak­tu­el­len Ar­beits­unfähig­keit zu Grun­de lie­gen­den Al­ko­hol­abhängig­keit nicht an­kom­me. Die Fra­ge des Ver­schul­dens ei­nes al­ko­hol­abhängi­gen Ar­beit­neh­mers an sei­ner Such­ter­kran­kung sei nur dann im Sin­ne von § 3 Abs. 1 EFZG re­le­vant, wenn es sich zu­gleich un­mit­tel­bar auf die Ur­sa­chen der ak­tu­el­len Ar­beits­unfähig­keit be­zie­he. Dies wer­de re­gelmäßig nicht der Fall sein und sei es auch vor­lie­gend nicht. Das Ver­schul­den an die­ser „Grun­d­er­kran­kung“ sei zu­dem re­gelmäßig nicht jus­ti­zia­bel. We­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten der Be­gründung wird auf die Ent­schei­dungs­gründe des Ur­teils vom 29.05.2013 (Bl. 95 - 107 d. A.) wird ver­wie­sen.

Ge­gen die­se Ent­schei­dung rich­tet sich die Be­ru­fung der Be­klag­ten, die den vom Bun­des­ar­beits­ge­richt ab­wei­chen­den Lösungs­an­satz des Ar­beits­ge­richts nicht für über­zeu­gend hält. Der An­satz des Ar­beits­ge­richts, dass es im Fall ei­ner Such­ter­kran­kung bei der Fra­ge des Ver­schul­dens nur auf die Ur­sa­che der ak­tu­el­len Ar­beits­unfähig­keit an­kom­me, führe zu Wer­tungs­wi­dersprüchen, da dann trotz an­ge­nom­me­ner Al­ko­hol­abhängig­keit ei­ne wie auch im­mer aus­ge­stal­te­te Steue­rungsfähig­keit an­ge­nom­men wer­den müsse. Das Ar­beits­ge­richt hätte den Sach­ver­halt im Hin­blick auf die vor­aus­ge­gan­ge­ne zwei­ma­li­ge Ent­zugs­the­ra­pie wei­ter aufklären oder die Kla­ge ab­wei­sen müssen, da ein Rück­fall nach mehr­fach sta­ti­onärem Ent­zug und der dies­bezüglich er­folg­ten Aufklärung als selbst­ver­schul­det an­zu­se­hen sei.

Die Be­klag­te be­an­tragt,

dass das Ur­teil ab­zuändern und die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Die Kläge­rin be­an­tragt die Zurück­wei­sung der Be­ru­fung.

Sie ver­tei­digt die an­ge­foch­te­ne Ent­schei­dung. Im Übri­gen ste­he das Ur­teil nicht im Wi­der­spruch zur Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts, da die Al­ko­hol­abhängig­keit bei Herrn L schon seit vie­len Jah­ren vor­ge­le­gen ha­be. Es ge­be kein An­zei­chen für ein grob fahrlässi­ges Ver­schul­den im Sin­ne von § 3 EFZG an sei­nem Al­ko­hol­miss­brauch am 23.11.2011.

We­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten des Sach-Streit­stan­des wird auf den Tat­be­stand des an­ge­foch­te­nen Ur­teils, die Be­ru­fungs­ver­fah­ren ge­wech­sel­ten Schriftsätze, die ein­ge­reich­ten Un­ter­la­gen und die Sit­zungs­pro­to­kol­le Be­zug ge­nom­men.

Ent­schei­dungs­gründe

I. Die Be­ru­fung ist zulässig, in der Sa­che hat sie je­doch kei­nen Er­folg. Das Ar­beits­ge­richt hat der Kla­ge zu Recht statt­ge­ge­ben. Die Kläge­rin hat ge­gen die Be­klag­te aus über­ge­gan­ge­nem Recht An­spruch auf Ent­gelt­fort­zah­lung nach §§ 3,4 EFZG, 115 Abs. 1 SGB X für den Zeit­raum 23.11. bis 30.12.2011 i. H. v. 1.303,36 €.

1. Der An­spruch auf Ent­gelt­fort­zah­lung ist gemäß § 115 Abs. 1 SGB X auf die 19 Kläge­rin über­ge­gan­gen, weil die­se an Herrn L für den ge­nann­ten Zeit­raum Kran­ken­geld (§§ 44 ff. SGB V) ge­leis­tet hat.

2. Der An­spruch auf Ent­gelt­fort­zah­lung ist – was zwi­schen den Par­tei­en in der 20 Be­ru­fung außer Streit ist – nicht ver­fal­len, da bei­de Stu­fen der ta­rif­li­chen Aus­schluss­frist nach § 15 BRTV be­reits durch die Kündi­gungs­schutz­kla­ge des Herrn L ge­wahrt ist, wo­bei für die 2. Stu­fe § 15 Nr. 2 S. 2 BRTV gilt.

3. Die Vor­aus­set­zun­gen des An­spruchs auf Ent­gelt­fort­zah­lung im Krank­heits­fall nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG sind erfüllt. Da­nach hat ein Ar­beit­neh­mer ge­gen den Ar­beit­ge­ber An­spruch auf Ent­gelt­fort­zah­lung bis zur Dau­er von sechs Wo­chen, wenn er durch Ar­beits­unfähig­keit in­fol­ge Krank­heit an sei­ner Ar­beits­leis­tung ver­hin­dert ist, oh­ne dass ih­nen ein Ver­schul­den trifft. Der langjährig al­ko­hol­abhängi­ge Ar­beit­neh­mer der
Be­klag­ten Herr L war vom 29.11.2011 bis 30.12.2011 ar­beits­unfähig er­krankt. Er war in die­ser Zeit we­gen ei­nes Sturz­trun­kes am 23.11.2011, der zu ei­ner Al­ko­hol­ver­gif­tung (4,9 Pro­mil­le) führ­te in sta­ti­onärer Be­hand­lung. Al­ko­hol­abhängig­keit ist ei­ne Krank­heit im me­di­zi­ni­schen und da­mit auch im ent­gelt­fort­zah­lungs­recht­li­chen Sin­ne (ständi­ge Rspr., vgl. et­wa BAG 27.05.1992 – 5 AZR 297/91; 01.06.1983 – 5 AZR 536/80 – je­weils noch zu § 1 Abs.1 LFZG). Zwi­schen den Par­tei­en ist le­dig­lich in Streit, ob den Ar­beit­neh­mer an sei­ner Al­ko­ho­lerkran­kung ein Ver­schul­den im Sin­ne des § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG trifft.

4. Schuld­haft im Sin­ne des Ent­gelt­fort­zah­lungs­rechts im Krank­heits­fall han­delt der Ar­beit­neh­mer, der gröblich ge­gen das von ei­nem verständi­gen Men­schen im ei­ge­nen In­ter­es­se zu er­war­ten­de Ver­hal­ten verstößt. Der Sa­che nach han­delt es sich um ein „Ver­schul­den ge­gen sich selbst“. Das Ge­setz schließt den An­spruch bei ei­ge­nem Ver­schul­den des Ar­beit­neh­mers aus, weil es un­bil­lig wäre, den Ar­beit­ge­ber mit der Lohn­fort­zah­lungs­ver­pflich­tung zu be­las­ten, wenn der Ar­beit­neh­mer zu­mut­ba­re Sorg­falt sich selbst ge­genüber außer Acht ge­las­sen hat und da­durch die Ar­beits­unfähig­keit ver­ur­sacht hat (ständi­ge Rspr. vgl. et­wa BAG 01.06.1983 – 5 AZR 536/80 – m. w. N.; 27.05.1992 – 5 AZR 297/91).

a. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt geht für das Ver­schul­den bei ei­ner Krank­heit we­gen Al­ko­hol­abhängig­keit in sei­ner grund­le­gen­den Ent­schei­dung vom 01.06.1983 (5 AZR 536/80 – zu § 1 Abs.1 S. 1 LohnFG) von fol­gen­den Grundsätzen aus:

1) Nach Ein­tritt der Er­kran­kung kann ein Ar­beit­neh­mer im Sin­ne die­ser Ent­gelt­fort­zah­lungs­be­stim­mun­gen nicht mehr schuld­haft han­deln. Die körper­li­che und psy­chi­sche Abhängig­keit vom Al­ko­hol, die es dem Pa­ti­en­ten nicht mehr er­laubt, mit ei­ge­ner Wil­lens­an­stren­gung vom Al­ko­hol los­zu­kom­men, schließt in die­sem Zeit­punkt ein Ver­schul­den des Er­krank­ten aus. Schuld­haft im Sin­ne der Ent­gelt­fort­zah­lungs­be­stim­mun­gen kann ein Ar­beit­neh­mer des­halb nur vor Ein­tritt der Er­kran­kung han­deln. Maßge­bend für die Be­ur­tei­lung der Ver­schul­dens­fra­ge in Fällen der Al­ko­hol­abhängig­keit ist al­so nur das Ver­hal­ten des Ar­beit­neh­mers, dass vor dem Zeit­punkt liegt, in dem die als Krank­heit zu wer­ten­de Al­ko­hol­abhängig­keit ein­ge­tre­ten ist. Dies gilt, ob­wohl ge­ra­de bei der Al­ko­hol­abhängig­keit der Zeit­punkt der Er­kran­kung – der Ein­tritt des Kon­troll­ver­lus­tes und der Unfähig­keit zur Ab­sti­nenz – häufig länge­re Zeit zurück­liegt und nicht so ex­akt be­stimmt wer­den kann, wie in an­de­ren Fällen der krank­heits­be­ding­ten Ar­beits­unfähig­keit. Im In­ter­es­se der Gleich­be­hand­lung die­ser Krank­heit mit an­de­ren Krank­hei­ten muss dies hin­ge­nom­men wer­den. Al­ko­hol­abhängig­keit ist ei­ne Krank­heit wie je­de an­de­re Krank­heit auch. Des­halb schei­det für die­se Er­kran­kung der Be­ginn der Ar­beits­unfähig­keit als An­knüpfungs­zeit­raum für die Prüfung der Ver­schul­dens­fra­ge aus.

2) Es gibt kei­nen Er­fah­rungs­satz, wo­nach der Ar­beit­neh­mer ei­ne krank­haf­te Al­ko­hol­abhängig­keit in der Re­gel selbst ver­schul­det hat. Maßge­bend ist viel­mehr die Be­ur­tei­lung im Ein­zel­fall. Da­bei geht das Bun­des­ar­beits­ge­richt da­von aus, dass in der Pra­xis die Aufklärung der Ur­sa­chen ei­ner krank­haf­ten Al­ko­hol­abhängig­keit und des mögli­chen Ver­schul­dens ei­nes Ar­beit­neh­mers er­heb­li­che Schwie­rig­kei­ten be­rei­ten. Im Aus­gangs­punkt hat der Ar­beit­ge­ber – wie bei al­len an­de­ren Krank­hei­ten auch - das Ver­schul­den des Ar­beit­neh­mers an der Ent­ste­hung sei­ner krank­haf­ten Al­ko­hol­abhängig­keit dar­zu­le­gen und zu be­wei­sen. Der Ar­beit­neh­mer, der Ent­gelt­fort­zah­lung for­dert, kann je­doch ei­ne Pflicht zur Mit­wir­kung an der Aufklärung al­ler für die Ent­ste­hung des An­spruchs er­heb­li­chen Umstände tref­fen. Dem Ar­beit­ge­ber ist es kaum möglich, die für die Ent­ste­hung der Krank­heit er­heb­li­chen Umstände, die aus dem Le­bens­be­reich des Ar­beit­neh­mers herrühren im Ein­zel­nen dar­zu­le­gen. Die­se muss des­halb der Ar­beit­neh­mer dem Ar­beit­ge­ber auf Ver­lan­gen of­fen­ba­ren. Erst da­nach kann sich der Ar­beit­ge­ber darüber schlüssig wer­den, ob er zur Lohn­fort­zah­lung ver­pflich­tet ist. Ver­letzt der Ar­beit­neh­mer sei­ne Mit­wir­kungs­pflich­ten, geht das zu sei­nen Las­ten. So­weit die Ent­ste­hung der Krank­heit nicht auf­geklärt wer­den kann oder noch me­di­zi­ni­sche Wer­tun­gen er­for­der­lich sind, wird das Ge­richt in der Re­gel ei­nen me­di­zi­ni­schen Sach­verständi­gen hin­zu­zie­hen müssen. Da­bei kommt in ers­ter Li­nie aus Sach- und Kos­ten­gründen der Arzt in Be­tracht, der den Ar­beit­neh­mer bis­her be­han­delt hat. Der Ar­beit­neh­mer, der den Ent­gelt­fort­zah­lungs­an­spruch gel­tend macht, muss sich ei­ner sol­chen Be­gut­ach­tung un­ter­zie­hen. Steht nicht fest, ob den Ar­beit­neh­mer ein Ver­schul­den im Sin­ne von § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG trifft, muss der Ar­beit­ge­ber den Lohn fort­zah­len.

b. Die­se Recht­spre­chung hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt in den dar­auf fol­gen­den Ent­schei­dun­gen (11.11.1987 – 5 AZR 497/86; 11.11.1987– 5 AZR 306/86; 11.11.1987- 5 AZR 478/86; 30.03.1988 – 5 AZR 42/87; 11.05.1988 – 5 AZR 445/87; 11.05.1988 – 5 AZR 446/87; 07.09.1991– 5 AZR 410/90; 27.05.1992 – 5 AZR 297/91) bestätigt und ins­be­son­de­re hin­sicht­lich des Rück­falls, der An­for­de­run­gen an die Mit­wir­kungs­pflicht des Ar­beit­neh­mers und des Ver­schul­dens bei ei­nem im Zu­stand der Trun­ken­heit ver­ur­sach­ten Ver­kehrs­un­fall fort­geführt. Zu der hier strei­ti­gen Fra­ge des Ver­schul­dens bei Al­ko­hol­abhängig­keit im Rah­men der Ent­gelt­fort­zah­lung sind seit­dem – so­weit er­sicht­lich - kei­ne wei­te­ren Ent­schei­dun­gen des Bun­des­ar­beits­ge­richts er­gan­gen.

c. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt hat in sei­ner Ent­schei­dung vom 11.11.1987(5 AZR 27 497/86) für den Rück­fall des Ar­beit­neh­mers nach sta­ti­onärer Ent­zie­hungs­kur fol­gen­de Grundsätzen auf­ge­stellt:

1) Auch bei ei­nem durch Rück­fall in den Al­ko­hol­miss­brauch ar­beits­unfähig 28 er­krank­ten Ar­beit­neh­mer trägt der Ar­beit­ge­ber die Dar­le­gungs-und Be­weis­last für ein Ver­schul­den des Ar­beit­neh­mers an der Krank­heit. In die­sem Fal­le geht es aber nicht mehr al­lein dar­um, ob der Ar­beit­neh­mer die Ent­ste­hung sei­ner Al­ko­hol­abhängig­keit ver­schul­det hat oder nicht, son­dern nun­mehr vor al­lem dar­um, ob er sich ein Ver­schul­den an der wie­der­hol­ten Er­kran­kung ent­ge­gen­hal­ten las­sen muss.

Der Ar­beit­neh­mer, der ei­ne Ent­zie­hungs­kur durch­ge­macht hat, kennt die Ge­fah­ren des Al­ko­hols für sich sehr ge­nau. Er ist bei der Be­hand­lung ein­ge­hend dar­auf hin­ge­wie­sen und wei­ter drin­gend er­mahnt wor­den, in Zu­kunft je­den Al­ko­hol­ge­nuss zu ver­mei­den. Wird der Ar­beit­neh­mer nach er­folg­rei­cher Be­en­di­gung ei­ner Entwöhnungs­kur und wei­ter nach ei­ner länge­ren Zeit der Ab­sti­nenz den­noch wie­der rückfällig, so spricht die Le­bens­er­fah­rung dafür, dass er die ihm er­teil­ten drin­gen­den Rat­schläge miss­ach­tet und sich wie­der dem Al­ko­hol zu­ge­wandt hat. Die­ses Ver­hal­ten wird im All­ge­mei­nen den Vor­wurf ei­nes „Ver­schul­dens ge­gen sich selbst“ be­gründen. Es ist dann Sa­che des Ar­beit­neh­mers, die Be­weisführung des Ar­beit­ge­bers zu wi­der­le­gen und zunächst im Ein­zel­nen dar­zu­le­gen, aus wel­chen Gründen sein Ver­hal­ten als nicht schuld­haft an­zu­se­hen ist.

2) Das Bun­des­ar­beits­ge­richt hat im Streit­fall ein Ver­schul­den des Ar­beit­neh­mers mit der Be­gründung an­ge­nom­men, er ha­be die Ge­fah­ren des Al­ko­hols für sich und sei­ne Ge­sund­heit ge­kannt, da er be­reits ei­ne Ent­gif­tung-und Entwöhnungs­be­hand­lung durch­lau­fen hat­te. Es wäre ihm ge­lun­gen, fünf Mo­na­te lang vom Al­ko­hol­ge­nuss ab­zu­ste­hen. Wenn er nun­mehr bei Ein­sichtsfähig­keit Mo­na­te lang vom Al­ko­hol­ge­nuss und be­wie­se­ner länge­rer Ab­sti­nenz wie­der rückfällig ge­wor­den sei, spre­che dies für ein schuld­haf­tes Ver­hal­ten sei­ner­seits. In die­ser Rich­tung ha­be sich auch der vom Ar­beits­ge­richt zu­ge­zo­ge­ne Sach­verständi­ge geäußert, wenn­gleich er nur all­ge­mei­ne Erwägun­gen ha­be an­stel­len können, da sich der Ver­si­cher­te ge­wei­gert hätte, an der nähe­ren Klärung der Ver­schul­dens­fra­ge mit­zu­wir­ken. Da­mit sei nicht der Ar­beit­ge­ber be­weisfällig ge­blie­ben, viel­mehr hätte die Kran­ken­ver­si­che­rung als Kläge­rin nun­mehr Tat­sa­chen vor­tra­gen müssen, die ein Ver­schul­den die ein Ver­schul­den des ver­si­cher­ten Ar­beit­neh­mers ausräum­ten. Das sei nicht ge­sche­hen. Ihr Vor­brin­gen, fa­mi­liäre und be­ruf­li­che Pro­ble­me des Ver­si­cher­ten hätten sich auch nach den Ent­zie­hungs­ku­ren nicht geändert, rei­che dafür nicht aus.

d. In sei­ner Ent­schei­dung vom 30. 03.1988 (5AZR 42/87) hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt den Grund­satz auf­ge­stellt, dass ein seit länge­rer Zeit an Al­ko­hol­abhängig­keit er­krank­ter Ar­beit­neh­mer schuld­haft im Sin­ne der lohn­fort­zah­lungs­recht­li­chen Be­stim­mun­gen han­deln kann, wenn er – in noch steue­rungsfähi­gem Zu­stand – sein Kraft­fahr­zeug für den Weg zur Ar­beits­stel­le be­nutzt, während der Ar­beits­zeit in er­heb­li­chem Maße dem Al­ko­hol zu­spricht und als­bald nach Diens­ten­de im Zu­stan­de der Trun­ken­heit ei­nen Ver­kehrs­un­fall ver­ur­sacht, bei dem er ver­letzt wird.

e. 1) Das Bun­des­ar­beits­ge­richt hat in sei­ner Ent­schei­dung vom 11. 05. 1988 (5 AZR 445/87) fest­ge­stellt, dass auch bei ei­nem durch Rück­fall in den Al­ko­hol­miss­brauch ar­beits­unfähig er­krank­ten Ar­beit­neh­mer der Ar­beit­ge­ber die Dar­le­gungs­last und Be­weis­last für ein Ver­schul­den des Ar­beit­neh­mers an der Krank­heit trägt. Dann geht es aber nicht mehr dar­um, ob der Ar­beit­neh­mer die Ent­ste­hung sei­ner Al­ko­hol­abhängig­keit ver­schul­det hat oder nicht, son­dern dar­um, ob er sich ein Ver­schul­den an der wie­der­hol­ten Er­kran­kung ent­ge­gen­hal­ten las­sen muss.

2) Das Bun­des­ar­beits­ge­richt kam in die­sem Streit­fall zu dem Er­geb­nis, dass der Ar­beit­neh­mer auf­grund sei­nes Ver­schul­dens wie­der rückfällig ge­wor­den sei. Dem Ar­beit­neh­mer wäre es ge­lun­gen, nach er­folg­rei­cher Durchführung ei­ner Entwöhnungs­kur länge­re Zeit ab­sti­nent zu blei­ben. Es ent­spre­che der Le­bens­er­fah­rung, dass bei fach­kli­nisch durch­geführ­ten Al­ko­hol­entwöhnungs­ku­ren von mehr­mo­na­ti­ger Dau­er großer Wert auf die psy­chi­sche Fes­ti­gung des Pa­ti­en­ten ge­legt wer­de. Da­zu gehöre auch, dass sie über die Ge­fah­ren des Al­ko­hols ein­ge­hend un­ter­rich­tet würden. Wenn er dann doch wie­der rückfällig ge­wor­den sei, spräche dies für ein schuld­haf­tes Ver­hal­ten sei­ner­seits. Für das Ge­gen­teil ha­be er bzw. die Ver­si­che­rung kei­ne Tat­sa­chen schlüssig vor­ge­tra­gen. Sein Vor­brin­gen, er ha­be Streit mit sei­ner da­ma­li­gen Le­bens­gefähr­tin ge­habt und sei we­gen sei­ner part­ner­schaft­li­chen Pro­ble­me wie­der in den Al­ko­hol­miss­brauch zurück­ge­glit­ten, rei­che in die­ser all­ge­mei­nen Form dafür nicht aus. Sein Rück­fall sei da­her als schuld­haft im Sin­ne des Lohn­fort­zah­lungs­rechts.

f. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt hat in sei­ner Ent­schei­dung vom 07.08.1991 (5 AZR 34 410/90) aus­ge­hend von den o.g. Grundsätzen fest­ge­stellt:

1) Ein ge­setz­li­cher For­de­rungsüber­gang im Fal­le der Lohn­fort­zah­lung bei 35 krank­heits­be­ding­ter Ar­beits­unfähig­keit an den Fra­gen der Dar­le­gungs- und Be­weis­last nichts ändert. Ei­ne durch ver­schul­de­te Al­ko­hol­abhängig­keit her­bei­geführ­te Krank­heit be­deu­tet ge­genüber dem Lohn­fort­zah­lungs­an­spruch Ent­gelt­fort­zah­lungs­an­spruch des Ar­beit­neh­mers ei­ne an­spruchs­hin­dern­de Ein­wen­dung, die dem neu­en Gläubi­ger ge­genüber gel­tend ge­macht wer­den kann. Al­ler­dings muss der Ar­beit­ge­ber dafür zunächst ein­mal die zu for­dern­den Tat­sa­chen in schlüssi­ger Wei­se vor­tra­gen. Die­ser Dar­le­gungs­pflicht kann er nicht in der Wei­se genügen, dass er sich ge­genüber dem neu­en Gläubi­ger auf ei­ne ein­fa­che Be­haup­tung be­schränkt, der Ar­beit­neh­mer ha­be sei­ne Al­ko­hol­abhängig­keit selbst ver­schul­det, und wei­ter von dem neu­en Gläubi­ger – der Ver­si­che­rung - die Dar­le­gung der ein­zel­nen Umstände ver­langt, die zur schuld­haf­ten Abhängig­keit des Ar­beit­neh­mers geführt ha­ben. Viel­mehr muss der Ar­beit­ge­ber al­les vor­tra­gen, was dem An­spruch des Ar­beit­neh­mers auf Lohn­fort­zah­lung ent­ge­gen­steht. Ist ihm dies auf­grund ei­ge­ner Kennt­nis der Le­bens­umstände des Ar­beit­neh­mers nicht möglich, muss er sich an den Ar­beit­neh­mer wen­den und Mit­wir­kung bei der Aufklärung ver­lan­gen.

2) Das Bun­des­ar­beits­ge­richt ist in die­sem Streit­fall da­von aus­ge­gan­gen, dass 36 der Ar­beit­ge­ber sei­ner ob­lie­gen­den Dar­le­gungs­pflicht nicht nach­ge­kom­men ist, denn er ha­be nichts da­zu vor­ge­tra­gen, wie es zu dem Al­ko­ho­lis­mus des Ar­beit­neh­mers ge­kom­men ist. Er ha­be nicht ein­mal dar­ge­legt, ob und in wel­cher Wei­se er sich durch Be­fra­gen sei­nes Ar­beit­neh­mers bemüht ha­be, die Umstände auf­zu­hel­len, die zur Al­ko­hol­abhängig­keit geführt hätten.

g. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt hat schließlich in sei­ner Ent­schei­dung vom 27.05.1992 (5 AZR 297/91) an der bis­he­ri­gen Recht­spre­chung fest­ge­hal­ten, ist al­ler­dings in dem Streit­fall zu dem Er­geb­nis ge­kom­men, dass trotz Rück­falls nach ei­ner Ent­zie­hungs­kur kein Ver­schul­den an­zu­neh­men ist.

1) Das Bun­des­ar­beits­ge­richt ging da­bei von fol­gen­dem Grund­satz aus: Wenn 38 sich ein al­ko­hol­kran­ker Ar­beit­neh­mer wei­ter­hin in ei­nem Zu­stand be­fin­det, in dem er auf sein Ver­hal­ten we­gen man­geln­der Steue­rungsfähig­keit wil­lent­lich kei­nen Ein­fluss neh­men kann, so kann ihm ein Rück­fall in den Al­ko­hol­miss­brauch nicht im Sin­ne ei­nes Ver­schul­dens ge­gen sich selbst vor­ge­wor­fen wer­den.

2) Das vom Lan­des­ar­beits­recht ein­ge­hol­te Sach­verständi­gen­gut­ach­ten war zu 39 der Fest­stel­lung ge­langt, dass der schwe­re Al­ko­ho­lis­mus des Ver­si­cher­ten auf ei­ner psy­chi­schen Fehl­ent­wick­lung, ins­be­son­de­re auf­grund be­las­ten­der Kind­heits­er­leb­nis­se während des Zwei­ten Welt­krie­ges und der Nach­kriegs­wir­ren be­ruht und dass Rückfälle sei­ner frei­en Wil­lens­be­stim­mung nicht zugäng­lich, krank­heits­im­ma­nent und da­her nicht selbst ver­schul­det sind. Nach Auf­fas­sung des Bun­des­ar­beits­ge­richts kam es nicht dar­auf an, dass der Ver­si­cher­te ent­ge­gen ei­ner dem Ar­beit­ge­ber ge­genüber ein­ge­gan­ge­nen Ver­pflich­tung nach Ab­schluss der ers­ten Ent­zie­hungs­kur nicht re­gelmäßig ei­ne Selbst­hil­fe­grup­pe auf­ge­sucht ha­be. Das Auf­su­chen ei­ner Selbst­hil­fe­grup­pe sei ihm zwar vom Kur­heim emp­foh­len wor­den, hätte aber kei­ne Fort­set­zung der ei­gent­li­chen Heil­be­hand­lung dar­ge­stellt. Ent­schei­dend sei, dass die Ent­zie­hungs­kur nach den Fest­stel­lun­gen des Lan­des­ar­beits­ge­richts den Ver­si­cher­ten noch nicht so weit von der Al­ko­hol­sucht be­freit hat­te, dass er auf­grund ei­ge­ner Wil­lens­an­stren­gung in ei­ner Kon­flikt­si­tua­ti­on in der La­ge ge­we­sen wäre, ei­nen Rück­fall zu ver­mei­den. Zwar sei in den er­stell­ten Gut­ach­ten all­ge­mein die An­sicht ver­tre­ten wor­den, Rückfälle lägen re­gelmäßig außer­halb der frei­en Wil­lens­be­stim­mung des Al­ko­hol­abhängi­gen. Aus­schlag­ge­bend sei aber, dass dies in­di­vi­du­ell für den Ver­si­cher­ten nach ein­ge­hen­der Un­ter­su­chung und Be­fra­gung und Aus­wer­tung und Zu­grun­de­le­gung sei­ner ge­sam­ten Le­bens­umstände fest­ge­stellt wor­den sei.

h. Die In­stanz­ge­rich­te (vgl. et­wa LAG Ba­den-Würt­tem­berg 30.03.2000– 4 Sa 108/99) und das Schrift­tum (vgl. et­wa ErfK/Rein­hard 14.Aufl. 2014 § 3 EFZG Rn 27 m.w.N.; sie­he auch wei­te­re Li­te­ra­tur­nach­wei­se im an­ge­foch­te­nen Ur­teil (S.11)) sind die­ser höchst­rich­ter­li­chen Recht­spre­chung – so­weit er­sicht­lich – bis heu­te im We­sent­li­chen ge­folgt.

5. Folgt man der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts, käme in Be­tracht, die Kla­ge oh­ne je­de wei­te­re Sach­aufklärung we­gen feh­len­der Mit­wir­kung ab­zu­wei­sen, weil der Ar­beit­neh­mer Herr L das Schrei­ben der Be­klag­ten vom 18.07.2012, wo­mit sie von ihm Aus­kunft über „al­le für die Ent­ste­hung der be­haup­te­ten Al­ko­hol­abhängig­keit er­heb­li­chen Umstände“ ver­langt hat, nicht be­ant­wor­tet hat oder weil Herr L kei­ne aus­rei­chen­den Tat­sa­chen vor­ge­tra­gen hat, aus de­nen sich er­ge­ben könn­te, dass sei­ne „Rückfälle“ nach zwei durch­geführ­ten Ent­zie­hungs­ku­ren nicht selbst ver­schul­det wa­ren. Sehr viel mehr würde al­ler­dings dafür spre­chen, den Sach­ver­halt, im Hin­blick auf die Ent­ste­hung der Al­ko­hol­abhängig­keit bzw. die Gründe der Rückfälle nach zwei Ent­zie­hungs­ku­ren durch Ein­ho­lung ei­nes me­di­zi­ni­schen Sach­verständi­gen­gut­ach­tens wei­ter auf­zuklären.

6. Das Be­ru­fungs­ge­richt folgt in­des nicht die­ser Recht­spre­chung, son­dern 42 ver­tritt – teil­wei­se im An­schluss an das Ar­beits­ge­richt - die Auf­fas­sung, dass bei ei­ner Ar­beits­unfähig­keit je­den­falls bei langjähri­ger Al­ko­hol­abhängig­keit re­gelmäßig da­von aus­zu­ge­hen ist, dass es sich da­bei um ei­ne Krank­heit han­delt, die nicht vom Ar­beit­neh­mer i.S.v.§ 3 Abs.1 S.1 EFZG ver­schul­det ist. Et­was an­de­res gilt nur dann – was hier nicht im Streit steht -, wenn der al­ko­hol­abhängi­ge Ar­beit­neh­mer sei­ne Ar­beits­unfähig­keit durch ein steu­er­ba­res Ver­hal­ten, et­wa ei­ne Ver­let­zung durch ei­nen Ver­kehrs­un­fall bei Führen ei­nes KFZ im Zu­stand der Trun­ken­heit oder ei­ne Ver­let­zung durch Be­tei­li­gung an ei­ner Schläge­rei im Zu­stand der Trun­ken­heit, her­bei­geführt hat.

a. Das Be­ru­fungs­ge­richt teilt die Auf­fas­sung des Ar­beits­ge­richts hin­sicht­lich der Nicht­jus­ti­zia­bi­lität des Ver­schul­dens des Ar­beit­neh­mers i.S.v. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG an der Ent­ste­hung sei­ner Al­ko­hol­abhängig­keit bzw. den Gründen für ei­nen Rück­fall. Da­zu hat das Ar­beits­ge­richt aus­geführt:

„Die Kam­mer geht zu­dem da­von aus, dass die Ur­sa­chen ei­ner Al­ko­hol­abhängig­keit vielfältig, re­gelmäßig aus der Pri­vat- oder In­tim­sphäre des Ar­beit­neh­mers herrührend und nach Ver­ur­sa­chungs­beiträgen oft­mals kaum zu be­stim­men sind (vgl. in­so­weit die Dar­stel­lung zu den vie­len mögli­chen Ur­sa­chen von Rückfällen bei Al­ko­ho­lerkrank­ten: Fleck/Körkel, BB 1995, 722 (724 f.); zwei­felnd hin­sicht­lich der Möglich­keit ei­nes Ver­schul­dens: Künzl, NZA 1998,12 (126)). Ent­spre­chend scheint der Kam­mer die auf die­se Ur­sa­chen zie­len­de Ver­schul­dens­fra­ge nicht mit ei­ner für die ob­jek­ti­ve Rechts­fin­dung not­wen­di­gen Ein­deu­tig­keit zu be­ant­wor­ten zu sein, was Zwei­fel in Hin­blick auf die Ver­ein­bar­keit der von der herr­schen­den Mei­nung ver­tre­te­nen Aus­le­gung von § 3 Abs. 1 EFZG mit dem Rechts­staats­prin­zip (Art. 20 Abs. 3 GG) auf­wirft. Aus Sicht der Kam­mer ist zu­dem die bei Zu­grun­de­le­gung die­ser Rechts­an­sicht ggf. er­for­der­lich wer­den­de umfäng­li­che Sach­ver­halts­aufklärung ei­nem sei­ner Ent­gelt­fort­zah­lungs­pflicht über­prüfen­den Ar­beit­ge­ber eben­so we­nig zu­mut­bar (vgl. Gott­wald, NZA 1997,635(637): „kaum dar­zu­le­gen“) wie sie im We­ge des förm­li­chen Ge­richts­ver­fah­rens aufklärbar wäre. Dies gilt ins­be­son­de­re für zeit­lich lang zurück­lie­gen­de Sach­ver­halts­mo­men­te. Ei­ne ent­spre­chen­de Aufklärung dürf­te nicht zu­letzt re­gelmäßig im Wi­der­spruch zu dem für das ar­beits­ge­richt­li­che Ver­fah­ren in § 9 Abs. 1 ArbGG (auch für Nicht Be­stands­schutz­strei­tig­kei­ten) ge­setz­lich fest­ge­leg­te Ge­bot der Ver­fah­rens­be­schleu­ni­gung ste­hen.“ (Sei­te 13)

b. Der vor­lie­gen­de Fall zeigt wie be­rech­tigt die Auf­fas­sung des Ar­beits­ge­richts ist. Bei dem Ar­beit­neh­mer be­steht nach den Fest­stel­lun­gen des so­zi­al­me­di­zi­ni­schen Gut­ach­tens vom 14.05.2013 ei­ne langjähri­ge, chro­ni­sche Al­ko­hol­krank­heit mit den übli­chen Fol­ge­er­kran­kun­gen ei­ner Le­ber­zir­rho­se mit Gal­len­kom­pli­ka­tio­nen. Be­reits zwei­mal hat sich der Ar­beit­neh­mer ei­ner sta­ti­onären Ent­zugs­the­ra­pie un­ter­zo­gen. Es ist je­doch da­nach wie­der zu Rückfällen ge­kom­men. Zu­letzt dem Al­ko­hol­ex­zess am 23.11.2011, der zu ei­ner Al­ko­hol­ver­gif­tung (4,9 Pro­mil­le) und der hier strei­ti­gen Ar­beits­unfähig­keit vom 29.11.2011 bis 30.12.2011 geführt hat. Wel­che Ur­sa­chen hat sei­ne Al­ko­hol­abhängig­keit? Trifft ihn dar­an ein Ver­schul­den im Sin­ne von § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG? Es kann un­ter­stellt wer­den, dass die Ur­sa­chen für die Fra­ge der Ent­ste­hung der Al­ko­hol­sucht so­wie die Gründe ei­nes oder erst recht meh­re­rer Rückfälle sehr kom­plex und je­den­falls bei langjähri­ger Al­ko­hol­abhängig­keit weit – bis in die Kind­heit –zurück­lie­gen. Die Fra­ge des „Ver­schul­dens ge­gen sich selbst“ lässt sich - nach Auf­fas­sung des Be­ru­fungs­ge­richts- re­gelmäßig nicht oder nur zu­guns­ten ei­nes langjährig Al­ko­hol­abhängi­gen fest­stel­len. Das nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts bei langjähri­ger Al­ko­hol­abhängig­keit zur Klärung des Ver­schul­dens iSv § 3 Abs.1 S.1 EFZG re­gelmäßig ein­zu­ho­len­de, aufwändi­ge me­di­zi­ni­sche Sach­verständi­gen­gut­ach­ten wird in den meis­ten Fällen zu dem Er­geb­nis kom­men, dass ein Ver­schul­den des Ar­beit­neh­mers nicht fest­stell­bar ist. Da­mit ver­liert der be­weis­pflich­ti­ge Ar­beit­ge­ber den Pro­zess und hat zu­dem die nicht ge­rin­gen Kos­ten des Gut­ach­tens zu tra­gen.

c. Die Lösung kann al­ler­dings nach Auf­fas­sung des Be­ru­fungs­ge­richts nicht, wie vom Ar­beits­ge­richt ver­tre­ten, dar­in be­ste­hen, über die be­reits (un­ter Zif­fer 6.) ge­nann­ten be­son­de­ren Fall­kon­stel­la­tio­nen hin­aus, nun­mehr ge­ne­rell ein Ver­schul­den des Ar­beit­neh­mers an der „mit­tel­bar“ aus der Al­ko­hol­abhängig­keit „re­sul­tie­ren­den aku­ten Er­kran­kung oder Be­hand­lungs­bedürf­tig­keit“ (Sei­te 11) zu über­prüfen. Zu Recht weist die Be­klag­te dar­auf hin, dass ei­ne der­ar­ti­ge „Auf­split­tung“ im Wi­der­spruch zu dem Grund­satz steht, dass die Al­ko­hol­abhängig­keit ei­ne me­di­zi­ni­sche Krank­heit ist. Kon­se­quen­ter ist es da­her, im Fall der Ar­beits­unfähig­keit auf­grund langjähri­ger Al­ko­hol­abhängig­keit – wie hier - re­gelmäßig da­von aus­zu­ge­hen, dass dem Ar­beit­neh­mer kein Ver­schul­den im Sin­ne des Ent­gelt­fort­zah­lungs­rechts vor­zu­wer­fen ist.

7. Die Kläge­rin hat da­her ge­gen die Be­klag­te An­spruch auf den gel­tend ge­mach­ten Ent­gelt­fort­zah­lungs­an­spruch. Die Höhe der Ent­gelt­fort­zah­lung für den Zeit­raum 23.11. bis 30.12.2011 von 1.303,36 € - die zwi­schen den Par­tei­en außer Streit ist - folgt aus §§ 4 EFZG, 611 BGB iVm dem Ar­beits­ver­trag des Herrn L mit der Be­klag­ten.

II. Die Be­klag­te hat die Kos­ten der er­folg­lo­sen Be­ru­fung zu tra­gen ( § 97 Abs.1 ZPO)

III. Die Re­vi­si­on war gemäß § 72 ArbGG we­gen Di­ver­genz zu der im Ein­zel­nen be­nann­ten Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts zu­zu­las­sen.

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