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Tarifeinheitsgesetz verfassungsgemäß
11.07.2017. Durch das Gesetz zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz) vom 03.07.2015 (BGBl. I S. 1130), das am 10.07.2015 in Kraft getreten ist, hat der Gesetzgeber eine neue Vorschrift in das Tarifvertragsgesetz (TVG) eingefügt, nämlich § 4a TVG. Diese Regelung soll das Prinzip „ein Betrieb, ein Tarifvertrag“ durchsetzen (Grundsatz der Tarifeinheit).
Sie richtet sich damit gegen die „aufmüpfige“ Tarifpraxis kleiner Berufsgruppengewerkschaften wie z.B. der Lokführergewerkschaft GDL, der Ärztegewerkschaft Marburger Bund oder der Pilotenvereinigung Cockpit (wir berichteten in: Arbeitsrecht aktuell: 15/032 Gesetzentwurf zur Tarifeinheit). Denn da infolge von § 4 Abs.2 Satz 2 TVG in einem Betrieb nur der Tarifvertrag der mitgliederstärksten Gewerkschaft zur Anwendung kommen soll, wird den Berufsgewerkschaften durch die Neuregelung das Wasser abgegraben.
Heute hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die gegen das Tarifeinheitsgesetz gerichteten Verfassungsbeschwerden der oben genannten Berufsgruppengewerkschaften im Wesentlichen zurückgewiesen. Nach Ansicht des Ersten BVerfG-Senats ist das Tarifeinheitsgesetz im Kern verfassungsgemäß: BVerfG, Urteil vom 11.07.2017, 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16.
- Tarifpluralität oder Tarifeinheit?
- Ist der Grundsatz der Tarifeinheit mit der Verfassung vereinbar, d.h. mit der Koalitionsfreiheit der kleinen Spartengewerkschaften?
- BVerfG: Das Tarifeinheitsgesetz greift zwar erheblich in das Koalitionsgrundrecht der kleinen Gewerkschaften ein, ist aber im Großen und Ganzen verhältnismäßig
- Verfassungsrechtlich gebotener Korrekturbedarf der Regelung zur Tarifeinheit
- Fazit: Erzwungene Ruhe im Arbeitnehmerlager ist wichtiger als Grundrechts- und Minderheitenschutz
Tarifpluralität oder Tarifeinheit?
Gemäß § 4 Abs.1 TVG gelten die Inhaltsnormen eines Tarifvertrags unmittelbar und zwingend für Gewerkschaftsmitglieder, wenn auch der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Wer z.B. als Krankenschwester Mitglied der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ist, kann von einem tarifgebundenen Krankenhausträger Bezahlung nach den jeweils aktuellen ver.di-Tarifverträgen verlangen. Das gilt auch für den Krankenhausarzt, der Mitglied des Marburger Bundes ist, nur dass er Bezahlung nach den vom Marburger Bund abgeschlossenen Tarifverträgen verlangen kann.
Dieses Nebeneinander verschiedener Tarifverträge wäre kein Thema, wenn die ver.di-Tarifverträge nicht ebenfalls Tariflöhne für Krankenhausärzte vorsehen würden. Da sie das aber tun, muss die Krankenhausverwaltung bei der Arbeitnehmergruppe der Ärzte zwei verschiedene Tarifverträge parallel anwenden.
Das wiederum ist zwar kein praktisches Problem, denn viele Arbeitgeber kommen mit der abrechnungstechnischen Aufspaltung von Belegschaften in Stammkräfte und Leiharbeitnehmer prima zurecht, aber es ist ein politischer Zankapfel, weil die etablierten, im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossenen Gewerkschaften und die ihnen nahestehende SPD die Konkurrenz kleiner und aggressiver Spartengewerkschaften nicht mögen.
Nach jahrelangen Diskussionen hatten sich SPD und DGB im Sommer 2015 mit ihrer Forderung durchgesetzt, der Tarifpluralität innerhalb eines Betriebes ein Ende zu machen. Stattdessen soll künftig das Prinzip "Ein Betrieb, ein Tarifvertrag" zur Anwendung kommen, d.h. der Grundsatz der Tarifeinheit. Er ist in § 4a Abs.2 Satz 2 TVG festgeschrieben. Diese Vorschrift lautet:
"Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat."
Mit dieser gesetzlichen Regelung hat sich der Gesetzgeber zugleich auch gegen eine Änderung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ausgesprochen. Denn das BAG hatte im Jahre 2010 ausdrücklich klargestellt, dass es gegen die Anwendung mehrerer, für dieselben Arbeitnehmergruppen geltenden Tarifverträge im selben Betrieb keine rechtlichen Einwände (mehr) hat (BAG, Beschluss vom 27.01.2010, 4 AZR 549/08 (A), und BAG, Beschluss vom 23.06.2010, 10 AS 3/10, wir berichteten in: Arbeitsrecht aktuell: 10/134 Abschied vom Grundsatz der Tarifeinheit). Im Unterschied zu § 4a Abs.2 Satz 2 TVG kam es nach der alten BAG-Rechtsprechung aber nicht auf die betrieblichen Mehrheitsverhältnisse an, sondern auf die Frage, welcher Tarifvertrag der speziellere ist, d.h. die umfangreicheren und genaueren Regelungen für den jeweiligen Betrieb enthält.
Ist der Grundsatz der Tarifeinheit mit der Verfassung vereinbar, d.h. mit der Koalitionsfreiheit der kleinen Spartengewerkschaften?
Aufgrund der Kollisionsregel des § 4a Abs.2 Satz 2 TVG ist den Tarifverträgen der kleinen Berufsgruppengewerkschaften ein trauriges Dasein im Ablagefach beschieden. Denn eine Branchengewerkschaft wie die ver.di, die in einem Krankenhaus nicht nur die Ärzte, sondern auch die Pflege- und Reinigungskräfte, die Verwaltungsmitarbeiter und das Küchenpersonal organisiert, hat praktisch immer mehr Mitglieder im Krankenhausbetrieb hinter sich als der Marburger Bund, der ja nur die Ärzteschaft vertritt.
Hier fragt sich, ob § 4a Abs.2 Satz 2 TVG mit Art.9 Abs.3 Grundgesetz (GG) vereinbar ist, d.h. mit der Koalitionsfreiheit der kleinen Gewerkschaften. Die Koalitionsfreiheit gibt nämlich allen Arbeitnehmern und nicht nur den Mitgliedern großer Branchengewerkschaften das Recht, durch ihr gewerkschaftliches Engagement die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen mitzugestalten. Fallen die Tarifverträge kleinerer Berufsgruppengewerkschaften aber § 4a Abs.2 Satz 2 TVG zum Opfer, bleibt von diesem Grundrecht nur noch wenig übrig.
Zwar dürfen Spartengewerkschaften trotz § 4a Abs.2 Satz 2 TVG für ihre Tarifforderungen im Prinzip weiterhin zum Streik aufrufen, doch ist nicht ausgeschlossen, dass Arbeitsgerichte im Einzelfall Streiks für unzulässig erklären, falls von vornherein klar ist, dass der Tarifvertrag der Spartengewerkschaft dem Tarifeinheitsprinzip zum Opfer fallen wird. Vor allem aber wäre ein solcher Streik aus Arbeitnehmersicht wenig sinnvoll. Denn wozu soll man dem Streikaufruf einer "Gewerkschaft" folgen, die vom Gesetz für tarifunmündig erklärt wird und daher nur Papierkorb-Tarifverträge abschließen kann?
Und langfristig fragt sich dann auch, wozu man eigentlich Gewerkschaftsbeiträge zahlen soll, um Mitgliedschaft einer tarifrechtlich weitgehend kaltgestellten Gewerkschaft zu sein.
BVerfG: Das Tarifeinheitsgesetz greift zwar erheblich in das Koalitionsgrundrecht der kleinen Gewerkschaften ein, ist aber im Großen und Ganzen verhältnismäßig
Nachdem das BVerfG bereits im Oktober 2015 die Eilanträge gegen das Gesetz zurückgewiesen hat (wir berichteten in Arbeitsrecht aktuell: 15/292 Eilanträge gegen Tarifeinheit gescheitert), hat das Gericht mit der Entscheidung vom heutigen Tage auch in der Hauptsache praktisch alle juristischen Einwände gegen das Tarifeinheitsgesetz bzw. gegen § 4a Abs.2 Satz 2 TVG vom Tisch gewischt.
Denn der Gesetzgeber, so das BVerfG, verfolgt mit § 4a Abs.2 Satz 2 TVG ein legitimes Ziel, nämlich die Vereinheitlichung der Arbeitnehmerforderungen im Falle mehrerer an Tarifverhandlungen beteiligter Gewerkschaften (Urteil, Rn.153). An dieser Stelle übernimmt das Urteil weitgehend unkritisch die politische „Verkaufe“ von Ministerin Nahles:
„Zweck der angegriffenen Regelungen ist es, Anreize für ein koordiniertes und kooperatives Vorgehen der Arbeitnehmerseite in Tarifverhandlungen zu setzen und so Tarifkollisionen zu vermeiden (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 9). Damit will der Gesetzgeber die Ausgangsbedingungen für im Tarifvertragssystem funktionierende Tarifverhandlungen sichern, welche er spezifisch gefährdet sieht, wenn es aufgrund der Ausnutzung betrieblicher Schlüsselpositionen auf Arbeitnehmerseite zur Tarifkollision im Betrieb kommt.“ (Urteil, Rn.153)
Ist das zu lösende „Problem“ erst einmal in der Weise beschrieben, dass die Tarifpluralität als solche ein gesellschaftliches Übel sei, liegt die einzig denkbare "Lösung" auf der Hand, nämlich ihre Abschaffung zugunsten des Prinzips der Tarifeinheit. Es ist daher nicht überraschend, dass das BVerfG der Meinung ist, dass die umstrittene gesetzliche Regelung auch einer Überprüfung am Grundsatz der Erforderlichkeit standhält (Urteil, Rn.162).
An dieser Stelle hätte es nahegelegen, die offiziellen gesetzgeberischen Zielsetzungen kritisch zu hinterfragen. Immerhin hält das Urteil selbst (Rn.9) zutreffend fest, dass die umstrittene Gesetzesänderung ursprünglich auf eine (vorübergehende) gemeinsame Initiative des DGB und der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) zurückgeht (wir berichteten in Arbeitsrecht aktuell: 11/114 BDA-DGB-Gesetzesinitiative zur Tarifeinheit beendet).
Vor dem Hintergrund dieser ziemlich dreisten koalitionspolitischen Kartellbildung und angesichts der erheblichen Grundrechtseingriffe zulasten kleinerer Gewerkschaften hätte sich die Frage aufgedrängt, ob die Liberalisierung der BAG-Rechtsprechung zur Tarifpluralität im Jahre 2010 negative Auswirkungen auf die Tarif- und Arbeitskampfpraxis hatte und/oder welche konkreten negativen Folgen für die Zukunft eigentlich zu befürchten sein sollen. Statt dieser kritischen Fragen an die Adresse des Gesetzgebers liest man in dem Urteil (Rn.165):
„Der Einwand, tatsächlich sei die Tarifautonomie durch Tarifkollisionen nicht gefährdet und eine Regelung daher nicht erforderlich, greift verfassungsrechtlich nicht durch. Der Gesetzgeber ist nicht darauf beschränkt, gegen bereits eingetretene Funktionsstörungen vorzugehen, sondern verfügt auch mit Blick auf drohende Funktionsstörungen über einen Einschätzungsspielraum (...).“
Schließlich ist das BVerfG auch der Meinung, dass die umstrittene Regelung des § 4a TVG bei Abwägung von Eingriffszielen und Grundrechtsbeeinträchtigungen im Wesentlichen zumutbar ist. Für die Zumutbarkeit bzw. Verhältnismäßigkeit der Regelung spricht insbesondere, so die Karlsruher Richter, dass die Minderheitsgewerkschaft das gesetzliche Recht hat, den von der Mehrheitsgewerkschaft abgeschlossenen Tarifvertrag im eigenen Namen zusammen mit der Arbeitgeberseite „nachzuzeichnen“ (§ 4a Abs.4 TVG).
Verfassungsrechtlich gebotener Korrekturbedarf der Regelung zur Tarifeinheit
Obwohl das Tarifeinheitsgesetz im Kern verfassungsgemäß ist, folgt das BVerfG dann aber doch in einem Punkt den Argumenten der Beschwerdeführer: Die vom Gesetzgeber beabsichtigte Unterordnung angeblich egoistischer „Funktionseliten“ unter die Branchen-Tarifpolitik großer DGB-Gewerkschaften lässt in der derzeitigen Gesetzesfassung keinen Minderheitenschutz erkennen (Urteil, Rn.204):
„Der Gesetzgeber hat keine Vorkehrungen getroffen, die kleinere Berufsgruppen in einem Betrieb davor schützen, der Anwendung eines Tarifvertrags ausgesetzt zu werden, der unter Bedingungen ausgehandelt wurde, in denen ihre Interessen strukturell nicht zur Geltung kommen konnten. So kann sich nach § 4a Abs. 2 TVG etwa auch der Tarifvertrag einer Branchengewerkschaft durchsetzen, in der die Berufsgruppe, deren Tarifvertrag im Betrieb verdrängt wird, nur marginal oder überhaupt nicht vertreten ist. (...) Das Ziel des Gesetzgebers, einen fairen Ausgleich zu fördern, wird nicht erreicht, wenn einzelne Berufsgruppen übergangen würden. Eine Verdrängung des Tarifvertrags, den diese abgeschlossen haben, wäre dann mangels hinreichender Ausgleichsmöglichkeit bei der Nachzeichnung mit dem Schutz der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG nicht vereinbar.“
Hier muss der Gesetzgeber nachbessern, wobei er bis Ende 2018 Zeit hat. Für die Übergangszeit bleibt die umstrittene gesetzliche Regelung in Geltung, muss allerdings in verfassungskonformer Weise von den Arbeitsgerichten ausgelegt werden, d.h. zugunsten der kleinen Spartengewerkschaften (Urteil, Rn.215).
„Die teilweise Verfassungswidrigkeit des § 4a TVG führt nicht zu dessen Nichtigerklärung, sondern nur zur Feststellung seiner Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Bis zu einer Neuregelung darf die Vorschrift mit der Maßgabe angewendet werden, dass eine Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nur in Betracht kommt, wenn plausibel dargelegt werden kann, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat. Davon ist für die Dauer der Fortgeltung der Regelung in der Übergangszeit bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber insbesondere auszugehen, wenn diese Berufsgruppen in einem bestimmten Mindestmaß in der Gewerkschaft organisiert sind, deren Tarifvertrag dann Anwendung findet, oder wenn diesen Berufsgruppen in der Satzung der Gewerkschaft ein hinreichender Einfluss auf die für sie relevanten tarifpolitischen Verbandsentscheidungen eingeräumt ist. Dies näher zu beurteilen, obliegt den Fachgerichten.“
Bis zu einer gesetzlichen Nachbesserung müssen die Arbeitsgerichte § 4a TVG demzufolge in seiner jetzigen (nicht korrekten) Fassung zwar anwenden, müssen dabei aber die Koalitionsfreiheit der kleinen Gewerkschaften möglichst weitgehend zur Geltung zu bringen. Dazu heißt es weiter in dem Urteil (Rn.172)
„Auch unter Berücksichtigung des hohen Gewichts der mit dem Tarifeinheitsgesetz verfolgten Ziele erweisen sich diese Belastungen in der Gesamtabwägung nur dann als zumutbar, wenn ihnen durch eine restriktive Auslegung der Verdrängungsregelung und ihrer verfahrensrechtlichen Einbindung Schärfen genommen werden.“
Wie das im Einzelnen gehen soll, überlässt das BVerfG zwar den Arbeitsgerichten, gibt ihnen aber doch einige konkrete Hinweise (Urteil, Rn.187). So wäre der Verlust „langfristig angelegter, die Lebensplanung der Beschäftigten berührender Ansprüche aus dem Minderheitstarifvertrag“ infolge der Verdrängung durch ein Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft für die betroffenen Arbeitnehmer unzumutbar und daher eine Verletzung von Art.9 Abs.3 GG. Dabei denkt das BVerfG an tarifliche Regelungen zur betrieblichen Altersversorgung, zur Lebensarbeitszeit und an Unkündbarkeitsvorschriften. Auch hier aber wird sofort eine wesentliche Einschränkung mitgeliefert, denn bei der Frage der Zumutbarkeit kommt es auch darauf an, ob der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft vergleichbare Leistungen enthält.
Fazit: Erzwungene Ruhe im Arbeitnehmerlager ist wichtiger als Grundrechts- und Minderheitenschutz
Das Urteil des BVerfG ist inkonsequent und kann daher nicht überzeugen.
Wenn man dem Gesetzgeber schon (wie hier im Urteil) zugesteht, auf nur gefühlt-künftig-mögliche Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie mit harschen Grundrechtsbeschränkungen zu reagieren (Urteil, Rn.157), dann ist es nicht folgerichtig, diesen politisch nebulösen Zielsetzungen des Gesetzgebers bei der Güterabwägung zwischen Eingriffszielen und Eingriffskosten (auf Seiten der Berufsgewerkschaften) eine "erhebliche Bedeutung" (Urteil, Rn.171) beizumessen. Dass der Gesetzgeber mit der gesetzlichen Festschreibung der Tarifeinheit angeblich "gewichtige Ziele gerade auch im Interesse der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie" (Urteil, Rn.166) verfolgt, hat das Verfassungsgericht nicht konkret festgestellt, sondern stattdessen politische Sprechblasen der Bundesregierung (Urteil, Rn.153) für bare Münze genommen und ergänzend auf die Einschätzungs- und Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers verwiesen (Urteil, Rn.157, 165).
Infolgedessen hat das Gericht keine erkennbare Abwägungsentscheidung vorgenommen, d.h. es hat die Proportionalität (die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) der umstrittenen Neuregelung gar nicht konkret mit Blick auf die Ziele (welche?) des Gesetzgebers geprüft.
Da auch das BVerfG die Schwere des Grundrechtseingriffs auf Seiten der Spartengewerkschaften zurecht betont (Urteil, Rn.167-170), hätte es bei der Güterabwägung zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die (extrem gravierenden) Grundrechtsbeeinträchtigen auf Seiten der Spartengewerkschaften außer Verhältnis zu dem (kaum vorhandenen) Gewicht der gesetzgeberischen Ziele stehen. Von der Koalitionsfreiheit der Spartengewerkschaften bleibt kaum etwas übrig, wenn das gesetzliche Tarifrecht es verhindert, dass ihre Tarifverträge auf ihre Mitglieder angewandt werden. Das Gesetz degradiert kleine Berufsgewerkschaften zu sozialpolitischen Debattierklubs. Dem damit verbundenen Extremverlust an Grundrechtssubstanz steht in der Waagschale der gesetzgeberischen Zielsetzungen (Urteil, Rn.153) gegenüber, dass man denkbaren (!) künftigen (!) Beeinträchtigungen irgendeines "Funktionierens" der Tarifautonomie entgegensteuern möchte.
Wenn ein so rabiates Vorgehehen des Gesetzgebers gegen politisch missliebige Minderheiten verhältnismäßig wäre, wären Grundrechte wenig wert. Das BVerfG hat die Chance vertan, dem koalitionspolitischen Establishment deutlich zu machen, dass gewerkschaftlicher und tariflicher Pluralismus kein Missstand, sondern Ausdruck der von Art.9 Abs.3 GG garantierten freiheitlichen Arbeitsverfassung ist. Es ist bedauerlich, dass sich die (zutreffenden) juristischen Bewertungen der Richter Baer und Paulus bei der Entscheidung des Senats nicht durchsetzen konnten. Immerhin liegen sie in Gestalt einer abweichenden Stellungnahme zu dem BVerfG-Urteil vor.
Nähere Informationen finden Sie hier:
- Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 11.07.2017, 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16
- Bundesverfassungsgericht: Das Tarifeinheitsgesetz ist weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar, Pressemitteilung Nr. 57/2017 vom 11.07.2017
- Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 06.10.2015, 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 1582/15
- Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr.73/2015 zum Beschluss vom 06.10.2015, 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 1582/15
- Gesetz zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz) vom 03.07.2015, BGBl. Teil I Nr. 28
- Entwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz), Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 28.12.2014, Bundesrat-Drs. 635/14
- Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 23.06.2010, 10 AS 3/10
- Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.01.2010, 4 AZR 549/08 (A)
- Handbuch Arbeitsrecht: Arbeitnehmerüberlassung (Leiharbeit, Zeitarbeit)
- Handbuch Arbeitsrecht: Streik und Streikrecht
- Handbuch Arbeitsrecht: Tarifeinheit, Grundsatz der Tarifeinheit
- Handbuch Arbeitsrecht: Tarifvertrag
- Arbeitsrecht aktuell: 18/155 Tariffähigkeit einer Gewerkschaft hängt weiter von ihrer Mächtigkeit ab
- Arbeitsrecht aktuell: 15/292 Eilanträge gegen Tarifeinheit gescheitert
- Arbeitsrecht aktuell: 15/032 Gesetzentwurf zur Tarifeinheit
- Arbeitsrecht aktuell: 14/232 Eckpunkte zur Tarifeinheit und Streikrecht
- Arbeitsrecht aktuell: 12/143 Reizthema Tarifeinheit
- Arbeitsrecht aktuell: 11/114 BDA-DGB-Gesetzesinitiative zur Tarifeinheit beendet
Letzte Überarbeitung: 13. November 2020
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