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BVerfG, Ur­teil vom 11.07.2017, 1 BvR 1571/15 1 BvR 1588/15 1 BvR 2883/15 1 BvR 1043/16 1 BvR 1477/16

   
Schlagworte: Tarifeinheit, Tarifpluralität, Streikrecht: Tarifeinheit
   
Gericht: Bundesverfassungsgericht
Aktenzeichen: 1 BvR 1571/15
1 BvR 1588/15
1 BvR 2883/15
1 BvR 1043/16
1 BvR 1477/16
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 11.07.2017
   
Leitsätze: 1. Das Freiheitsrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG schützt alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen, insbesondere den Abschluss von Tarifverträgen, deren Bestand und Anwendung sowie Arbeitskampfmaßnahmen. Das Grundrecht vermittelt jedoch kein Recht auf unbeschränkte tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen.
2. Art. 9 Abs. 3 GG schützt die Koalitionen in ihrem Bestand, ohne dass damit eine Bestandsgarantie für einzelne Koalitionen verbunden wäre. Staatliche Maßnahmen, die darauf zielen, bestimmte Gewerkschaften aus dem Tarifgeschehen herauszudrängen oder bestimmten Gewerkschaftstypen die Existenzgrundlage zu entziehen, sind mit Art. 9 Abs. 3 GG ebenso unvereinbar wie die Vorgabe eines bestimmten Profils.
3. Gesetzliche Regelungen, die in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG fallen, und die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie herstellen und sichern sollen, verfolgen einen legitimen Zweck. Dazu kann der Gesetzgeber nicht nur zwischen den sich gegenüberstehenden Tarifvertragsparteien Parität herstellen, sondern auch Regelungen zum Verhältnis der Tarifvertragsparteien auf derselben Seite treffen, um strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Tarifverhandlungen auch insofern einen fairen Ausgleich ermöglichen und in Tarifverträgen mit der ihnen innewohnenden Richtigkeitsvermutung angemessene Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen hervorbringen können.
4. Bei der Regelung der Strukturbedingungen der Tarifautonomie verfügt der Gesetzgeber über eine Einschätzungsprärogative und einen weiten Handlungsspielraum. Schwierigkeiten, die sich nur daraus ergeben, dass auf einer Seite mehrere Tarifvertragsparteien auftreten, rechtfertigen eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit grundsätzlich nicht.
Vorinstanzen:
   

BUN­DES­VER­FASSUN­GS­GERICHT

Verkündet
am 11. Ju­li 2017
Lan­gendörfer
Ta­rif­beschäftig­te
als Ur­kunds­be­am­tin
der Geschäfts­stel­le

- 1 BvR 1571/15 -

- 1 BvR 1588/15 -

- 1 BvR 2883/15 -

- 1 BvR 1043/16 -

- 1 BvR 1477/16 -

IM NA­MEN DES VOL­KES

In den Ver­fah­ren
über
die Ver­fas­sungs­be­schwer­den

1. des Mar­bur­ger Bun­des, Ver­band der an­ge­stell­ten und be­am­te­ten Ärz­tin­nen und Ärz­te Deutsch­lands e.V., Bun­des­ver­band, ver­tre­ten durch den Vor­stand, die­ser ver­tre­ten durch den Ers­ten Vor­sit­zen­den Ru­dolf Hen­ke und den Zwei­ten Vor­sit­zen­den
Dr. An­dre­as Botz­lar, Rein­hardt­s­traße 36, 10117 Ber­lin,

- Be­vollmäch­tig­ter: Prof. Dr. Frank Schor­kopf, Eh­ren­gard-Schramm-Weg 5, 37085 Göttin­gen -

ge­gen Art. 1 Nr. 1 und Art. 2 Nr. 2 und 3 des Ge­set­zes zur Ta­rif­ein­heit vom 3. Ju­li 2015 (BGBl I S. 1130)

- 1 BvR 1571/15 -,

2. der Ver­ei­ni­gung Cock­pit e.V., ver­tre­ten durch den Vor­stand, die­ser ver­tre­ten durch den Präsi­den­ten Il­ja Schulz, Un­ter­schwein­stie­ge 10, 60549 Frank­furt,

- Be­vollmäch­tig­te: Rechts­anwälte Baum, Rei­ter & Col­le­gen, Ben­ra­ther Schlos­sal­lee 101, 40597 Düssel­dorf -

ge­gen § 4a Abs. 1 und Abs. 2 des Ta­rif­ver­trags­ge­set­zes (TVG) in der Fas­sung vom 3. Ju­li 2015 (BGBl I S. 1130)

- 1 BvR 1588/15 -,

3.
a) des dbb be­am­ten­bund und ta­rif­uni­on (dbb), ver­tre­ten durch die Bun­des­lei­tung, die­se ver­tre­ten durch den Bun­des­vor­sit­zen­den Klaus Dau­derstädt un­d­den Fach­vor­stand Ta­rif­po­li­tik, den Zwei­ten Vor­sit­zen­den Wil­li Russ, Fried­rich­s­traße 169/170, 10117 Ber­lin,

b) der Nah­ver­kehrs­ge­werk­schaft (NahVG), ver­tre­ten durch ih­ren Bun­des­vor­sit­zen­den Axel Schad, Lon­ge­ri­cher Straße 205, 50739 Köln,

c) des Herrn R…,

- Be­vollmäch­tig­ter: Prof. Dr. Wolf­gang Däubler, Gei­er­weg 20, 72144 Dußlin­gen -

ge­gen das Ta­rif­ein­heits­ge­setz vom 3. Ju­li 2015 (BGBl I S. 1130)

- 1 BvR 2883/15 -,

4. der Ver­ein­ten Dienst­leis­tungs­ge­werk­schaft ver.di, ver­tre­ten durch den Bun­des­vor­stand, die­ser ver­tre­ten durch den Bun­des­vor­sit­zen­den Frank Bsirs­ke so­wie die stell­ver­tre­ten­de Bun­des­vor­sit­zen­de An­drea Koc­sis, Pau­la-Thie­de-Ufer 10, 10179 Ber­lin,

- Be­vollmäch­tig­te: 1. Apl. Prof. Dr. Jens M. Schu­bert, Pau­la-Thie­de-Ufer 10, 10179 Ber­lin 2. Rechts­an­walt Prof. Dr. Hen­ner Wol­ter, Witz­le­bens­traße 31, 14057 Ber­lin -

ge­gen Ar­ti­kel 1 Num­mer 1 des Ge­set­zes zur Ta­rif­ein­heit (§ 4a TVG) vom 3. Ju­li 2015 (BGBl I S.1130)

- 1 BvR 1043/16 -,

5. der Un­abhängi­gen Flug­be­glei­ter Or­ga­ni­sa­ti­on e.V. (UFO), ver­tre­ten durch den Vor­stand, die­ser ver­tre­ten durch den Vor­stands­vor­sit­zen­den Alex­an­der Beh­rens und das Vor­stands­mit­glied Chris­toph Dre­scher, Farm­s­traße 118, 64546 Mörfel­den-Wall­dorf,

- Be­vollmäch­tig­ter: Prof. Dr. Mat­thi­as Ja­cobs, c/o Bu­ce­ri­us Law School, Jun­gius­s­traße 6, 20355 Ham­burg -

ge­gen Art. 1 Nr. 1 des Ge­set­zes zur Ta­rif­ein­heit (TEG) vom 3. Ju­li 2015 (BGBl I S. 1130), ins­be­son­de­re ge­gen § 4a Abs. 2 Satz 2 des Ta­rif­ver­trags­ge­set­zes (TVG)

- 1 BvR 1477/16 -

hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt - Ers­ter Se­nat -

un­ter Mit­wir­kung der Rich­te­rin­nen und Rich­ter

Vi­ze­präsi­dent Kirch­hof,

Eich­ber­ger,

Schlu­cke­bier,

Ma­sing,

Pau­lus,

Ba­er,

Britz,

Ott

auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 24. und 25. Ja­nu­ar 2017 durch

Ur­teil

für Recht er­kannt:

1. § 4a des Ta­rif­ver­trags­ge­set­zes in der Fas­sung des Ge­set­zes zur Ta­rif­ein­heit vom 3. Ju­li 2015 (Bun­des­ge­setz­blatt I Sei­te 1130) ist in­so­weit mit Ar­ti­kel 9 Ab­satz 3 des Grund­ge­set­zes nicht ver­ein­bar, als es an Vor­keh­run­gen fehlt, die si­cher­stel­len, dass die In­ter­es­sen der Be­rufs­grup­pen, de­ren Ta­rif­ver­trag nach § 4a Ab­satz 2 Satz 2 des Ta­rif­ver­trags­ge­set­zes ver­drängt wird, im ver­drängen­den Ta­rif­ver­trag hin­rei­chend berück­sich­tigt wer­den.

2. Im Übri­gen ist das Ge­setz zur Ta­rif­ein­heit nach Maßga­be der Gründe mit dem Grund­ge­setz ver­ein­bar. In­so­weit wer­den die Ver­fas­sungs­be­schwer­den zurück­ge­wie­sen.

3. Bis zu ei­ner Neu­re­ge­lung gilt § 4a Ab­satz 2 Satz 2 des Ta­rif­ver­trags­ge­set­zes mit der Maßga­be fort, dass ein Ta­rif­ver­trag von ei­nem kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trag nur ver­drängt wer­den kann, wenn plau­si­bel dar­ge­legt ist, dass die Mehr­heits­ge­werk­schaft die In­ter­es­sen der Be­rufs­grup­pen, de­ren Ta­rif­ver­trag ver­drängt wird, ernst­haft und wirk­sam in ih­rem Ta­rif­ver­trag berück­sich­tigt hat.

4. Die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land hat den Be­schwer­deführen­den ein Drit­tel ih­rer not­wen­di­gen Aus­la­gen aus den Ver­fas­sungs­be­schwer­de­ver­fah­ren zu er­stat­ten.

5. Der Ge­gen­stands­wert der Ver­fas­sungs­be­schwer­den wird auf je­weils 500.000 € (in Wor­ten: fünf­hun­dert­tau­send Eu­ro) fest­ge­setzt.

G r ü n d e :

A.

1

Mit den Ver­fas­sungs­be­schwer­den wen­den sich Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten, Bran­chen­ge­werk­schaf­ten, ein Spit­zen­ver­band so­wie ein Ge­werk­schafts­mit­glied ge­gen das Ge­setz zur Ta­rif­ein­heit vom 3. Ju­li 2015 (Ta­rif­ein­heits­ge­setz, BGBl I S. 1130). Mit ihm hat der Ge­setz­ge­ber das Ta­rif­ver­trags­ge­setz (TVG) geändert und Ver­fah­rens­re­ge­lun­gen in das Ar­beits­ge­richts­ge­setz (ArbGG) ein­gefügt.

I.

2 Die Vor­schrif­ten des Ta­rif­ein­heits­ge­set­zes re­geln Kon­flik­te im Zu­sam­men­hang mit der Gel­tung meh­re­rer Ta­rif­verträge in ei­nem Be­trieb.
3 In Be­trie­ben und Un­ter­neh­men fin­den re­gelmäßig meh­re­re Ta­rif­verträge An­wen­dung. Ar­beit­ge­ber ta­ri­fie­ren oft mit meh­re­ren Ge­werk­schaf­ten, die nach ih­ren Sat­zun­gen un­ter­schied­lich aus­ge­rich­tet sind. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz knüpft hier­an an. Da­bei rich­tet es sich nicht ge­gen die Ta­rifp­lu­ra­lität als sol­che, son­dern re­gelt die Auflösung von Ta­rif­kol­li­sio­nen. Dar­un­ter sind Si­tua­tio­nen zu ver­ste­hen, in de­nen nicht in­halts­glei­che Ta­rif­verträge un­ter­schied­li­cher Ge­werk­schaf­ten für die­sel­ben Beschäftig­ten­grup­pen gel­ten. Wenn sich in ei­nem Be­trieb für die­sel­ben Beschäftig­ten­grup­pen di­ver­gie­ren­de Ta­rif­verträge ver­schie­de­ner Ge­werk­schaf­ten über­schnei­den, ist nach der Neu­re­ge­lung grundsätz­lich nur der Ta­rif­ver­trag der­je­ni­gen Ge­werk­schaft an­wend­bar, die im Be­trieb die meis­ten in ei­nem Ar­beits­verhält­nis ste­hen­den Mit­glie­der hat; der Ta­rif­ver­trag der Min­der­heits­ge­werk­schaft wird ver­drängt.
4

Die­se Re­ge­lung zielt in ers­ter Li­nie dar­auf, Vor­wir­kun­gen zu ent­fal­ten (vgl. BT­Drucks 18/4026, S. 9, 15). Die dro­hen­de Möglich­keit der Un­an­wend­bar­keit von Ta­rif­verträgen in Abhängig­keit von den je­wei­li­gen Mehr­heits­verhält­nis­sen der von ih­nen or­ga­ni­sier­ten Beschäftig­ten im Be­trieb soll für die Ge­werk­schaf­ten struk­tu­rel­le An­rei­ze set­zen, die Or­ga­ni­sa­ti­on und Durch­set­zung ge­werk­schaft­li­cher In­ter­es­sen so zu ge­stal­ten, dass Ta­rif­kol­li­sio­nen nach Möglich­keit ver­mie­den wer­den. Das soll ei­nem rein ei­gennützi­gen, struk­tu­rell un­fai­ren Aus­han­deln von Ta­rif­verträgen von Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mern mit Schlüssel­po­si­ti­on so­wie ei­ner hier­durch dro­hen­den Ent­so­li­da­ri­sie­rung in­ner­halb der Ar­beit­neh­mer­schaft ent­ge­gen­wir­ken, um so die Schutz­funk­ti­on des Ta­rif­ver­trags zu stärken.

II.

5 1. Wie sol­che Ta­rif­kon­flik­te gelöst wer­den sol­len, wird seit Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts dis­ku­tiert. Ge­setz­lich ge­re­gelt wur­de die Fra­ge bis­lang nicht. Es wur­de da­von aus­ge­gan­gen, dass Bran­chen­ge­werk­schaf­ten als „Ein­heits­ge­werk­schaf­ten“ nach dem In­dus­trie­ver­bands­prin­zip agie­ren würden (vgl. die Ma­te­ria­li­en zur Ent­ste­hung des Ta­rif­ver­trags­ge­set­zes vom 9. April 1949; ZfA 1973, S. 129 <146>). Man­gels ge­setz­li­cher Re­ge­lung ent­wi­ckel­te dar­auf­hin die Recht­spre­chung Grundsätze, um auf Kon­flik­te zu re­agie­ren, die durch die par­al­le­le Gel­tung meh­re­rer Ta­rif­verträge her­vor­ge­ru­fen wur­den. Die­se Fälle wa­ren sel­ten und wur­den vom Bun­des­ar­beits­ge­richt nach dem Spe­zia­litätsprin­zip der Sachnähe in ei­nem Be­trieb ent­schie­den und auf die­se Wei­se dort Ta­rif­ein­heit her­ge­stellt. Da­nach setzt sich bei ei­ner Ta­rif­kol­li­si­on im Be­trieb der­je­ni­ge Ta­rif­ver­trag durch, der die­sem Be­trieb räum­lich, be­trieb­lich, fach­lich und persönlich am nächs­ten steht und des­halb sei­nen Er­for­der­nis­sen und Ei­gen­ar­ten am ehes­ten ge­recht wird, al­so in­so­fern spe­zi­el­ler ist (vgl. BAG, Ur­teil vom 29. März 1957 - 1 AZR 208/55 -, ju­ris, Rn. 7; Ur­teil vom 14. Ju­ni 1989 - 4 AZR 200/89 -, ju­ris, Rn. 21 ff.; Ur­teil vom 5. Sep­tem­ber 1990 - 4 AZR 59/90 -, ju­ris, Rn. 16 ff.; Ur­teil vom 20. März 1991 - 4 AZR 455/90 -, ju­ris, Rn. 28; zur Kol­li­si­on von be­trieb­li­chen oder be­triebs­ver­fas­sungs­recht­li­chen Nor­men BAG, Ur­teil vom 9. De­zem­ber 2009 - 4 AZR 190/08 -, ju­ris, Rn. 49). Ei­nen Ver­s­toß ge­gen Art. 9 Abs. 3 GG sah das Bun­des­ar­beits­ge­richt hier­in zunächst nicht, denn das Grund­recht der Ko­ali­ti­ons­frei­heit schütze nur ei­nen Kern­be­reich, der durch die Ver­drängung ei­nes Ta­rif­ver­trags nicht berührt wer­de (vgl. BAG, Ur­teil vom 20. März 1991 - 4 AZR 455/90 -, ju­ris, Rn. 27). Das Spe­zia­litätsprin­zip fin­det auch heu­te An­wen­dung, wenn im ein­zel­nen Ar­beits­verhält­nis ei­ne Ta­rif­kon­kur­renz auf­tritt.
6 Die­se Recht­spre­chung stieß zunächst auf brei­te Zu­stim­mung in der Ar­beits­rechts­wis­sen­schaft (et­wa Hromad­ka, NZA 2008, S. 384; m.w.N. Hopf­ner, Grund­ge­setz und ge­setz­li­che Ta­rif­ein­heit bei Ta­rifp­lu­ra­lität, 2015, S. 37, Fn. 72), doch mehr­ten sich die kri­ti­schen Stim­men (Zu­sam­men­stel­lung in BAG, Be­schluss vom 27. Ja­nu­ar 2010 - 4 AZR 549/08 (A) -, ju­ris, Rn. 42; Schlie­mann, in: Fest­schrift für Wolf­gang Hromad­ka, 2008, S. 359 Fn. 4), auch in­ner­halb des Bun­des­ar­beits­ge­richts (vgl. BAG, Ur­teil vom 26. Ja­nu­ar 1994 - 10 AZR 611/92 -, ju­ris, Rn. 58 ff.; Be­schluss vom 22. März 1994 - 1 ABR 47/93 -, ju­ris, Rn. 36) und in den In­stan­zen (Hes­si­sches LAG, Ur­teil vom 2. Mai 2003 - 9 Sa­Ga 637/03 -, ju­ris, Rn. 36; LAG Rhein­land-Pfalz, Ur­teil vom 14. Ju­ni 2007 - 11 Sa 208/07 -, ju­ris, Rn. 71 ff.; Säch­si­sches LAG, Ur­teil vom 2. No­vem­ber 2007 - 7 Sa­Ga 19/07 -, ju­ris, Rn. 134 ff.).
7 2. Im Jahr 2010 gab das Bun­des­ar­beits­ge­richt sei­ne Recht­spre­chung zur Ta­rif­ein­heit im Fall ei­ner un­mit­tel­ba­ren Ta­rif­ge­bun­den­heit des Ar­beit­ge­bers nach § 3 Abs. 1 TVG auf (an­gekündigt in BAG, Be­schluss vom 27. Ja­nu­ar 2010 - 4 AZR 549/08 (A) -, ju­ris, Rn. 43; so­dann BAG, Ur­teil vom 7. Ju­li 2010 - 4 AZR 549/08 -, ju­ris). Die Ta­rifp­lu­ra­lität sei di­rek­te Fol­ge der un­mit­tel­ba­ren Ta­rif­ge­bun­den­heit nach § 3 Abs. 1 TVG und könne nicht nach dem Grund­satz der Ta­rif­ein­heit da­hin­ge­hend auf­gelöst wer­den, dass nur ein Ta­rif­ver­trag „für den Be­trieb“ gel­te. Ein sol­cher Rechts­grund­satz be­ste­he nicht. Die nach § 4 Abs. 1 TVG in den je­wei­li­gen Ar­beits­verhält­nis­sen gel­ten­den ta­rif­li­chen Nor­men müss­ten auch nicht auf­grund prak­ti­scher Schwie­rig­kei­ten ver­drängt wer­den. Die Ge­fahr ständi­ger Ta­rif­aus­ein­an­der­set­zun­gen und Streiks sei ei­ne Fra­ge des Ar­beits­kampf­rechts und dort zu lösen. Rich­ter­li­che Rechts­fort­bil­dung kom­me nicht in Be­tracht, denn das Ta­rif­ver­trags­recht ent­hal­te kei­ne plan­wid­ri­ge Re­ge­lungslücke. Viel­mehr wer­de mit § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB die Exis­tenz par­al­lel an­wend­ba­rer ta­rif­ver­trag­li­cher Re­ge­lungs­wer­ke in ei­nem Be­trieb an­er­kannt. Da­her lie­ge in der Ver­drängung ei­nes Ta­rif­ver­trags ein ge­setz­lich nicht ge­recht­fer­tig­ter Ein­griff in die nach Art. 9 Abs. 3 GG geschütz­te kol­lek­ti­ve Ko­ali­ti­ons­frei­heit der ta­rif­sch­ließen­den Ge­werk­schaft und in die in­di­vi­du­el­le Ko­ali­ti­ons­frei­heit des an die­sen ge­bun­de­nen Ge­werk­schafts­mit­glieds. Der Schutz sei nicht auf ei­nen Kern be­schränkt. Ob der ein­fa­che Ge­setz­ge­ber zu ei­nem der­art weit rei­chen­den Ein­griff ver­fas­sungs­recht­lich be­fugt sei, könne im Er­geb­nis of­fen­blei­ben (vgl. BAG, Ur­teil vom 7. Ju­li 2010 - 4 AZR 549/08 -, ju­ris, Rn. 52 ff., 65).
8 3. Auf die Recht­spre­chungsände­rung setz­te ei­ne rechts­po­li­ti­sche Dis­kus­si­on ein, ob und wie hier­auf zu re­agie­ren sei.
9 a) Aus­gangs­punkt die­ser Dis­kus­si­on war die von der Bun­des­ver­ei­ni­gung der Deut­schen Ar­beit­ge­ber­verbände (BDA) und dem Deut­schen Ge­werk­schafts­bund (DGB) veröffent­lich­te, als Eck­punk­te­pa­pier be­zeich­ne­te Erklärung „Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie si­chern - Ta­rif­ein­heit ge­setz­lich re­geln“ vom 4. Ju­ni 2010. Der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit sei ge­setz­lich zu re­geln und das Ar­beits­kampf­recht ein­zu­schränken: Bei kol­li­die­ren­den, von ver­schie­de­nen Ge­werk­schaf­ten ab­ge­schlos­se­nen Ta­rif­verträgen sol­le der Ta­rif­ver­trag der­je­ni­gen Ge­werk­schaft zur An­wen­dung kom­men, die im Be­trieb mehr Mit­glie­der hat, und im Ar­beits­kampf­recht sol­le die Frie­dens­pflicht für die Mehr­heits­ge­werk­schaft während der Lauf­zeit auch auf die Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten er­streckt wer­den. Der Bun­des­rat un­terstütz­te dies durch ei­nen Ent­schließungs­an­trag (BRDrucks 417/10). Der DGB ver­ließ die Initia­ti­ve al­ler­dings nach ei­nem Jahr, auch weil ins­be­son­de­re die hier be­schwer­deführen­de Ver­ein­te Dienst­leis­tungs­ge­werk­schaft ver.di den Vor­schlag nicht un­terstütz­te.
10 b) Die von der Bun­des­re­gie­rung als Be­ra­tungs­gre­mi­um für Wett­be­werbs­fra­gen ein­ge­setz­te Mo­no­pol­kom­mis­si­on sah es als Auf­ga­be an, In­stru­men­te zu ent­wi­ckeln, die der Ta­rifp­lu­ra­lität ent­ge­gen wirk­ten; es ge­be meh­re­re Lösungsmöglich­kei­ten. Auf ei­ne Hand­lungs­emp­feh­lung wur­de in­des aus­drück­lich ver­zich­tet (vgl. BT­Drucks 17/2600, S. 352 f. Rn. 1008 ff.). Wei­te­re Vor­schläge be­tra­fen die Auflösung der Ta­rifp­lu­ra­lität durch ei­ne „Ta­rif­ein­heit in der Spar­te“ (Bay­reu­ther u.a., Ta­rifp­lu­ra­lität als Auf­ga­be des Ge­setz­ge­bers, 2011, S. 44 ff.), ein be­triebs- oder un­ter­neh­mens­be­zo­ge­nes Mehr­heits­prin­zip mit star­ken Min­der­hei­ten­rech­ten (Grei­ner, in: Ver­hand­lun­gen des 70. Deut­schen Ju­ris­ten­ta­ges, 2014, Band II/2, K 190 <K 192 ff.>) oder Ände­run­gen des Ar­beits­kampf­rechts (Hens­s­ler, RdA 2011, S. 65 <71 ff.>), ins­be­son­de­re in der Da­seins­vor­sor­ge (Fran­zen u.a., Ar­beits­kampf in der Da­seins­vor­sor­ge, 2012, im Jahr 2015 über­nom­men in ei­nen Ent­schließungs­an­trag des Bun­des­ra­tes, BRDrucks 294/15).
11

c) Im von CDU, CSU und SPD für die 18. Le­gis­la­tur­pe­ri­ode im Jahr 2013 ab­ge­schlos­se­nen Ko­ali­ti­ons­ver­trag wur­de dann ver­ein­bart, „den Ko­ali­ti­ons- und Ta­rifp­lu­ra­lis­mus in ge­ord­ne­te Bah­nen zu len­ken“; dafür wol­le man „den Grund­satz der Ta­rif­ein­heit nach dem be­triebs­be­zo­ge­nen Mehr­heits­prin­zip un­ter Ein­bin­dung der Spit­zen­or­ga­ni­sa­tio­nen der Ar­beit­neh­mer und Ar­beit­ge­ber ge­setz­lich fest­schrei­ben“ (Deutsch­lands Zu­kunft ge­stal­ten - Ko­ali­ti­ons­ver­trag zwi­schen CDU, CSU und SPD - 18. Le­gis­la­tur­pe­ri­ode, S. 50). Dar­auf ge­hen die vor­lie­gend an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen zurück.

III.

12 Das mit den Ver­fas­sungs­be­schwer­den an­ge­grif­fe­ne Ta­rif­ein­heits­ge­setz sieht vor, dass Ta­rif­kol­li­sio­nen im Be­trieb nach ei­nem be­triebs­be­zo­ge­nen Mehr­heits­prin­zip auf­gelöst wer­den. Es ändert das Ta­rif­ver­trags­ge­setz und ergänzt Re­ge­lun­gen im Ar­beits­ge­richts­ge­setz. Da­zu ord­net es die Ver­drängung des Ta­rif­ver­trags der Ge­werk­schaft an, die we­ni­ger Mit­glie­der im Be­trieb or­ga­ni­siert, und re­gelt ein Be­schluss­ver­fah­ren zur Fest­stel­lung die­ser Mehr­heit. Ta­rif­ver­hand­lun­gen müssen nun an­de­ren Ge­werk­schaf­ten im Be­trieb be­kannt­ge­ge­ben wer­den. Die­se Ge­werk­schaf­ten müssen vom Ar­beit­ge­ber an­gehört wer­den, wenn an­de­re Ge­werk­schaf­ten mit ihm für ei­nen Be­trieb ver­han­deln, für den auch sie ta­ri­fie­ren wol­len. Nor­miert wird ein An­spruch auf Nach­zeich­nung des ver­drängen­den Ta­rif­ver­trags, wenn der ei­ge­ne Ta­rif­ver­trag nicht zur An­wen­dung kommt. Der Ge­setz­ge­ber re­agiert da­mit aus­weis­lich der Be­gründung des Ge­setz­ent­wurfs auf die Recht­spre­chungsände­rung durch das Bun­des­ar­beits­ge­richt (oben A II 2 Rn. 7). Durch nun mögli­che Ta­rif­kol­li­sio­nen sei die Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie be­ein­träch­tigt (BT­Drucks 18/4062, S. 1).
13 1. Die an­ge­grif­fe­nen Vor­schrif­ten lau­ten:

§ 4a TVG Ta­rif­kol­li­si­on

(1) Zur Si­che­rung der Schutz­funk­ti­on, Ver­tei­lungs­funk­ti­on, Be­frie­dungs­funk­ti­on so­wie Ord­nungs­funk­ti­on von Rechts­nor­men des Ta­rif­ver­trags wer­den Ta­rif­kol­li­sio­nen im Be­trieb ver­mie­den.

(2) 1 Der Ar­beit­ge­ber kann nach § 3 an meh­re­re Ta­rif­verträge un­ter­schied­li­cher Ge­werk­schaf­ten ge­bun­den sein. 2 So­weit sich die Gel­tungs­be­rei­che nicht in­halts­glei­cher Ta­rif­verträge ver­schie­de­ner Ge­werk­schaf­ten über­schnei­den (kol­li­die­ren­de Ta­rif­verträge), sind im Be­trieb nur die Rechts­nor­men des Ta­rif­ver­trags der­je­ni­gen Ge­werk­schaft an­wend­bar, die zum Zeit­punkt des Ab­schlus­ses des zu­letzt ab­ge­schlos­se­nen kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags im Be­trieb die meis­ten in ei­nem Ar­beits­verhält­nis ste­hen­den Mit­glie­der hat. 3 Kol­li­die­ren die Ta­rif­verträge erst zu ei­nem späte­ren Zeit­punkt, ist die­ser für die Mehr­heits­fest­stel­lung maßgeb­lich. 4 Als Be­trie­be gel­ten auch ein Be­trieb nach § 1 Ab­satz 1 Satz 2 des Be­triebs­ver­fas­sungs­ge­set­zes und ein durch Ta­rif­ver­trag nach § 3 Ab­satz 1 Num­mer 1 bis 3 des Be­triebs­ver­fas­sungs­ge­set­zes er­rich­te­ter Be­trieb, es sei denn, dies steht den Zie­len des Ab­sat­zes 1 of­fen­sicht­lich ent­ge­gen. 5 Dies ist ins­be­son­de­re der Fall, wenn die Be­trie­be von Ta­rif­ver­trags­par­tei­en un­ter­schied­li­chen Wirt­schafts­zwei­gen oder de­ren Wertschöpfungs­ket­ten zu­ge­ord­net wor­den sind.

(3) Für Rechts­nor­men ei­nes Ta­rif­ver­trags über ei­ne be­triebs­ver­fas­sungs­recht­li­che Fra­ge nach § 3 Ab­satz 1 und § 117 Ab­satz 2 des Be­triebs­ver­fas­sungs­ge­set­zes gilt Ab­satz 2 Satz 2 nur, wenn die­se be­triebs­ver­fas­sungs­recht­li­che Fra­ge be­reits durch Ta­rif­ver­trag ei­ner an­de­ren Ge­werk­schaft ge­re­gelt ist.

(4) 1 Ei­ne Ge­werk­schaft kann vom Ar­beit­ge­ber oder von der Ver­ei­ni­gung der Ar­beit­ge­ber die Nach­zeich­nung der Rechts­nor­men ei­nes mit ih­rem Ta­rif­ver­trag kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags ver­lan­gen. 2 Der An­spruch auf Nach­zeich­nung be­inhal­tet den Ab­schluss ei­nes die Rechts­nor­men des kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags ent­hal­ten­den Ta­rif­ver­trags, so­weit sich die Gel­tungs­be­rei­che und Rechts­nor­men der Ta­rif­verträge über­schnei­den. 3 Die Rechts­nor­men ei­nes nach Satz 1 nach­ge­zeich­ne­ten Ta­rif­ver­trags gel­ten un­mit­tel­bar und zwin­gend, so­weit der Ta­rif­ver­trag der nach­zeich­nen­den Ge­werk­schaft nach Ab­satz 2 Satz 2 nicht zur An­wen­dung kommt.

(5) 1 Nimmt ein Ar­beit­ge­ber oder ei­ne Ver­ei­ni­gung von Ar­beit­ge­bern mit ei­ner Ge­werk­schaft Ver­hand­lun­gen über den Ab­schluss ei­nes Ta­rif­ver­trags auf, ist der Ar­beit­ge­ber oder die Ver­ei­ni­gung von Ar­beit­ge­bern ver­pflich­tet, dies recht­zei­tig und in ge­eig­ne­ter Wei­se be­kannt­zu­ge­ben. 2 Ei­ne an­de­re Ge­werk­schaft, zu de­ren sat­zungs­gemäßen Auf­ga­ben der Ab­schluss ei­nes Ta­rif­ver­trags nach Satz 1 gehört, ist be­rech­tigt, dem Ar­beit­ge­ber oder der Ver­ei­ni­gung von Ar­beit­ge­bern ih­re Vor­stel­lun­gen und For­de­run­gen münd­lich vor­zu­tra­gen.

§ 8 TVG Be­kannt­ga­be des Ta­rif­ver­trags

Der Ar­beit­ge­ber ist ver­pflich­tet, die im Be­trieb an­wend­ba­ren Ta­rif­verträge so­wie rechts­kräfti­ge Be­schlüsse nach § 99 des Ar­beits­ge­richts­ge­set­zes über den nach § 4a Ab­satz 2 Satz 2 an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trag im Be­trieb be­kannt­zu­ma­chen.

§ 13 TVG In­kraft­tre­ten

(3) § 4a ist nicht auf Ta­rif­verträge an­zu­wen­den, die am 10. Ju­li 2015 gel­ten.

§ 2a ArbGG Zuständig­keit im Be­schlußver­fah­ren

(1) Die Ge­rich­te für Ar­beits­sa­chen sind fer­ner aus­sch­ließlich zuständig für

6. die Ent­schei­dung über den nach § 4a Ab­satz 2 Satz 2 des Ta­rif­ver­trags­ge­set­zes im Be­trieb an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trag.

§ 58 ArbGG Be­weis­auf­nah­me

(3) Ins­be­son­de­re über die Zahl der in ei­nem Ar­beits­verhält­nis ste­hen­den Mit­glie­der oder das Ver­tre­ten­sein ei­ner Ge­werk­schaft in ei­nem Be­trieb kann Be­weis auch durch die Vor­le­gung öffent­li­cher Ur­kun­den an­ge­tre­ten wer­den.

§ 99 ArbGG Ent­schei­dung über den nach § 4a Ab­satz 2 Satz 2 des Ta­rif­ver­trags­ge­set­zes im Be­trieb an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trag

(1) In den Fällen des § 2a Ab­satz 1 Num­mer 6 wird das Ver­fah­ren auf An­trag ei­ner Ta­rif­ver­trags­par­tei ei­nes kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags ein­ge­lei­tet.

(2) Für das Ver­fah­ren sind die §§ 80 bis 82 Ab­satz 1 Satz 1, die §§ 83 bis 84 und 87 bis 96a ent­spre­chend an­zu­wen­den.

(3) Der rechts­kräfti­ge Be­schluss über den nach § 4a Ab­satz 2 Satz 2 des Ta­rif­ver­trags­ge­set­zes im Be­trieb an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trag wirkt für und ge­gen je­der­mann.

(4) 1 In den Fällen des § 2a Ab­satz 1 Num­mer 6 fin­det ei­ne Wie­der­auf­nah­me des Ver­fah­rens auch dann statt, wenn die Ent­schei­dung über den nach § 4a Ab­satz 2 Satz 2 des Ta­rif­ver­trags­ge­set­zes im Be­trieb an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trag dar­auf be­ruht, dass ein Be­tei­lig­ter ab­sicht­lich un­rich­ti­ge An­ga­ben oder Aus­sa­gen ge­macht hat. 2 § 581 der Zi­vil­pro­zess­ord­nung fin­det kei­ne An­wen­dung.

14 2. Die zen­tra­le Re­ge­lung des Ge­set­zes ist § 4a TVG. Des­sen Ab­satz 1 nor­miert die Zwe­cke des Ge­set­zes. Die Zweck­set­zung wird in der Be­gründung des Ge­setz­ent­wurfs der Bun­des­re­gie­rung erläutert:

„Es soll ver­mie­den wer­den, dass die Ent­so­li­da­ri­sie­rung der Be­leg­schaf­ten für Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer oh­ne hin­rei­chen­de Schlüssel­po­si­ti­on im Be­triebs­ab­lauf in ei­ne Ent­wer­tung der Schutz­funk­ti­on des Ta­rif­ver­trags münden kann. Neh­men Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer mit be­son­de­ren Schlüssel­po­si­tio­nen in den Be­trie­ben ih­re In­ter­es­sen ge­son­dert wahr, führt dies ten­den­zi­ell zu ei­ner Be­ein­träch­ti­gung ei­ner wirk­sa­men kol­lek­ti­ven In­ter­es­sen­ver­tre­tung durch die übri­gen Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer, die kei­ne be­son­de­ren Schlüssel­po­si­tio­nen im Be­triebs­ab­lauf in­ne­ha­ben. Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer oh­ne be­son­de­re Schlüssel­po­si­ti­on im Be­triebs­ab­lauf sind dann selbst kol­lek­tiv nur noch ein­ge­schränkt in der La­ge, auf Au­genhöhe mit der Ar­beit­ge­ber­sei­te zu ver­han­deln. Es han­delt sich hier­bei um ei­nen schlei­chen­den Pro­zess, des­sen - auch ge­samt­wirt­schaft­li­che - Aus­wir­kun­gen schon rein fak­tisch nur schwie­rig rückgängig ge­macht wer­den könn­ten“ (BT­Drucks 18/4062, S. 9).

15 Wenn kon­kur­rie­ren­de Ta­rif­ab­schlüsse nicht den Wert ver­schie­de­ner Ar­beits­leis­tung in­ner­halb ei­ner be­trieb­li­chen Ge­mein­schaft zu­ein­an­der wi­der­spie­gel­ten, son­dern primär Aus­druck der je­wei­li­gen Schlüssel­po­si­tio­nen der un­ter­schied­li­chen Beschäftig­ten­grup­pen im Be­triebs­ab­lauf sei­en, wer­de über­dies die Ver­tei­lungs­funk­ti­on des Ta­rif­ver­trags be­ein­träch­tigt (BT­Drucks 18/4062, S. 11 f.). Bei er­folg­rei­chen Ta­rif­ver­hand­lun­gen ei­ner Ge­werk­schaft ver­rin­ge­re sich der Ver­tei­lungs­spiel­raum für die an­ders- und nicht­or­ga­ni­sier­ten Beschäftig­ten. Die Kon­kur­renz un­ter­schied­li­cher Ta­rif­wer­ke könne darüber hin­aus die Her­stel­lung von Ge­samt­kom­pro­mis­sen gefähr­den, die vor al­lem in wirt­schaft­li­chen Kri­sen­si­tua­tio­nen oft­mals zur Beschäfti­gungs­si­che­rung er­for­der­lich sei­en (a.a.O., S. 8). Auch sei die Be­frie­dungs­funk­ti­on des Ta­rif­ver­trags durch Ta­rif­kol­li­sio­nen be­ein­träch­tigt, weil in­ner­be­trieb­li­che Ver­tei­lungskämp­fe auf­träten und sich ein be­reits ta­rif­ge­bun­de­ner Ar­beit­ge­ber je­der­zeit ei­ner Viel­zahl wei­te­rer For­de­run­gen kon­kur­rie­ren­der Ge­werk­schaf­ten ge­genüber­se­hen könne (a.a.O., S. 8).
16 3. a) § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG stellt klar, dass ein Ar­beit­ge­ber an meh­re­re Ta­rif­verträge ge­bun­den sein kann. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nor­miert den Grund­satz der Ta­rif­ein­heit im Be­trieb. Er greift sub­si­diär, wenn es den Ge­werk­schaf­ten nicht ge­lingt, sich au­to­nom ab­zu­stim­men und Ta­rif­kol­li­sio­nen ent­ste­hen. Ei­ne sol­che liegt vor, wenn sich die Gel­tungs­be­rei­che nicht in­halts­glei­cher Ta­rif­verträge ver­schie­de­ner Ge­werk­schaf­ten über­schnei­den, an die der Ar­beit­ge­ber nach § 3 TVG ge­bun­den ist. Die Über­schnei­dung muss in räum­li­cher, zeit­li­cher, be­trieb­lich-fach­li­cher und persönli­cher Hin­sicht vor­lie­gen. Nicht in­halts­gleich sind Ta­rif­verträge, wenn un­ter­schied­li­che Ge­genstände ge­re­gelt wer­den oder wenn der­sel­be Ge­gen­stand un­ter­schied­lich ge­re­gelt wird. Die Re­ge­lungs­ge­genstände der Ta­rif­verträge müssen sich nicht de­cken; auch die teil­wei­se Über­schnei­dung wird er­fasst (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 12 f.).
17 Ei­ne Ta­rif­kol­li­si­on wird nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG auf­gelöst: Da­nach fin­det der Ta­rif­ver­trag, der von der Ge­werk­schaft ge­schlos­sen wur­de, die im Be­trieb we­ni­ger Mit­glie­der hat als die ta­ri­fie­ren­de Ge­werk­schaft mit den meis­ten in ei­nem Ar­beits­verhält­nis ste­hen­den Mit­glie­dern, kei­ne An­wen­dung, „so­weit sich die Gel­tungs­be­rei­che über­schnei­den“. Der Ta­rif­ver­trag der im Be­trieb klei­ne­ren Ge­werk­schaft gilt zwar wei­ter­hin und bin­det die Ge­werk­schaft ins­be­son­de­re an die Frie­dens­pflicht, ver­mit­telt aber kei­ne Ansprüche auf ver­ein­bar­te Leis­tun­gen. Für be­triebs­ver­fas­sungs­recht­li­che Nor­men im Sin­ne der § 3 Abs. 1 und § 117 Abs. 2 Be­trVG gilt das Mehr­heits­prin­zip al­ler­dings nur nach Maßga­be der Son­der­re­ge­lung in § 4a Abs. 3 TVG; sie wer­den nicht ver­drängt, wenn sie zwar im Min­der­heits­ta­rif­ver­trag ge­re­gelt sind, der Mehr­heits­ta­rif­ver­trag da­zu aber kei­ne Aus­sa­ge trifft. Das soll die Kon­ti­nuität ta­rif­ver­trag­lich ge­schaf­fe­ner be­triebs­ver­fas­sungs­recht­li­cher Ver­tre­tungs­struk­tu­ren si­chern (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 14).
18 Im Be­trieb soll nach dem Ta­rif­ein­heits­ge­setz da­mit nur der Ta­rif­ver­trag der­je­ni­gen Ge­werk­schaft Wir­kung ent­fal­ten, die dort die meis­ten Mit­glie­der or­ga­ni­sie­ren kann. An­knüpfungs­punkt ist der Be­trieb als die „So­li­dar­ge­mein­schaft“, die ge­mein­sam ar­beits­tech­ni­sche Zwe­cke ver­folgt (BT­Drucks 18/4062, S. 13). Das kann nach § 4a Abs. 2 Satz 4 TVG auch ein ge­mein­sa­mer Be­trieb meh­re­rer Un­ter­neh­men oder ein Be­trieb sein, den ein Or­ga­ni­sa­ti­ons­ta­rif­ver­trag nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Be­trVG er­rich­tet. Um Miss­brauch zu ver­hin­dern, gilt dies nach § 4a Abs. 2 Satz 5 TVG nicht, wenn Ein­hei­ten von den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en un­ter­schied­li­chen Wirt­schafts­zwei­gen zu­ge­ord­net wer­den.
19 Die Neu­re­ge­lung gilt nach § 13 Abs. 3 TVG nicht für bis zum 10. Ju­li 2015 gel­ten­de Ta­rif­verträge, wo­mit „der be­reits aus­geübten Ta­rif­au­to­no­mie im be­son­de­ren Maße Rech­nung“ ge­tra­gen wer­den soll (BT­Drucks 18/4062, S. 9).
20 b) Ei­ne Ge­werk­schaft, die ei­nen kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trag ge­schlos­sen hat, kann nach § 4a Abs. 4 TVG von der Ar­beit­ge­ber­sei­te die Nach­zeich­nung der Rechts­nor­men ei­nes Ta­rif­ver­trags ei­ner kon­kur­rie­ren­den Ge­werk­schaft ver­lan­gen. Da­mit will der Ge­setz­ge­ber den Nach­tei­len ent­ge­gen­wir­ken, die ei­ner Ge­werk­schaft im Fall ei­ner Ta­rif­kol­li­si­on ent­ste­hen können; sie könne so die Ta­rif­lo­sig­keit ih­rer Mit­glie­der ver­mei­den (BT­Drucks 18/4062 S. 14). Es kom­me nicht dar­auf an, ob und in­wie­weit der Ta­rif­ver­trag tatsächlich ver­drängt würde, son­dern genüge, wenn ei­ne Ge­werk­schaft po­ten­ti­ell ei­nen Nach­teil er­lei­den könn­te (a.a.O.).
21 Nach § 4a Abs. 4 Satz 2 TVG be­zieht sich der An­spruch auf Nach­zeich­nung auf den Ab­schluss ei­nes Ta­rif­ver­trags, „so­weit sich die Gel­tungs­be­rei­che und Rechts­nor­men“ über­schnei­den. Die Min­der­heits­ge­werk­schaft sol­le über den Mehr­heits­ta­rif­ver­trag nur so viel er­hal­ten, wie dies dem Über­schnei­dungs­be­reich der kon­kur­rie­ren­den Ta­rif­verträge ent­spre­che; nur in­so­weit könne ihr ein dem Aus­gleich zugäng­li­cher Nach­teil ent­ste­hen (BT­Drucks 18/4062, S. 14).
22 c) Nach § 4a Abs. 5 Satz 1 TVG wird die Ar­beit­ge­ber­sei­te ver­pflich­tet, die Auf­nah­me von Ta­rif­ver­hand­lun­gen recht­zei­tig und in ge­eig­ne­ter Wei­se be­kannt­zu­ge­ben. Das die­ne der in­ner­be­trieb­li­chen Ta­rif­pu­bli­zität (BT­Drucks 18/4062, S. 15). Da­ne­ben er­wei­tert der mo­di­fi­zier­te § 8 TVG die Ver­pflich­tung des Ar­beit­ge­bers, ab­ge­schlos­se­ne Ta­rif­verträge im Be­trieb be­kannt­zu­ge­ben.
23 An­de­re Ge­werk­schaf­ten, die nach ih­rer Sat­zung eben­falls ta­ri­fie­ren könn­ten, ha­ben nach § 4a Abs. 5 Satz 2 TVG zu­dem das Recht, vom Ar­beit­ge­ber oder Ar­beit­ge­ber­ver­band an­gehört zu wer­den. Sie sol­len Ge­le­gen­heit er­hal­ten, ih­re Vor­stel­lun­gen und For­de­run­gen münd­lich vor­zu­tra­gen; ein Recht auf Ver­hand­lun­gen oder Teil­nah­me dar­an sei das nicht. Doch han­de­le es sich um ein ma­te­ri­el­les Recht, das die Ge­werk­schaf­ten auch ge­richt­lich gel­tend ma­chen könn­ten. Die Anhörung soll je­doch nicht Vor­aus­set­zung für den Ab­schluss ei­nes an­de­ren Ta­rif­ver­trags oder den Ar­beits­kampf sein; auch ste­he die An­wen­dung des Grund­sat­zes der Ta­rif­ein­heit nicht un­ter dem Vor­be­halt der Anhörung (BT­Drucks 18/4062, S. 15).
24 d) Wel­cher Ta­rif­ver­trag im Kol­li­si­ons­fall gilt, kann nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 Abs. 1 ArbGG auf An­trag ei­ner Ta­rif­ver­trags­par­tei ei­nes kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags vom Ar­beits­ge­richt im Be­schluss­ver­fah­ren fest­ge­stellt wer­den. Nicht an­trags­be­rech­tigt sind ein­zel­ne abhängig Beschäftig­te und die Ar­beit­ge­ber, die nicht selbst Par­tei ei­nes kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags sind. Die Ent­schei­dung des Ar­beits­ge­richts gilt nach § 99 Abs. 3 ArbGG mit Wir­kung für al­le. Das Ge­richt muss die be­trieb­li­che Mehr­heit und da­mit die Zahl der Mit­glie­der ei­ner Ge­werk­schaft in ei­nem Be­trieb fest­stel­len, was nach der de­kla­ra­to­ri­schen Vor­schrift des § 58 Abs. 3 ArbGG durch öffent­li­che Ur­kun­den be­wie­sen wer­den kann (vgl. § 415 Abs. 1 ZPO und Bun­des­re­gie­rung, Ant­wort auf ei­ne Klei­ne An­fra­ge, BT­Drucks 18/4156, S. 17).
25

4. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz enthält kei­ne Re­geln zum Ar­beits­kampf­recht. In der Be­gründung zum Ge­setz­ent­wurf heißt es, dass über die Un­verhält­nismäßig­keit von Ar­beitskämp­fen im Ein­zel­fall im Sin­ne des Prin­zips der Ta­rif­ein­heit ge­richt­lich zu ent­schei­den sei; ein Ar­beits­kampf, der auf ei­nen nicht zur An­wen­dung kom­men­den Ta­rif­ver­trag ge­rich­tet sei, die­ne nicht mehr der Si­che­rung der Ta­rif­au­to­no­mie (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 12).

IV.

26 1. Der Be­schwer­deführer im Ver­fah­ren 1 BvR 1571/15 ist ei­ne im Jahr 1947 ge­gründe­te, ge­werk­schaft­li­che, ge­sund­heits- und be­rufs­po­li­ti­sche In­ter­es­sen­ver­tre­tung der an­ge­stell­ten und be­am­te­ten Ärz­tin­nen und Ärz­te in Deutsch­land, der Mar­bur­ger Bund, Ver­band der an­ge­stell­ten und be­am­te­ten Ärz­tin­nen und Ärz­te e.V., mit - im Jahr 2014 - et­wa 117.000 Mit­glie­dern. Zu sei­nen Auf­ga­ben gehört, die Ar­beits­be­din­gun­gen an­ge­stell­ter Ärz­tin­nen und Ärz­te durch Ta­rif­verträge und sons­ti­ge Ver­ein­ba­run­gen mit Ar­beit­ge­bern und Ar­beit­ge­ber­verbänden zu re­geln (§ 2 Abs. 2 Buchst. b der Sat­zung).
27 Für den Mar­bur­ger Bund ver­han­del­te lan­ge die Deut­sche An­ge­stell­ten Ge­werk­schaft (DAG) und dann ver.di - Ver­ei­nig­te Dienst­leis­tungs­ge­werk­schaft. Das ih­nen über­tra­ge­ne Ver­hand­lungs­man­dat wur­de ver.di im Jahr 2005 je­doch ent­zo­gen, da sich die Be­rufs­grup­pe der Ärz­tin­nen und Ärz­te nicht mehr hin­rei­chend ver­tre­ten sah. Seit 2006 schließt der Mar­bur­ger Bund ei­ge­ne Ta­rif­verträge, wo­bei der be­schwer­deführen­de Bun­des­ver­band ta­ri­fiert, wenn sich die räum­li­chen Gel­tungs­be­rei­che der Ta­rif­verträge über den Zuständig­keits­be­reich ei­nes Lan­des­ver­bands hin­aus er­stre­cken.
28 Mit der Ver­fas­sungs­be­schwer­de wen­det sich der Mar­bur­ger Bund so­wohl ge­gen § 4a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 TVG als auch ge­gen § 58 Abs. 3 so­wie § 99 ArbGG und rügt ei­ne Ver­let­zung von Art. 9 Abs. 3 GG.
29 a) Die Ver­fas­sungs­be­schwer­de sei zulässig. Das Ge­setz ord­ne an, dass kol­li­die­ren­de Ta­rif­verträge ver­drängt wer­den, be­schränke mit­tel­bar das Streik­recht und be­zwe­cke die Of­fen­le­gung des Mit­glie­der­be­stan­des. Der Mar­bur­ger Bund sei da­von selbst, un­mit­tel­bar und ge­genwärtig be­trof­fen. Die Re­ge­lun­gen hätten sich be­reits ne­ga­tiv auf sei­ne Stel­lung als ta­riffähi­ger Ver­hand­lungs­part­ner aus­ge­wirkt; Ta­rif­ver­hand­lun­gen sei­en un­ter Be­ru­fung auf das Ta­rif­ein­heits­ge­setz ver­wei­gert wor­den. Er sei ge­zwun­gen, sein ta­rif­po­li­ti­sches Ver­hal­ten zu ändern und Or­ga­ni­sa­ti­onsände­run­gen ein­zu­lei­ten, wie den Wie­der­ein­tritt in Ta­rif­ge­mein­schaf­ten oder die Öff­nung für an­de­re Be­rufs­grup­pen. Die feh­len­de Streikmöglich­keit schwäche die Ver­hand­lungs­po­si­ti­on. Ge­gen die Re­geln bestünden we­der fach­ge­richt­li­che Rechts­be­hel­fe noch außer­ge­richt­li­che Rechts­schutzmöglich­kei­ten; in der Sa­che ge­he es um spe­zi­fisch ver­fas­sungs­recht­li­che Fra­gen.
30 b) Die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen ver­letz­ten die in Art. 9 Abs. 3 GG ga­ran­tier­te Ko­ali­ti­ons­frei­heit. Sie schütze die auf ei­ne Förde­rung der Ar­beits- und Wirt­schafts­be­din­gun­gen ge­rich­te­te Ko­ali­ti­on selbst in ih­rem Be­stand, ih­rer or­ga­ni­sa­to­ri­schen Aus­ge­stal­tung und in ih­ren Betäti­gun­gen, da­bei ins­be­son­de­re das au­to­no­me Aus­han­deln von Ta­rif­verträgen. Schon nach dem Wort­laut, wo­nach das Grund­recht für je­der­mann und für al­le Be­ru­fe gel­te, sei auch die Ge­werk­schafts­plu­ra­lität geschützt. § 4a Abs. 2 TVG und § 58 Abs. 3, § 99 ArbGG be­wirk­ten mehr­fa­che Ein­grif­fe in den Schutz­be­reich des Grund­rechts.
31 Die Nicht­an­wen­dung des Ta­rif­ver­trags der Min­der­heits­ge­werk­schaft im Kol­li­si­ons­fall und die dar­aus re­sul­tie­ren­de Be­gren­zung von Ar­beits­kampf­maßnah­men so­wie die Not­wen­dig­keit, den Mit­glie­der­be­stand zum Nach­weis der Mehr­heit ge­werk­schaft­lich or­ga­ni­sier­ter Mit­glie­der im Be­trieb of­fen­zu­le­gen, grei­fe un­mit­tel­bar in die Ta­rif­au­to­no­mie ein. Mit­tel­bar-fak­tisch grei­fe der Ge­setz­ge­ber in Art. 9 Abs. 3 GG ein, in­dem er das Recht auf selbständi­ge Ko­ali­ti­ons­ver­hand­lun­gen und die Or­ga­ni­sa­ti­ons­ho­heit von Ge­werk­schaf­ten be­schränke. Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten sei­en ge­zwun­gen, ge­gen ih­ren Wil­len stra­te­gi­sche Or­ga­ni­sa­ti­ons­ent­schei­dun­gen zu tref­fen, wo­durch der Ge­setz­ge­ber die Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der Ko­ali­tio­nen vor­struk­tu­rie­re und de­ren Chan­cen­gleich­heit be­ein­flus­se. Zu­dem nor­mie­re der Ge­setz­ge­ber mit dem Ta­rif­ein­heits­ge­setz das un­aus­ge­spro­che­ne Leit­bild von Bran­chen­ein­heits­ge­werk­schaf­ten, wo­mit er die staat­li­che Neu­tra­litäts­pflicht ver­let­ze.
32 Der sub­si­diäre Cha­rak­ter der Kol­li­si­ons­re­gel las­se den Ein­griff nicht ent­fal­len, weil die Ver­drängung des Min­der­heits­ta­rif­ver­trags Vor­wir­kun­gen nicht als un­be­ab­sich­tig­ten Ne­ben­ef­fekt, son­dern als Haupt­zweck des Ge­set­zes ent­fal­te. Eben­so we­nig ent­fal­le der Ein­griff, weil je­de Ge­werk­schaft die Chan­ce ha­be, ih­rer­seits Mehr­heits­ge­werk­schaft zu wer­den. Das der De­mo­kra­ti­e­theo­rie ent­lehn­te und auf po­li­ti­sche Par­tei­en be­zo­ge­ne Ar­gu­ment pas­se hier nicht. Es sei je­den­falls pro­ble­ma­tisch, dass das Ta­rif­ein­heits­ge­setz Art. 9 Abs. 3 GG als Grund­recht des so­zia­len Aus­gleichs nur auf der Ar­beit­neh­mer­sei­te aus­ge­stal­te. Es bräuch­te be­son­de­re Gründe, war­um der so­zia­le Aus­gleich nicht primär im Verhält­nis des tra­di­tio­nel­len Kon­flikts von Ka­pi­tal und Ar­beit ver­or­tet, son­dern nur im Bin­nen­verhält­nis „Ar­beit“ ge­se­hen wer­de.
33 c) Die Ein­grif­fe in Art. 9 Abs. 3 GG sei­en nicht zu recht­fer­ti­gen. Der Ge­setz­ge­ber ver­fol­ge nur teil­wei­se le­gi­ti­me Zie­le. Das sei­en der Schutz der Ta­rif­au­to­no­mie und die in § 4a Abs. 1 TVG ge­nann­te Si­che­rung der Schutz- und Be­frie­dungs­funk­ti­on des Ta­rif­ver­trags. Nicht le­gi­tim sei da­ge­gen das Ziel, die Ver­tei­lungs- und Ord­nungs­funk­ti­on zu re­geln. Die Ver­tei­lung sei ge­ra­de von den Ko­ali­tio­nen aus­zu­han­deln. Ei­ne wi­der­spruchs­freie Ord­nung der Ar­beits­be­zie­hun­gen im Be­trieb verände­re den Schutz­be­reich von Art. 9 Abs. 3 GG; das not­stands­fes­te Grund­recht er­lei­de so ei­ne form­lo­se Ver­fas­sungsände­rung. Rei­ne Prak­ti­ka­bi­litäts- und Zweckmäßig­keits­erwägun­gen könn­ten zur Recht­fer­ti­gung nicht her­an­ge­zo­gen wer­den. Auf durch Ar­beits­kampf­maßnah­men be­trof­fe­ne Rech­te Drit­ter zie­le das Ge­setz über­haupt nicht ab.
34 Der Ge­setz­ge­ber dürfe auch bei le­gi­ti­mer Ziel­set­zung nur ein­grei­fen, wenn ein kor­rek­tur­bedürf­ti­ger Zu­stand vor­lie­ge, al­so et­wa struk­tu­rel­le Un­gleich­ge­wich­te ein aus­ge­wo­ge­nes Aus­han­deln der Ar­beits- und Wirt­schafts­be­din­gun­gen nicht mehr zu­ließen. Er­for­der­lich sei kei­ne an­ti­zi­pier­te abs­trak­te Möglich­keit, son­dern ei­ne sich über länge­re Zeit kon­kret ne­ga­tiv aus­wir­ken­de Ta­rif­au­to­no­mie­pra­xis. Es ge­be je­doch kei­nen Kau­sal­zu­sam­men­hang zwi­schen Ta­rifp­lu­ra­lität und den be­haup­te­ten Funk­ti­ons­ein­bußen; in­so­weit fehl­ten be­leg­ba­re Tat­sa­chen.
35 Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz sei zur Zweck­er­rei­chung nicht ge­eig­net. Es ent­las­te die Ar­beit­ge­ber­sei­te nicht von Ta­rif­ver­hand­lun­gen mit kon­kur­rie­ren­den Ge­werk­schaf­ten und Ta­rif­for­de­run­gen, schaf­fe aber neu­es Kon­flikt­po­ten­zi­al. Ins­be­son­de­re sei ein ag­gres­si­ver Wett­be­werb um Mit­glie­der zu er­war­ten. Das Mehr­heits­prin­zip pas­se schon ka­te­go­ri­al nicht zu ei­nem Frei­heits­recht, das ge­ra­de dem Schutz der Min­der­heit ge­gen den Mehr­heits­wil­len in der De­mo­kra­tie die­ne. Die be­frie­den­de Funk­ti­on des Flächen­ta­rif­ver­trags wer­de in Fra­ge ge­stellt. So­weit mit dem Ta­rif­ein­heits­ge­setz ei­ne An­reiz­struk­tur ge­schaf­fen wer­den sol­le, dass sich kon­kur­rie­ren­de Ge­werk­schaf­ten ab­stimm­ten, könn­ten die Adres­sa­ten das nicht durch ei­ge­nes Ver­hal­ten er­rei­chen, denn sie sei­en im­mer auch von der Kon­kur­renz­ge­werk­schaft abhängig. Auch das Nach­zeich­nungs­recht in § 4a Abs. 4 TVG sei nicht ge­eig­net, die Min­der­heits­ge­werk­schaft zu schützen; ver­wei­ge­re ihr die Ar­beit­ge­ber­sei­te von vorn­her­ein ei­nen Ta­rif­ab­schluss, könne sie die­ses nicht nut­zen. Der Be­trieb sei nicht ein­deu­tig zu be­stim­men und die Mehr­heits­verhält­nis­se sei­en kaum fest­stell­bar.
36 Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz sei nicht er­for­der­lich. Es ge­be an­de­re Re­ge­lungsmöglich­kei­ten, die Ta­rif­au­to­no­mie im Sin­ne des Ge­setz­ge­bers zu fördern und we­ni­ger in­ten­siv in die Ko­ali­ti­ons­frei­heit aus Art. 9 Abs. 3 GG ein­zu­grei­fen. Das sei­en bei­spiels­wei­se das Spe­zia­litätsprin­zip, das Mo­dell ei­ner dy­na­mi­schen Re­präsen­ta­ti­vität, die Ein­bin­dung der Min­der­heits­ge­werk­schaft in die Ta­rif­ver­hand­lun­gen zwi­schen Mehr­heits­ge­werk­schaft und Ar­beit­ge­ber, die Syn­chro­ni­sie­rung der Lauf­zeit kon­kur­rie­ren­der Ta­rif­verträge, die Vor­ga­be ei­ner Ver­hand­lungs- oder Streikführer­schaft oder ei­ne zwin­gen­de Sch­lich­tung.
37 Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz sei nicht verhält­nismäßig im en­ge­ren Sin­ne. Mit den Ka­te­go­ri­en der Mehr­heits- und Min­der­heits­ge­werk­schaft ände­re es das Ge­werk­schafts­gefüge und ha­be er­heb­li­che Vor­wir­kun­gen auf die Ta­ri­fland­schaft. Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten trügen das Ar­beits­kamp­f­ri­si­ko. Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten würden struk­tu­rell deut­lich be­nach­tei­ligt; das sei aber al­len­falls durch ei­ne Ver­fas­sungsände­rung möglich, in­dem in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG „für al­le Be­ru­fe“ ge­stri­chen wer­de. Ei­ne Gefähr­dung der Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie durch Streikhäufig­keit oder Aus­nut­zung von Schlüssel­po­si­tio­nen sei em­pi­risch nicht nach­weis­bar.
38 2. Der Be­schwer­deführer im Ver­fah­ren 1 BvR 1588/15 ist der im Jahr 1969 ge­gründe­te Ver­band für Ver­kehrs­flug­zeugführer und Flu­g­in­ge­nieu­re in Deutsch­land, Ver­ei­ni­gung Cock­pit e.V., des­sen sat­zungsmäßiger Zweck der Zu­sam­men­schluss des Cock­pit­per­so­nals ist. Er hat et­wa 9.300 Mit­glie­der. Zu den sat­zungsmäßigen Zie­len gehört die Wah­rung und Ver­fol­gung sei­ner be­rufs- und ta­rif­po­li­ti­schen In­ter­es­sen. Die zunächst mit der DAG be­ste­hen­de Ta­rif­ge­mein­schaft en­de­te im Jahr 2000. Seit­dem han­delt Cock­pit ta­rif­po­li­tisch ei­genständig.
39 Mit der Ver­fas­sungs­be­schwer­de wen­det sich Cock­pit ge­gen § 4a Abs. 1 und Abs. 2 TVG; die wei­te­ren Vor­schrif­ten dien­ten der Um­set­zung die­ser Nor­men. Die Re­ge­lun­gen ver­letz­ten Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG.
40 a) Die zulässi­ge Ver­fas­sungs­be­schwer­de sei be­gründet. Der Ge­setz­ge­ber grei­fe in den Schutz­be­reich der Ko­ali­ti­ons­frei­heit ein, in­dem er ta­riffähi­gen Ko­ali­tio­nen die Fähig­keit neh­me, Ta­rif­verträge ab­zu­sch­ließen, und ein Haf­tungs­ri­si­ko er­zeu­ge, was ver­hin­de­re, Ar­beitskämp­fe durch­zuführen. Das Ge­setz ent­zie­he ei­ner Ge­werk­schaft den Kern­be­reich ih­rer Betäti­gung, was fak­tisch ei­nem Ge­werk­schafts­ver­bot gleich­kom­me. Mit­glie­der von Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten würden ta­rif­los ge­stellt.
41 b) Die­se Ein­grif­fe sei­en nicht zu recht­fer­ti­gen, weil An­halts­punk­te und ins­be­son­de­re em­pi­ri­sche Be­le­ge zu et­wai­gen ne­ga­ti­ven Fol­gen der Ta­rifp­lu­ra­lität im Be­trieb fehl­ten. Das Ge­setz hal­te auch ei­ner Verhält­nismäßig­keitsprüfung nicht stand. Le­gi­ti­me Zwe­cke sei­en die Si­che­rung der Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie und die Ver­hin­de­rung ei­ner Gefähr­dung der Ver­tei­lungs­funk­ti­on in Ta­rif­verträgen. An­de­re als die in § 4a Abs. 1 TVG ge­nann­ten Zie­le könn­ten zur Recht­fer­ti­gung nicht her­an­ge­zo­gen wer­den.
42 Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz sei al­len­falls mit Blick auf das Gleich­be­hand­lungs­ge­bot al­ler abhängig Beschäftig­ten als As­pekt der Ver­tei­lungs­funk­ti­on von Ta­rif­verträgen ein ge­eig­ne­tes Mit­tel zur Ziel­er­rei­chung. Das Mehr­heits­prin­zip sei da­ge­gen un­ge­eig­net, da es der Pri­vat- und Ta­rif­au­to­no­mie we­sens­fremd und sys­tem­wid­rig sei. Es ber­ge er­heb­li­ches Kon­flikt­po­ten­ti­al und gefähr­de auch bis­lang funk­tio­nie­ren­de Ko­ope­ra­ti­ons­be­zie­hun­gen. Auch Mehr­heits­ge­werk­schaf­ten gäben ein­zel­nen Be­rufs­grup­pen den Vor­zug. Wei­ter­hin könn­ten auch meh­re­re Ge­werk­schaf­ten mit ei­nem Ar­beit­ge­ber ver­han­deln.
43 Es ge­be mil­de­re Mit­tel. Die Re­ge­lung sei im Übri­gen un­zu­mut­bar. Sie schaf­fe kei­nen Aus­gleich, son­dern las­se die Ko­ali­ti­ons­frei­heit der Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten völlig zurück­tre­ten. Da­ge­gen stünden we­der Prak­ti­ka­bi­litäts­pro­ble­me noch die Gleich­be­hand­lung der Beschäftig­ten. Auch das Anhörungs- und das Nach­zeich­nungs­recht könn­ten den schwer­wie­gen­den Ein­griff in Art. 9 Abs. 3 GG nicht kom­pen­sie­ren.
44 c) Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz ver­let­ze auch völker­recht­li­che Vor­schrif­ten. Es ver­s­toße ge­gen Art. 11 Abs. 1 EM­RK und ge­gen die Übe­r­ein­kom­men der In­ter­na­tio­na­len Ar­beits­or­ga­ni­sa­ti­on (IAO) Nr. 87 und 98.
45 3. Die Be­schwer­deführer im Ver­fah­ren 1 BvR 2883/15 sind der dbb be­am­ten­bund und ta­rif­uni­on (dbb), die Nah­ver­kehrs­ge­werk­schaft (NahVG) so­wie ei­nes ih­rer Mit­glie­der.
46 Der dbb ist als Spit­zen­or­ga­ni­sa­ti­on im Sin­ne von § 2 Abs. 2 TVG ein Zu­sam­men­schluss von Ge­werk­schaf­ten und Verbänden des öffent­li­chen Diens­tes so­wie des pri­va­ten Dienst­leis­tungs­sek­tors in Deutsch­land. Nach sei­ner Sat­zung ver­folgt er den Zweck, die Ein­zel­mit­glie­der kol­lek­tiv zu ver­tre­ten und de­ren be­rufs­be­ding­te recht­li­che, wirt­schaft­li­che, so­zia­le und po­li­ti­sche Be­lan­ge zu fördern so­wie Ge­mein­schafts­auf­ga­ben wahr­zu­neh­men. Dies er­folgt ins­be­son­de­re durch das Aus­han­deln und die Ver­ein­ba­rung von Ta­rif­verträgen. Der dbb ist Ver­trags­par­tei zahl­rei­cher Ta­rif­verträge, dar­un­ter für den öffent­li­chen Dienst des Bun­des und der Länder so­wie im Be­reich der Ver­ei­ni­gung der kom­mu­na­len Ar­beit­ge­ber­verbände, und Par­tei zahl­rei­cher Flächen- und Haus­ta­rif­verträge, die er teils al­lein, teils als Mit­glied ei­ner Ta­rif­ge­mein­schaft mit an­de­ren Ge­werk­schaf­ten ver­han­delt und ei­genständig ab­ge­schlos­sen hat.
47 Die NahVG ist über die kom­ba ge­werk­schaft mit­tel­ba­re Mit­glieds­ge­werk­schaft des dbb. Sie ver­folgt nach ih­rer Sat­zung das Ziel, die be­ruf­li­chen, so­zia­len, wirt­schaft­li­chen, recht­li­chen und öko­lo­gi­schen In­ter­es­sen ih­rer Mit­glie­der zu wah­ren und zu fördern. Ins­be­son­de­re will sie die Le­bens- und Ar­beits­be­din­gun­gen ih­rer Mit­glie­der durch den Ab­schluss von Ta­rif­verträgen ver­bes­sern. Über die NahVG or­ga­ni­siert der dbb bun­des­weit Mit­glie­der in al­len Be­rei­chen des Nah­ver­kehrs. Nach § 16 der Sat­zung be­sch­ließt ei­ne Ta­rif­kom­mis­si­on die ta­rif­po­li­ti­schen Zie­le; Ta­rif­ver­hand­lun­gen führt ei­ne Ver­hand­lungs­de­le­ga­ti­on aus dbb und NahVG.
48 Wei­te­rer Be­schwer­deführer im Ver­fah­ren 1 BvR 2883/15 ist ein bei ei­nem Nah­ver­kehrs­un­ter­neh­men beschäftig­tes Mit­glied der NahVG.
49 Die ge­mein­sa­me Ver­fas­sungs­be­schwer­de rich­tet sich im We­sent­li­chen ge­gen § 4a TVG, ge­gen § 2a Abs. 1 Nr. 6 und § 99 ArbGG so­wie ge­gen den auf § 4a TVG be­zo­ge­nen § 58 Abs. 3 ArbGG. Gerügt wird ins­be­son­de­re ei­ne Ver­let­zung von Art. 9 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 in Ver­bin­dung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
50 a) Die Be­schwer­deführen­den sei­en be­schwer­de­be­fugt. Dies gel­te nicht nur mit Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG, son­dern auch in Be­zug auf Art. 2 Abs. 1 in Ver­bin­dung mit Art. 20 Abs. 3 GG, da das Ta­rif­ein­heits­ge­setz of­fen las­se, wie die be­trieb­li­che Mehr­heit der Ge­werk­schafts­mit­glie­der im Ein­zel­nen zu be­stim­men sei.
51 b) Die Ver­fas­sungs­be­schwer­de sei be­gründet.
52 aa) Mit dem Ta­rif­ein­heits­ge­setz grei­fe der Ge­setz­ge­ber nicht nur in die Ko­ali­ti­ons­frei­heit der Ko­ali­tio­nen, son­dern auch in die der ein­zel­nen Ge­werk­schafts­mit­glie­der ein, weil die­se ih­re Ar­beits- und Wirt­schafts­be­din­gun­gen nicht mehr mit Hil­fe der von ih­nen frei gewähl­ten Ge­werk­schaft ver­bes­sern könn­ten.
53 Es lägen kei­ne zur Recht­fer­ti­gung er­for­der­li­chen hin­rei­chend ge­wich­ti­gen Gründe des Ge­mein­wohls vor. Der Ge­setz­ge­ber ha­be den Sach­ver­halt nicht auf­geklärt, wes­halb schon das Ge­setz­ge­bungs­ver­fah­ren man­gel­haft sei. Der Ein­griff sei nicht zu recht­fer­ti­gen. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz ver­let­ze den Grund­satz, dass Ge­werk­schaf­ten geg­ner­un­abhängig sein müss­ten, denn der Zu­schnitt des Be­trie­bes, den das Ta­rif­ein­heits­ge­setz als Be­zugs­größe be­nen­ne, wer­de ent­schei­dend vom Ar­beit­ge­ber be­ein­flusst; er er­hal­te da­mit auf sei­ne Geg­ner Ein­fluss.
54 Der Ein­griff sei un­verhält­nismäßig. Zwar sei die Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie ein le­gi­ti­mes Ziel, doch bestünden hin­sicht­lich der in § 4a Abs. 1 TVG be­nann­ten Teil­zie­le Zwei­fel. So wi­der­spre­che die Ver­tei­lungs­funk­ti­on zur Her­stel­lung in­ner­be­trieb­li­cher Lohn­ge­rech­tig­keit mit Hil­fe des Mehr­heits­prin­zips der in Art. 9 Abs. 3 GG an­ge­leg­ten Au­to­no­mie der Ko­ali­tio­nen. Das Mehr­heits­prin­zip sei auch zur Ver­wirk­li­chung der Schutz- und Be­frie­dungs­funk­ti­on un­ge­eig­net. Es feh­le ein An­reiz zur Ko­ope­ra­ti­on, was be­ste­hen­de Ta­rif­ge­mein­schaf­ten gefähr­de.
55 Die Re­ge­lung sei nicht er­for­der­lich, da zwei­fach über­schießend: Ver­drängt würden al­le Ta­rif­verträge der Min­der­heits­ge­werk­schaft, ob­wohl die ge­woll­te ein­heit­li­che und wi­der­spruchs­freie Ord­nung im Be­trieb nicht gefähr­det sei, wenn al­le sich in­halt­lich nicht über­schnei­den­den Ta­rif­verträge wei­ter zur An­wen­dung kämen. Ver­drängt würden auch Ta­rif­verträge ei­ner Bran­chen­ge­werk­schaft, die aber nicht das Störpo­ten­ti­al hätten, wel­ches der Ge­setz­ge­ber den Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten - zu Un­recht - zu­schrei­be.
56 Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz sei un­an­ge­mes­sen, denn die den Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten dro­hen­den exis­tenz­gefähr­den­den Nach­tei­le wögen je­den­falls schwe­rer als der höchst un­si­che­re Bei­trag zur Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie.
57 bb) Der Jus­tiz­gewährungs­an­spruch aus Art. 2 Abs. 1 in Ver­bin­dung mit Art. 20 Abs. 3 GG sei ver­letzt, weil der Ge­setz­ge­ber kein ge­richt­li­ches Ver­fah­ren zur Verfügung stel­le, das ei­ne um­fas­sen­de Prüfung in an­ge­mes­se­ner Zeit si­che­re. Mit Blick auf die Ku­mu­la­ti­on un­gelöster Rechts­fra­gen be­ste­he ei­ne ho­he Wahr­schein­lich­keit, dass die Lauf­zeit vie­ler Ta­rif­verträge schon ge­en­det ha­be, be­vor ei­ne rechts­kräfti­ge Ent­schei­dung vor­lie­ge. Ein­zel­ne abhängig Beschäftig­te, die ta­rif­li­che Ansprüche gel­tend mach­ten, sei­en nicht in der La­ge, schlüssig zur An­wend­bar­keit des je­wei­li­gen Ta­rif­ver­trags vor­zu­tra­gen und Be­weis an­zu­bie­ten.
58 4. Be­schwer­deführe­rin im Ver­fah­ren 1 BvR 1043/16 ist die ver.di - Ver­ein­te Dienst­leis­tungs­ge­werk­schaft. Ihr sat­zungsmäßiger Or­ga­ni­sa­ti­ons­be­reich um­fasst zahl­rei­che Bran­chen, wes­halb sie als Mul­ti­bran­chen­ge­werk­schaft be­zeich­net wird. Sie ist nach dem In­dus­trie­ver­bands­prin­zip ge­glie­dert und geht nach § 5 Nr. 1 Satz 2 ih­rer Sat­zung vom Grund­satz „Ein Be­trieb - ei­ne Ge­werk­schaft - ein Ta­rif­ver­trag“ aus. Sat­zungsmäßiger Zweck ist un­ter an­de­rem, die wirt­schaft­li­chen und öko­lo­gi­schen, die so­zia­len, be­ruf­li­chen und kul­tu­rel­len In­ter­es­sen der Mit­glie­der zu ver­tre­ten und zu fördern. Der­zeit gehören ver.di et­wa 2 Mil­lio­nen Mit­glie­der an. Ver.di hat et­wa 20.000 Ta­rif­verträge als Haus- und Flächen­ta­rif­verträge auf Lan­des- und Bun­des­ebe­ne ab­ge­schlos­sen, in die meist sämt­li­che im Be­trieb beschäftig­ten Be­rufs­grup­pen ein­be­zo­gen wer­den.
59 Mit der Ver­fas­sungs­be­schwer­de wen­det sich ver.di un­mit­tel­bar ge­gen § 4a TVG und rügt ei­ne Ver­let­zung von Art. 9 Abs. 3 GG.
60 a) Die Re­ge­lung des § 4a TVG grei­fe mehr­fach in Art. 9 Abs. 3 GG ein. Das gel­te je­den­falls, wenn die in § 4a Abs. 2 TVG nor­mier­te Ver­drängung von Ge­set­zes we­gen un­abhängig von ei­ner Ent­schei­dung im Ver­fah­ren nach § 99 ArbGG ein­tre­te. Wenn sich ver.di in der Min­der­heits­po­si­ti­on befände, wer­de ein for­mell und in­halt­lich wirk­sa­mer Ta­rif­ver­trag ver­drängt, ob­wohl kei­ne Ta­rif­kon­kur­renz vor­lie­ge. Dies gel­te selbst dann, wenn der Mehr­heits­ta­rif­ver­trag Ge­genstände des Min­der­heits­ta­rif­ver­trags gar nicht nor­mie­re. Sei ver.di in der Mehr­heit, lie­ge ein Ein­griff dar­in, dass sich Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten des von ver.di er­ziel­ten Er­geb­nis­ses im We­ge der Nach­zeich­nung be­die­nen könn­ten, oh­ne hierfür fi­nan­zi­el­le und or­ga­ni­sa­to­ri­sche Mit­tel auf­wen­den zu müssen. Wei­te­re Ein­grif­fe sei­en dar­in zu se­hen, dass die Kol­li­si­ons­re­gel ta­rif­po­li­ti­sche Über­le­gun­gen be­ein­flus­se. Zu­dem ha­be die vom Ar­beit­ge­ber aus­zuüben­de Or­ga­ni­sa­ti­ons­ge­walt über sei­nen Be­trieb un­mit­tel­ba­ren Ein­fluss auf die Mehr- und Min­der­heits­verhält­nis­se und da­mit die Gel­tung aus­ge­han­del­ter Ta­rif­verträge. Als Ein­grif­fe zu wer­ten sei­en auch die mit der Mehr­heits­fest­stel­lung ver­bun­de­nen ne­ga­ti­ven Aus­wir­kun­gen auf den Mit­glie­der­be­stand und die Mo­bi­li­sie­rung der Mit­glie­der, die Be­las­tung der Ta­rif­au­to­no­mie mit Blick auf die Sperr­wir­kung nach § 77 Abs. 3 und § 87 Abs. 1 Be­trVG für Be­triebs­ver­ein­ba­run­gen, die auch ein ver­dräng­ter Min­der­heits­ta­rif­ver­trag ent­fal­te, so­wie die Aus­wir­kun­gen auf die Rechtmäßig­keit von Ar­beitskämp­fen.
61 b) Die Ein­grif­fe sei­en nicht zu recht­fer­ti­gen. Selbst wenn man da­von aus­gin­ge, § 4a Abs. 1 TVG ent­hiel­te le­gi­ti­me Zie­le, sei­en die Re­ge­lun­gen nicht verhält­nismäßig. Es feh­le schon an der Ge­eig­net­heit. Be­trieb so­wie Mehr­heits­verhält­nis­se und da­mit auch der an­wend­ba­re Ta­rif­ver­trag sei­en „flüch­ti­ge Ge­bil­de“. Da­mit könn­ten die in § 4a Abs. 1 TVG ge­nann­ten Zie­le nicht er­reicht wer­den. Für be­ste­hen­de Ta­rif­ge­mein­schaf­ten schaf­fe das Ge­setz Fehl­an­rei­ze. Zu­dem bestünden prak­ti­sche Schwie­rig­kei­ten bei der Fest­stel­lung der Mehr­heit.
62 Die Kol­li­si­ons­re­gel sei nicht er­for­der­lich, denn der Min­der­heits­ta­rif­ver­trag wer­de vollständig und da­mit über­schießend ver­drängt. Mil­der wäre es, die ver­drängen­de Wir­kung auf Über­schnei­dungs­be­rei­che zu be­gren­zen und den Ge­mein­schafts­be­trieb aus­zu­neh­men. Je­den­falls für den ge­werk­schaft­li­chen Un­ter­bie­tungs­wett­be­werb ge­be es mit dem Ver­fah­ren zur Fest­stel­lung von Ta­riffähig­keit und Ta­rif­zuständig­keit ein funk­tio­nell äqui­va­len­tes Ver­fah­ren, das die in § 4a Abs. 1 TVG ge­nann­ten Zie­le eher ver­wirk­li­che.
63 Die ge­setz­li­che Re­ge­lung sei un­an­ge­mes­sen. Em­pi­ri­sches Ma­te­ri­al für den vom Ge­setz­ge­ber ge­nann­ten Hand­lungs­be­darf feh­le. Un­zu­mut­bar sei je­den­falls die Ta­rif­lo­sig­keit der Mit­glie­der von Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten. Auch die Mehr­heits­verhält­nis­se könn­ten nicht oder nur viel zu spät fest­ge­stellt wer­den.
64 5. Die Be­schwer­deführe­rin im Ver­fah­ren 1 BvR 1477/16 ist die 1992 als Be­rufs­ver­band von Flug­be­glei­te­rin­nen und Flug­be­glei­tern ge­gründe­te und in der Rechts­form ei­nes ein­ge­tra­ge­nen Ver­eins auf­tre­ten­de Un­abhängi­ge Flug­be­glei­ter Or­ga­ni­sa­ti­on (UFO). Ihr sat­zungsmäßiger Zweck ist die Förde­rung und Wah­rung der Be­lan­ge des Flug­be­glei­ter­per­so­nals so­wie die Ver­fol­gung be­rufs- und ta­rif­po­li­ti­scher In­ter­es­sen, ins­be­son­de­re durch Ab­schluss von Ta­rif­verträgen bei Flug­ge­sell­schaf­ten und Ar­beit­ge­bern, die Flug­be­glei­ter­per­so­nal beschäfti­gen. Im Jahr 2000 nahm UFO Ta­rif­ver­hand­lun­gen mit ei­ner Flug­ge­sell­schaft auf und voll­zog da­mit den Wech­sel vom Be­rufs­ver­band zur Ge­werk­schaft. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt hat die Ta­riffähig­keit von UFO im Jahr 2004 fest­ge­stellt (BAG, Be­schluss vom 14. De­zem­ber 2004 - 1 ABR 51/03 -, ju­ris, Rn. 30 ff.). Ak­tu­ell or­ga­ni­siert UFO rund 13.000 Flug­be­glei­te­rin­nen und Flug­be­glei­ter über­wie­gend bei der Deut­schen Luft­han­sa.
65 Mit der Ver­fas­sungs­be­schwer­de wen­det sich UFO ge­gen die Kol­li­si­ons­norm des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG und rügt ei­ne Ver­let­zung von Art. 9 Abs. 3 GG.
66 Die zulässi­ge Ver­fas­sungs­be­schwer­de sei be­gründet, weil die Kol­li­si­ons­re­gel ein nicht zu recht­fer­ti­gen­der Ein­griff in die Ko­ali­ti­ons­frei­heit sei. Sie führe zum Ent­zug der Ta­rif­gel­tung und be­wir­ke, dass Ar­beitskämp­fe für un­zulässig erklärt würden. Die Be­ein­träch­ti­gung wer­de durch die Vor­wir­kun­gen des Ge­set­zes noch verstärkt.
67 Die Ein­grif­fe sei­en nicht zu recht­fer­ti­gen. Das Ge­setz ver­fol­ge kei­nen le­gi­ti­men Zweck. Es feh­le be­reits an Be­le­gen und em­pi­ri­schen Da­ten, wo­nach sich aus Ta­rif- oder Ar­beits­kampfp­lu­ra­lität ei­ne kor­rek­tur­bedürf­ti­ge Gefähr­dung der Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie er­ge­be. Auch ei­ne Gefähr­dung der in § 4a Abs. 1 TVG ge­nann­ten Funk­tio­nen ei­nes Ta­rif­ver­trags sei nicht be­legt. Je­den­falls sei­en die Ein­grif­fe nicht verhält­nismäßig. Das Ge­setz sei zur Er­rei­chung le­gi­ti­mer Zie­le nicht ge­eig­net. Die An­wen­dung des Mehr­heits­prin­zips förde­re den Kampf um Mit­glie­der und set­ze Fehl­an­rei­ze für die in­ter­ge­werk­schaft­li­che Ko­ope­ra­ti­on. Un­ge­eig­net sei auch die An­knüpfung an den Be­trieb und an ei­ne re­la­ti­ve Mehr­heit. Schutz­funk­ti­on und Mehr­heits­prin­zip sei­en un­ver­ein­bar, weil die Mit­glie­der ei­ner Min­der­heits­ge­werk­schaft im Kol­li­si­ons­fall ta­rif- und da­mit schutz­los stünden, was durch das Nach­zeich­nungs­recht nicht aus­ge­gli­chen wer­den könne. Auch feh­le ein Ver­fah­ren zur schnel­len und rechts­si­che­ren Fest­stel­lung der Mehr­heit un­ter Aus­schluss sich wi­der­spre­chen­der Ent­schei­dun­gen in In­di­vi­du­al­strei­tig­kei­ten.
68

Die Kol­li­si­ons­re­gel sei nicht er­for­der­lich, weil we­ni­ger ein­schnei­den­de und so­gar wirk­sa­me­re Mit­tel wie ei­ne Re­gu­lie­rung des Ar­beits­kampf­rechts oder ei­ne Teil­ver­drängung, so­weit Über­schnei­dun­gen vorlägen, zur Verfügung stünden. Sie sei auch nicht an­ge­mes­sen. Es ent­fal­le das wich­tigs­te von Art. 9 Abs. 3 GG gewähr­te Recht, ei­ge­ne Ta­rif­verträge für die ei­ge­nen Mit­glie­der zur An­wen­dung zu brin­gen. Nur ein Ge­werk­schafts­ver­bot sei ein in­ten­si­ve­rer Ein­griff. Auf der an­de­ren Sei­te stünden le­dig­lich das ar­beit­ge­ber­sei­ti­ge In­ter­es­se, möglichst nur mit ei­ner Ge­werk­schaft ver­han­deln zu müssen, und der Wunsch der eta­blier­ten Ge­werk­schaf­ten, vor Kon­kur­renz geschützt zu wer­den. Anhörungs- und Nach­zeich­nungs­rech­te änder­ten an der feh­len­den An­ge­mes­sen­heit nichts. Ein­griffs­verstärkend wir­ke viel­mehr, dass die Ver­drängungs­wir­kung auch dann ein­set­ze, wenn der Mehr­heits­ta­rif­ver­trag nur noch nach­wir­ke oder Ge­genstände des Min­der­heits­ta­rif­ver­trags gar nicht reg­le, dass die Kol­li­si­ons­re­gel un­ab­ding­bar sei und dass sie Vor­wir­kun­gen zei­ti­ge so­wie mit­tel- und lang­fris­tig die Exis­tenz von Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten als re­gelmäßigen Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten gefähr­de.

V.

69

Die Ver­fas­sungs­be­schwer­den des Mar­bur­ger Bun­des und von Cock­pit wa­ren mit Anträgen auf Er­lass ei­ner einst­wei­li­gen An­ord­nung ver­bun­den, das Ta­rif­ein­heits­ge­setz bis zu ei­ner Ent­schei­dung in der Haupt­sa­che außer Kraft zu set­zen. Die­se hat der Ers­te Se­nat mit Be­schluss vom 6. Ok­to­ber 2015 ab­ge­lehnt (BVerfGE 140, 211).

VI.

70 Zu den Ver­fas­sungs­be­schwer­den Stel­lung ge­nom­men ha­ben die Bun­des­re­gie­rung; aus Sicht der Rechts­pra­xis die Präsi­den­tin des Bun­des­ar­beits­ge­richts, der Bund der Rich­te­rin­nen und Rich­ter der Ar­beits­ge­richts­bar­keit (BRA), die Bun­des­rechts­an­walts­kam­mer (BRAK) und die Bun­des­no­tar­kam­mer; von der Beschäftig­ten­sei­te der Deut­sche Ge­werk­schafts­bund (DGB), die Ei­sen­bahn- und Ver­kehrs­ge­werk­schaft (EVG) und der Ver­band an­ge­stell­ter Aka­de­mi­ker und lei­ten­der An­ge­stell­ter der che­mi­schen In­dus­trie (VAA), von der Ar­beit­ge­ber­sei­te die Bun­des­ver­ei­ni­gung der Deut­schen Ar­beit­ge­ber­verbände (BDA) ge­mein­sam mit dem Ar­beit­ge­ber­ver­band Luft­ver­kehr (AGVL), die Ver­ei­ni­gung der kom­mu­na­len Ar­beit­ge­ber­verbände (VKA), der Bun­des­ver­band Deut­scher Pri­vat­kli­ni­ken (BDPK), der Ar­beit­ge­ber- und Wirt­schafts­ver­band der Mo­bi­litäts- und Ver­kehrs­dienst­leis­ter (Agv Mo­Ve) für die Deut­sche Bahn AG, der Ar­beit­ge­ber­ver­band Deut­scher Ei­sen­bah­nen (AGV­DE) so­wie aus Sicht der For­schung das Wirt­schafts- und So­zi­al­wis­sen­schaft­li­che In­sti­tut (WSI).
71 1. Die Bun­des­re­gie­rung hält die Ver­fas­sungs­be­schwer­den für un­zulässig, je­den­falls aber für un­be­gründet.
72 a) Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz re­agie­re auf ei­ne Ände­rung der recht­li­chen und tatsächli­chen Rah­men­be­din­gun­gen in der Ta­rif­po­li­tik. Da­zu gehöre die Ände­rung der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts, das sich im Jahr 2010 endgültig von dem - be­reits zu­vor in Ero­si­on be­grif­fe­nen - Grund­satz der Ta­rif­ein­heit ver­ab­schie­det ha­be. In tatsäch­li­cher Hin­sicht wer­de das bis­he­ri­ge Ko­ope­ra­ti­ons­mo­dell ge­werk­schaft­li­cher In­ter­es­sen­wahr­neh­mung zu­neh­mend durch ein Kon­kur­renz­mo­dell ver­drängt, bei dem ein­zel­ne Be­rufs­grup­pen ih­re In­ter­es­sen verstärkt kon­fron­ta­tiv und auch im Wett­be­werb mit an­de­ren Be­rufs­grup­pen wahrnähmen. Den dar­aus re­sul­tie­ren­den Ri­si­ken be­geg­ne das Ta­rif­ein­heits­ge­setz in der Form in­di­rek­ter Steue­rung.
73 Zen­tra­les Steue­rungs­ziel des Ge­set­zes sei es, Ta­rif­kol­li­sio­nen zu ver­mei­den, weil nur so den sich aus der Ta­rifp­lu­ra­lität er­ge­ben­den Nach­tei­len ent­ge­gen­ge­wirkt wer­den könne. Die Kol­li­si­ons­re­gel sei nur das Mit­tel, um das ei­gent­li­che Re­ge­lungs­ziel des Ge­set­zes zu ver­wirk­li­chen. Von ihr gin­gen Wir­kun­gen in­di­rek­ter Art als Vor­wir­kun­gen aus, die den Hand­lungs­kon­text der be­tei­lig­ten Ak­teu­re veränder­ten. Es wer­de ei­ne An­reiz­struk­tur ge­schaf­fen, Ta­rif­kol­li­sio­nen durch ko­or­di­nier­tes und ko­ope­ra­ti­ves Vor­ge­hen selbst zu ver­mei­den. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz be­schränke nicht den Wett­be­werb, son­dern ände­re den recht­li­chen Rah­men, in dem die­ser künf­tig statt­fin­den sol­le. Grund­recht­lich ge­be es kei­nen Schutz vor sol­chen Verände­run­gen. Ge­werk­schaf­ten könn­ten sich wei­ter betäti­gen; ihr Be­stand sei nicht gefähr­det. Die Ko­ali­ti­ons­frei­heit ga­ran­tie­re we­der ein Recht auf Er­folg in die­sem Wett­be­werb noch sei mit ihr ein An­spruch auf Ta­rif­gel­tung ver­bun­den. Selbst wenn man in dem Ge­setz ei­nen Ein­griff sähe, wäre die­ser ge­recht­fer­tigt, da verhält­nismäßig. Die Einschätzungs­präro­ga­ti­ve des Ge­setz­ge­bers rei­che ge­ra­de bei wirt­schaft­li­chen Sach­ver­hal­ten sehr weit.
74 In der münd­li­chen Ver­hand­lung hat die Bun­des­re­gie­rung be­tont, die Neu­re­ge­lung die­ne dem Er­halt der Funk­ti­onsfähig­keit des Ta­rif­ver­trags­sys­tems. Ei­ne verschärf­te Ge­werk­schafts­kon­kur­renz gefähr­de die­se. Das Ge­setz schaf­fe ei­nen Ord­nungs­rah­men als Me­cha­nis­mus zur Si­che­rung der Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit und den An­reiz für die so­li­da­ri­sche Wahr­neh­mung der In­ter­es­sen der Beschäftig­ten und sol­le ins­be­son­de­re die Ge­mein­sam­kei­ten im Ar­beit­neh­mer­la­ger stärken, um Pro­zes­sen der Ent­so­li­da­ri­sie­rung ent­ge­gen­zu­wir­ken.
75

b) Ge­gen die Zulässig­keit der Ver­fas­sungs­be­schwer­den bestünden Be­den­ken. Es sei nicht er­sicht­lich, dass sich die Kol­li­si­ons­re­gel des § 4a Abs. 2 TVG ge­genwärtig aus­wir­ke. Al­len­falls sei­en Vor­wir­kun­gen er­kenn­bar. Es feh­le aber auch an der un­mit­tel­ba­ren Be­trof­fen­heit. Zu­dem sei der Grund­satz der Sub­si­dia­rität nicht ge­wahrt, denn zunächst sei­en die Ar­beits­ge­rich­te an­zu­ru­fen.

76 c) Nach Auf­fas­sung der Bun­des­re­gie­rung sind die Ver­fas­sungs­be­schwer­den je­den­falls un­be­gründet. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz ver­let­ze die Be­schwer­deführen­den we­der in ih­rem Grund­recht aus Art. 9 Abs. 3 GG noch in an­de­ren Rech­ten.
77 aa) Die Ga­ran­tie des Art. 9 Abs. 3 GG sei vom An­satz her ein Frei­heits­recht. Primär be­trof­fen sei die ge­werk­schaft­li­che Betäti­gungs­frei­heit in Form des Rechts, Ta­rif­verträge ab­zu­sch­ließen, zen­tra­ler in­halt­li­cher Prüfungs­maßstab al­so die Ta­rif­au­to­no­mie. Nicht be­trof­fen sei­en hin­ge­gen die Or­ga­ni­sa­ti­ons- und Be­stands­ga­ran­tie so­wie das Streik­recht. Die Ta­rif­au­to­no­mie sei ein von vorn­her­ein norm­ge­prägtes Grund­recht, in dem sich ein sub­jek­tiv-frei­heits­recht­li­cher und ein ob­jek­tiv-in­sti­tu­tio­nel­ler Ge­halt ver­schränk­ten. Die den Ge­setz­ge­ber tref­fen­de Pflicht, ein funk­ti­onsfähi­ges Ta­rif­ver­trags­sys­tem zur Verfügung zu stel­len, könne un­ter­schied­lich um­ge­setzt wer­den; das Grund­ge­setz ga­ran­tie­re kein be­stimm­tes Sys­tem. Da­her könne der Ge­setz­ge­ber ei­ne Sys­te­ment­schei­dung für oder ge­gen die Ta­rif­ein­heit tref­fen.
78 Be­herr­schen­der Grund­ge­dan­ke des Art. 9 Abs. 3 GG sei die so­li­da­ri­sche In­ter­es­sen­durch­set­zung und nicht das Wett­be­werbs­prin­zip. Mit die­ser Ziel­set­zung sei die Ko­ali­ti­ons­frei­heit ein li­be­ra­les Frei­heits­recht mit ei­ner so­zia­len Auf­ga­be. Es sei die im all­ge­mei­nen In­ter­es­se lie­gen­de öffent­li­che Auf­ga­be, das Ar­beits­le­ben durch Ta­rif­verträge sinn­voll zu ord­nen und die Ge­mein­schaft da­durch so­zi­al zu be­frie­den.
79 (1) Das Ge­setz sei kein Ein­griff, son­dern ei­ne bloße Aus­ge­stal­tung der Ko­ali­ti­ons­frei­heit, weil ein in­ter­ner, im Grund­recht selbst an­ge­leg­ter Zweck ver­folgt wer­de und kei­ne außer­halb des Grund­rechts lie­gen­den Ge­mein­wohl­be­lan­ge ver­wirk­licht wer­den soll­ten. Es sei not­wen­di­ger In­halt des Grund­rechts, die Be­zie­hun­gen zwi­schen den Trägern wi­der­strei­ten­der In­ter­es­sen zu ko­or­di­nie­ren. Auf­ga­be des Ge­setz­ge­bers sei es, durch Aus­ge­stal­tung Rah­men­be­din­gun­gen zu schaf­fen, die gewähr­leis­te­ten, dass die so­zia­len Funk­tio­nen erfüllt würden. Le­gi­ti­me Zwe­cke sei­en da­mit im Grund­recht selbst und im nor­ma­ti­ven Leit­bild an­ge­legt. Da es sich um die Re­ge­lung kom­ple­xer, schwer über­schau­ba­rer Zu­sam­menhänge hand­le, könne nicht ver­langt wer­den, dass die künf­ti­ge Ent­wick­lung mit hin­rei­chen­der Wahr­schein­lich­keit oder gar Si­cher­heit über­seh­bar sein müsse. Es sei nicht fern­lie­gend, sich auf ei­ne bloße Evi­denz­kon­trol­le zu be­schränken. Je­den­falls aber be­ru­he die Einschätzung der Gefähr­dungs­la­ge durch den Ge­setz­ge­ber auf ei­ner hin­rei­chend tragfähi­gen Grund­la­ge und sei ver­tret­bar.
80 (2) Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz las­se sich recht­fer­ti­gen, weil die Ord­nungs­funk­ti­on der Ta­rif­au­to­no­mie mehr­fach be­ein­träch­tigt sei. Der in­ter­ge­werk­schaft­li­che Wett­be­werb ver­an­las­se ver­mehr­te Ver­hand­lun­gen, die da­zu führ­ten, dass in ei­nem Be­trieb dann ne­ben­ein­an­der meh­re­re, sich wi­der­spre­chen­de ta­rif­li­che Re­ge­lungs­sys­te­me für die­sel­ben Beschäftig­ten­grup­pen gel­ten würden. In wirt­schaft­li­chen Kri­sen­si­tua­tio­nen fal­le es bei Ta­rifp­lu­ra­lität ten­den­zi­ell schwe­rer, Ge­samt­kom­pro­mis­se her­zu­stel­len. Ge­recht­fer­tigt sei auch, ge­gen die Gefähr­dung der Ver­tei­lungs­funk­ti­on vor­zu­ge­hen; hier re­agie­re der Ge­setz­ge­ber auf ei­ne Asym­me­trie in der Ver­hand­lungs­si­tua­ti­on, weil ei­ne klei­ne Grup­pe der Be­leg­schaft über ein Blo­cka­de­po­ten­ti­al verfüge und die Aus­ein­an­der­set­zung über Sach­fra­gen durch stra­te­gi­sche und or­ga­ni­sa­ti­ons­po­li­ti­sche Erwägun­gen der kon­kur­rie­ren­den Ge­werk­schaf­ten über­la­gert würde. Dies be­ein­träch­ti­ge gleich­zei­tig die Be­frie­dungs­funk­ti­on der Ta­rif­verträge, weil der Be­triebs­frie­den un­ter den Ver­tei­lungskämp­fen der kon­kur­rie­ren­den Ge­werk­schaf­ten lei­de und Ar­beit­ge­ber ei­ner Viel­zahl wei­te­rer For­de­run­gen kon­kur­rie­ren­der Ge­werk­schaf­ten aus­ge­setzt sei­en. Das Ge­setz stärke auch die Schutz­funk­ti­on der Ta­rif­au­to­no­mie für die ein­zel­nen Beschäftig­ten; sie gel­te nicht nur ver­ti­kal zwi­schen Ar­beit­ge­ber und Beschäftig­ten, son­dern auch ho­ri­zon­tal zwi­schen Beschäftig­ten­grup­pen.
81 (3) Der Ge­setz­ge­ber ha­be die Gren­zen sei­nes Ge­stal­tungs­spiel­raums ein­ge­hal­ten. Ei­ne Verhält­nismäßig­keitsprüfung im übli­chen Sinn sei nicht vor­zu­neh­men. Der vom Ge­setz­ge­ber gewähl­te An­satz sei erst dann ver­fas­sungs­wid­rig, wenn er von vorn­her­ein un­ge­eig­net sei, das an­ge­streb­te Ziel zu er­rei­chen, wofür die ge­setz­ge­be­ri­sche Einschätzung maßgeb­lich sei. Es müsse deut­lich er­kenn­bar sein, dass ei­ne Fehl­einschätzung vor­ge­le­gen ha­be. Die Prüfung müsse sich da­bei auf den primären Re­ge­lungs- und Steue­rungs­me­cha­nis­mus des Ge­set­zes be­zie­hen, und auch die Auflösung mögli­cher Ta­rif­kol­li­sio­nen müsse vor­ran­gig im Zu­sam­men­hang mit die­sem Re­ge­lungs­an­satz ge­se­hen wer­den.
82 Das be­triebs­be­zo­ge­ne Mehr­heits­prin­zip sei ein adäqua­tes Mit­tel, um den Pro­ble­men des Ta­rif­ver­trags, die aus ei­nem Kon­kur­renz­mo­dell ge­werk­schaft­li­cher In­ter­es­sen­wahr­neh­mung erwüch­sen, ent­ge­gen­zu­wir­ken. Es er­zeu­ge ei­nen gleichmäßigen An­reiz zur Ko­ope­ra­ti­on, da kei­ne Ge­werk­schaft an­neh­men könne, in sämt­li­chen Be­trie­ben ei­ner Bran­che oder ei­nes Un­ter­neh­mens die Mehr­heit zu stel­len, auch wenn den Be­tei­lig­ten vor Ort häufig klar sei, wel­che Ge­werk­schaft sich in der Mehr­heit be­fin­de. Die An­knüpfung an das Un­ter­neh­men sei kei­ne Al­ter­na­ti­ve. Sie ga­ran­tie­re nicht, dass die in­ten­dier­te Steue­rungs­wir­kung ge­nau­so gut funk­tio­nie­re. Pro­ble­me bei der Hand­ha­bung des Be­triebs­be­griffs in der Pra­xis sei­en nicht zu befürch­ten, weil die Recht­spre­chung da­mit be­reits um­zu­ge­hen wis­se. Zu­dem sei der Be­trieb nach wie vor die klas­si­sche So­li­dar­ge­mein­schaft der Beschäftig­ten. Des­halb wäre es auch nicht sach­ge­recht, im Sin­ne der dy­na­mi­schen Re­präsen­ta­ti­vität auf den bloßen Über­schnei­dungs­be­reich und da­mit auf ei­ne klei­ne­re Ein­heit als den Be­trieb ab­zu­stel­len.
83 Im Un­ter­schied zum Spe­zia­litätsprin­zip sei das Mehr­heits­prin­zip bes­ser ge­eig­net, Ta­rif­kol­li­sio­nen schon im Vor­feld zu ver­mei­den. Es genüge be­reits die (mögli­che) Mehr­heits­po­si­ti­on ei­ner klei­nen Ge­werk­schaft in nur ei­nem Be­trieb, da­mit sich ei­ne größere Ge­werk­schaft auf sie zu­be­we­gen müsse. Hier ent­ste­he Ko­ope­ra­ti­on durch Nicht­wis­sen. Die Re­ge­lun­gen zum Nach­weis der Mehr­heits­verhält­nis­se und das Ver­fah­ren ih­rer ge­richt­li­chen Fest­stel­lung ent­fal­te­ten ih­re Wir­kung erst, wenn ei­ne Ta­rif­kol­li­si­on ein­ge­tre­ten sei. Die Möglich­keit, die ei­ge­ne Mit­glie­der­zahl durch öffent­li­che Ur­kun­den nach­zu­wei­sen, schütze Grund­rech­te der Ge­werk­schaf­ten und ih­rer Mit­glie­der, da Na­men nicht of­fen­ge­legt wer­den müss­ten. Die Po­si­ti­on von Ge­werk­schaf­ten wer­de durch die Of­fen­le­gung nicht be­ein­träch­tigt, weil sich Mehr­heits­verhält­nis­se ständig veränder­ten und sich auf den kon­kre­ten Be­trieb bezögen, während Ta­rif­ver­hand­lun­gen in der Re­gel be­triebsüberg­rei­fend geführt würden.
84 (4) Die Rech­te von Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten und ih­rer Mit­glie­der würden durch flan­kie­ren­de ver­fah­rens­recht­li­che Vor­keh­run­gen und das Nach­zeich­nungs­recht ge­wahrt. Die Ver­fah­rens­re­gel des § 58 Abs. 3 ArbGG zur Fest­stel­lung der Mehr­heit im Be­trieb ste­he in not­wen­di­gem Zu­sam­men­hang zur Ent­schei­dung für das be­triebs­be­zo­ge­ne Mehr­heits­prin­zip. Sie sei ein An­nex zu den ma­te­ri­el­len Re­ge­lun­gen des Ge­set­zes und tei­le de­ren recht­li­ches Schick­sal. Je­den­falls aber würden die Ge­heim­hal­tungs­in­ter­es­sen der be­tei­lig­ten Ge­werk­schaf­ten wei­test möglich ge­si­chert.
85 Die Bun­des­re­gie­rung ist der Auf­fas­sung, das Ge­setz sei neu­tral for­mu­liert, wen­de sich nicht ein­sei­tig ge­gen Be­rufs­grup­pen- oder Spar­ten­ge­werk­schaf­ten und berück­sich­ti­ge in größtmögli­chem Um­fang die In­ter­es­sen der Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten. Die un­ter­schied­li­che Be­hand­lung von Mehr­heit und Min­der­heit be­geg­ne kei­nen Be­den­ken, da da­mit le­dig­lich an for­ma­le Kri­te­ri­en an­ge­knüpft wer­de.
86 bb) Auch ei­ne Ver­let­zung des Rechts­staats­prin­zips schei­de aus, weil das Ge­setz ge­nau das reg­le, was be­ab­sich­tigt sei, und dafür ei­nen prak­ti­ka­blen ver­fah­rens­recht­li­chen Me­cha­nis­mus be­reit­stel­le. De­tail­fra­gen sei­en von den da­zu be­ru­fe­nen Fach­ge­rich­ten zu klären.
87 cc) Die Berück­sich­ti­gung von in­ter­na­tio­na­lem Recht führe zu kei­nem an­de­ren Er­geb­nis. Art. 11 EM­RK könne ein­ge­schränkt wer­den, um die Rech­te der an ei­nem Ta­rif­kon­flikt be­tei­lig­ten Ge­werk­schaf­ten zu berück­sich­ti­gen und in Aus­gleich zu brin­gen. Der Eu­ropäische Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te räume den Ver­trags­staa­ten ei­nen wei­ten Einschätzungs- und Er­mes­sens­spiel­raum bei Maßnah­men ein, die ge­werk­schaft­li­che Rechts­be­zie­hun­gen und Betäti­gun­gen beträfen. Auch die Übe­r­ein­kom­men der In­ter­na­tio­na­len Ar­beits­or­ga­ni­sa­ti­on (IAO) Nr. 87 und Nr. 98 gin­gen nicht über die Grundsätze des Art. 9 Abs. 3 GG hin­aus.
88 2. Die Präsi­den­tin des Bun­des­ar­beits­ge­richts stellt die un­ter § 4a TVG fal­len­den und die nicht da­von er­fass­ten Fall­kon­stel­la­tio­nen dar und schil­dert die Ent­schei­dungs­pra­xis des Bun­des­ar­beits­ge­richts. Die Ar­beits­ge­rich­te hätten auf­tre­ten­de Kon­flik­te nach un­ter­schied­li­chen Kri­te­ri­en gelöst. Rechts­strei­tig­kei­ten über Ta­rifp­lu­ra­lität bei bei­der­sei­ti­ger Ta­rif­ge­bun­den­heit nach § 3 TVG sei­en in den letz­ten 25 Jah­ren je­doch sel­ten ge­we­sen. Die Ent­schei­dun­gen hätten kei­ne im Ar­beits­le­ben ty­pi­schen Sach­ver­hal­te be­trof­fen. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz ent­hal­te kei­ne aus­drück­li­che Be­stim­mung, was mit den un­ter dem nicht mehr an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trag er­wor­be­nen Rech­ten auf lau­fen­de Be­triebs­ren­te oder er­wor­be­nen An­wart­schaf­ten auf künf­ti­ge Be­triebs­ren­te ge­sche­hen sol­le. Ob und un­ter wel­chen ver­fas­sungs­recht­li­chen Vor­ga­ben das Pro­blem durch die fach­ge­richt­li­che Recht­spre­chung lösbar sei, ha­be das Bun­des­ar­beits­ge­richt noch nicht zu ent­schei­den ge­habt.
89 3. Der Bund der Rich­te­rin­nen und Rich­ter der Ar­beits­ge­richts­bar­keit (BRA) geht da­von aus, dass sich das Ta­rif­ein­heits­ge­setz in der Re­gel nicht auf die Zulässig­keit von Ar­beits­kampf­maßnah­men aus­wir­ke. Das neue Ver­fah­ren zur Fest­stel­lung der Mehr­heits­verhält­nis­se be­ein­träch­ti­ge aber die Rechts­schutz­ga­ran­tie. Dies gel­te ins­be­son­de­re für den In­di­vi­dual­pro­zess von Beschäftig­ten über die An­wend­bar­keit ei­nes Ta­rif­ver­trags. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz ge­be den Pro­zess­par­tei­en kei­ne aus­rei­chen­de Hand­ha­be zur Durch­set­zung ih­rer Po­si­tio­nen. Ein Fest­stel­lungs­ver­fah­ren nach § 99 ArbGG sei zur Klärung der Mehr­heits­verhält­nis­se grundsätz­lich ge­eig­net, könne aber von der Beschäftig­ten­sei­te gar nicht und von der Ar­beit­ge­ber­sei­te nur als Ta­rif­ver­trags­par­tei ein­ge­lei­tet wer­den. Zu­dem sei kei­ne Aus­set­zungs­pflicht vor­ge­se­hen.
90 4. Die Bun­des­rechts­an­walts­kam­mer (BRAK) wie­der­holt ih­re be­reits im Ge­setz­ge­bungs­ver­fah­ren geäußer­ten Be­den­ken ge­gen die Ver­fas­sungsmäßig­keit des Ge­set­zes. Die Ver­drängung ei­nes kraft bei­der­sei­ti­ger Ta­rif­bin­dung gel­ten­den Ta­rif­ver­trags sei ein Ein­griff in die Ko­ali­ti­ons­frei­heit, der nicht zu recht­fer­ti­gen sei. Es feh­le der Nach­weis ei­ner Gefähr­dung ei­ner funk­tio­nie­ren­den Ta­rif­au­to­no­mie; zu­dem sei das Ge­setz un­ge­eig­net, in­ner­be­trieb­li­che Ver­tei­lungskämp­fe zu ver­mei­den und den Be­triebs­frie­den zu gewähr­leis­ten.
91 5. Die Stel­lung­nah­me der Bun­des­no­tar­kam­mer be­schränkt sich auf die Be­weis­re­gel des § 58 Abs. 3 ArbGG. Da für je­den ein­zel­nen Beschäftig­ten um­fang­rei­che Fest­stel­lun­gen zu tref­fen sei­en und es auf die ei­ge­ne Wahr­neh­mung der Ur­kund­s­per­son an­kom­me, sei das Ver­fah­ren in der Pra­xis nicht hand­hab­bar.
92 6. Der Deut­sche Ge­werk­schafts­bund (DGB) führt aus, dass er mit sei­nen Mit­glieds­ge­werk­schaf­ten das Prin­zip der Ta­rif­ein­heit fa­vo­ri­sie­re. Die Re­ge­lung sei zwar un­ter den Mit­glieds­ge­werk­schaf­ten um­strit­ten, in der Sa­che sei die Ko­di­fi­zie­rung der Ta­rif­ein­heit aber rich­tig. Ei­ne so­li­da­ri­sche Ta­rif­po­li­tik mit bran­chen­ein­heit­li­chen Ta­rif­verträgen für al­le Beschäftig­ten wer­de durch kon­kur­rie­ren­de Ta­rif­verträge in Fra­ge ge­stellt und könne ih­re so­zia­le Wir­kung nicht mehr ent­fal­ten. Würden die un­ter­schied­li­chen In­ter­es­sen der ver­schie­de­nen Beschäftig­ten­grup­pen vor der Ar­beit­ge­ber­sei­te aus­ge­tra­gen, schwäche das die Ge­werk­schaf­ten. Auch der Um­stand, dass die glei­che Tätig­keit im Be­trieb bei An­wen­dung ver­schie­de­ner Ta­rif­verträge un­ter­schied­lich ent­lohnt wer­de, führe zu ei­ner Spal­tung und Schwächung der Beschäftig­ten ins­ge­samt und ei­ner sin­ken­den Ak­zep­tanz von Ge­werk­schaf­ten und Ta­rif­verträgen. Das zeig­ten Re­struk­tu­rie­rungsfälle, da kampf­star­ke Beschäftig­ten­grup­pen mit ty­pi­scher­wei­se si­che­ren Ar­beitsplätzen nicht mehr in Lösun­gen ein­ge­bun­den wer­den könn­ten. Um Ge­schlos­sen­heit der Beschäftig­ten zu er­rei­chen, sei Kon­kur­renz­mi­ni­mie­rung ent­schei­dend.
93 Die vom Ge­setz­ge­ber im Rah­men sei­ner Aus­ge­stal­tungs­kom­pe­tenz ge­schaf­fe­ne Kol­li­si­ons­norm las­se Wett­be­werb zu, förde­re aber, da die Kol­li­si­ons­re­ge­lung nur sub­si­diär gel­te, die au­to­no­me Verständi­gung zwi­schen den Ge­werk­schaf­ten. Die mit dem Ta­rif­ein­heits­ge­setz ge­fun­de­ne Lösung sei die scho­nen­ds­te der dis­ku­tier­ten Va­ri­an­ten. Auf Über­schnei­dun­gen im persönli­chen Gel­tungs­be­reich be­schränk­te Re­ge­lun­gen würden zu im­mer stärke­rer Dif­fe­ren­zie­rung und da­mit zu Zer­split­te­rung und Zer­glie­de­rung führen. Die Wie­der­einführung des Spe­zia­litäts­grund­sat­zes würde Ge­werk­schaf­ten begüns­ti­gen, die Haus­ta­rif­verträge - und da­mit oft­mals Gefällig­keits­ta­rif­verträge - ab­schlössen.
94 7. Die Ei­sen­bahn- und Ver­kehrs­ge­werk­schaft (EVG) schließt sich dem DGB an. Sie weist dar­auf hin, dass ei­ne ge­setz­li­che Re­ge­lung des Mehr­heits­prin­zips dann sinn­voll sei, wenn ein ge­mein­sa­mes Vor­ge­hen al­ler Ge­werk­schaf­ten auf frei­wil­li­ger Ba­sis nicht möglich er­schei­ne und Kon­flik­te auf be­trieb­li­cher Ebe­ne es­ka­lier­ten. Der Ge­setz­ge­ber sei nicht ge­hin­dert, das Ta­rif­ver­trags­sys­tem ein­fach­recht­lich aus­zu­ge­stal­ten. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz dürfe je­doch kei­nes­falls als Be­gründung für Ein­grif­fe in das Ar­beits­kampf­recht her­an­ge­zo­gen wer­den.
95 8. Nach Auf­fas­sung des Ver­ban­des an­ge­stell­ter Aka­de­mi­ker und lei­ten­der An­ge­stell­ter der che­mi­schen In­dus­trie (VAA) ver­letzt das Ta­rif­ein­heits­ge­setz die Ko­ali­ti­ons­frei­heit, ins­be­son­de­re weil es klei­nen Ge­werk­schaf­ten unmöglich ge­macht wer­de, Ta­rif­verträge für ih­re Mit­glie­der ab­zu­sch­ließen. Ein­zi­ger Grund für das Ge­setz sei ei­ne auf­grund Ta­rif­aus­ein­an­der­set­zun­gen bei der Bahn und der Luft­han­sa gefühl­te, aber nicht durch Tat­sa­chen be­leg­ba­re Zu­nah­me von Streiks. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz ver­s­toße auch ge­gen in­ter­na­tio­na­le Vor­schrif­ten, kon­kret ge­gen Art. 11 EM­RK und die IAO-Übe­r­ein­kom­men Nr. 87 und 98.
96 9. Die Bun­des­ver­ei­ni­gung der Deut­schen Ar­beit­ge­ber­verbände (BDA) hält die er­ho­be­nen Ver­fas­sungs­be­schwer­den für un­be­gründet. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz sei mit der Ko­ali­ti­ons­frei­heit, aber auch mit dem all­ge­mei­nen Gleich­heits­satz so­wie dem De­mo­kra­tie- und Rechts­staats­prin­zip ver­ein­bar.
97 Ob das Ta­rif­ein­heits­ge­setz ei­nen Ein­griff in die oder ei­ne Aus­ge­stal­tung der Ko­ali­ti­ons­frei­heit dar­stel­le, müsse nicht ent­schie­den wer­den, da in bei­den Fällen zu prüfen sei, ob sich die ge­setz­ge­be­ri­sche Maßnah­me bei An­er­ken­nung ei­nes wei­ten ge­setz­ge­be­ri­schen Ge­stal­tungs­spiel­raums als verhält­nismäßig er­wei­se. Die Ko­ali­ti­ons­frei­heit als vor­be­halt­los gewähr­leis­te­tes Grund­recht könne je­den­falls be­schränkt wer­den, da Funk­ti­ons­eli­ten sich zum Nach­teil an­de­rer Beschäftig­ten­grup­pen ent­so­li­da­ri­siert und auf­grund ih­rer Schlüssel­funk­ti­on höhe­re Gehälter er­zielt hätten. Die Be­frie­dungs­funk­ti­on von Ta­rif­verträgen sei be­ein­träch­tigt, weil sich Ta­rif­kon­flik­te mit zu­neh­men­der An­zahl der in ei­nem Be­trieb be­ste­hen­den Ge­werk­schaf­ten in­ten­si­viert hätten und der Be­triebs­frie­den durch Sta­tus­kon­flik­te nach­hal­tig gestört wer­de. Ta­rifp­lu­ra­lität ste­he zu­dem ei­ner wi­der­spruchs­frei­en Ord­nung der Ar­beits­be­zie­hun­gen ent­ge­gen. Auch wenn dies in der Be­gründung des Ge­setz­ent­wurfs nicht aus­drück­lich fest­ge­hal­ten sei, könne das Ge­setz da­durch ge­recht­fer­tigt wer­den, dass es durch Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten, die sich ins­be­son­de­re in der Da­seins­vor­sor­ge eta­bliert hätten, zur Be­ein­träch­ti­gung von Grund­rech­ten Drit­ter und ge­mein­wohl­be­ding­ter Ver­fas­sungsgüter ge­kom­men sei.
98 Die Be­ein­träch­ti­gung der Ko­ali­ti­ons­frei­heit durch das Ge­setz er­wei­se sich als verhält­nismäßig. Der Ge­setz­ge­ber ha­be bei der Re­gu­lie­rung der Fol­gen des Ko­ali­ti­ons­wett­be­werbs ei­nen großen rechts­po­li­ti­schen Ge­stal­tungs­spiel­raum. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz sei zur Er­rei­chung sei­ner le­gi­ti­men Zie­le ins­be­son­de­re nicht un­ge­eig­net, weil es in­fol­ge des in­ter­ge­werk­schaft­li­chen Wett­be­werbs um Mit­glie­der zu Un­frie­den in den Be­trie­ben kom­men könne. Die Ko­ali­ti­ons­frei­heit schütze auch die Kon­kur­renz un­ter den Ge­werk­schaf­ten. Die Fol­gen des Ko­ali­ti­ons­wett­be­werbs reg­le das Ge­setz im Sin­ne ei­ner Ver­mei­dung von Ta­rif­kol­li­sio­nen. Eben­so we­nig ste­he der Eig­nung des Ge­set­zes die vom Ge­setz­ge­ber gewähl­te An­knüpfung an den Be­trieb ent­ge­gen. Auch das ar­beits­ge­richt­li­che Be­schluss­ver­fah­ren nach § 99 ArbGG wer­fe kei­ne Pro­ble­me auf. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz sei er­for­der­lich, da sich al­ter­na­ti­ve Vor­schläge nicht als mil­de­re, aber ge­nau­so ef­fek­ti­ve Mit­tel er­wie­sen. Mit Blick auf die in die Abwägung ein­zu­stel­len­den Grund­rech­te der Ar­beit­ge­ber so­wie auf die Grund­rech­te Drit­ter und auf wei­te­re ver­fas­sungs­recht­li­che Po­si­tio­nen wer­de die Ko­ali­ti­ons­frei­heit nicht un­verhält­nismäßig ein­ge­schränkt. Die Ta­rif­ein­heit re­gu­lie­re den Wett­be­werb un­ter den Ge­werk­schaf­ten, oh­ne ihn aus­zu­sch­ließen. Die in § 4a Abs. 5 TVG nor­mier­ten In­for­ma­ti­ons- und Aus­tausch­pflich­ten si­cher­ten dies ver­fah­rens­recht­lich ab. Das Ge­setz zwin­ge we­der zu So­li­da­rität noch gefähr­de es die Exis­tenz von Ge­werk­schaf­ten. Das be­triebs­be­zo­ge­ne Mehr­heits­prin­zip sei an­ge­mes­sen, um Ta­rif­kol­li­sio­nen auf­zulösen.
99 10. Die Ver­ei­ni­gung der kom­mu­na­len Ar­beit­ge­ber­verbände (VKA) hält die Ver­fas­sungs­be­schwer­den mit Blick auf den Grund­satz der Sub­si­dia­rität be­reits für un­zulässig, man­gels Grund­rechts­ver­let­zung aber je­den­falls für un­be­gründet. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz sei als Aus­ge­stal­tung der Ta­rif­au­to­no­mie mit Art. 9 Abs. 3 GG ver­ein­bar. Die Pro­ble­me im Be­reich der Ver­ei­ni­gung kom­mu­na­ler Ar­beit­ge­ber­verbände, die sich aus dem un­ab­ge­stimm­ten Ne­ben­ein­an­der ver­schie­de­ner Ge­werk­schaf­ten ergäben, be­leg­ten, dass die Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie be­ein­träch­tigt sei. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz grei­fe nur in ge­rin­gem Um­fang in die ge­werk­schaft­li­che Betäti­gungs­frei­heit ein und las­se Ar­beit­ge­bern wie Ge­werk­schaf­ten großen Frei­raum, ih­re Be­zie­hun­gen zu ge­stal­ten. Ge­werk­schaf­ten zur Ko­ope­ra­ti­on zu mo­ti­vie­ren, sei ei­ne le­gi­ti­me und not­wen­di­ge For­de­rung.
100 11. Aus Sicht des Bun­des­ver­ban­des Deut­scher Pri­vat­kli­ni­ken (BDPK) hätten die ge­trenn­ten Ta­rif­ver­hand­lun­gen von ver.di und Mar­bur­ger Bund deut­li­che Ge­halts­stei­ge­run­gen beim ärzt­li­chen Per­so­nal und da­mit höhe­re Per­so­nal­kos­ten zur Fol­ge ge­habt, die teil­wei­se im Vergütungs­sys­tem nicht re­fi­nan­zier­bar ge­we­sen sei­en. Un­abhängig da­von führe die par­al­le­le Gel­tung von Ta­rif­verträgen meh­re­rer Ge­werk­schaf­ten in den Kli­ni­ken zu kei­nen nen­nens­wer­ten prak­ti­schen Schwie­rig­kei­ten.
101 12. Der Ar­beit­ge­ber- und Wirt­schafts­ver­band der Mo­bi­litäts- und Ver­kehrs­dienst­leis­ter (Agv Mo­Ve) äußert Be­den­ken ge­gen die Zulässig­keit der Ver­fas­sungs­be­schwer­den, hält sie der Sa­che nach aber je­den­falls für un­be­gründet. Tatsächli­ches Ziel des Ta­rif­ein­heits­ge­set­zes sei, den Ar­beit­ge­ber im Be­trieb vor den nach­tei­li­gen Fol­gen der An­wen­dung un­ter­schied­li­cher Rechts­nor­men für die ein­heit­li­che Be­leg­schaft zu ver­scho­nen. § 4a TVG ge­stal­te das Ta­rif­recht aus; die Kol­li­si­ons­norm ver­bie­te we­der recht­lich noch fak­tisch den Ab­schluss von Ta­rif­verträgen und den dar­auf ge­rich­te­ten Ar­beits­kampf. Es sei kein Ge­werk­schafts­ver­bot; der Ge­setz­ge­ber ge­he we­der ge­zielt noch mit­tel­bar ge­gen Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten vor. Ver­meint­lich klei­ne­re Ge­werk­schaf­ten hätten wei­ter­hin die Möglich­keit, die Mehr­heits­po­si­ti­on ein­zu­neh­men. Zu­dem könn­ten sie an­der­wei­tig ta­ri­fie­ren, et­wa auf der Grund­la­ge von Öff­nungs­klau­seln oder in Form von Ta­rif­verträgen mit schuld­recht­li­cher Wir­kung und mit ver­schie­de­nen Gel­tungs­be­rei­chen.
102 13. Der Ar­beit­ge­ber­ver­band Deut­scher Ei­sen­bah­nen (AGV­DE) schließt sich der BDA an. Er weist ergänzend dar­auf hin, dass sei­ne Mit­glieds­un­ter­neh­men aus dem Be­reich der Ei­sen­bahn durch die Ta­rifp­lu­ra­lität mit dem Ef­fekt ständi­ger und lang­wie­ri­ger Ta­rif­ver­hand­lun­gen stark be­trof­fen sei­en. Man be­fin­de sich in ei­nem Teu­fels­kreis des ge­gen­sei­ti­gen Über­bie­tungs­wett­be­werbs der kon­kur­rie­ren­den Ge­werk­schaf­ten, dem die Ar­beit­ge­ber nichts ent­ge­gen­zu­set­zen hätten.
103

14. Das Wirt­schafts- und So­zi­al­wis­sen­schaft­li­che In­sti­tut (WSI) legt Zah­len­ma­te­ri­al zu den Ta­rif­aus­ein­an­der­set­zun­gen und ih­ren Er­geb­nis­sen seit 2010 vor. Da­nach sei die An­zahl der ta­rif- und ar­beits­kampffähi­gen Be­rufs- und Spar­ten­ge­werk­schaf­ten im Zeit­raum 2010 bis 2015 kon­stant ge­blie­ben. Zu kurz­zei­ti­gen Ar­beits­nie­der­le­gun­gen un­ter Be­tei­li­gung der Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten sei es in 55 von 1370 Ta­rif­kon­flik­ten ge­kom­men. Im We­sent­li­chen sei­en kei­ne Ta­rif­kol­li­sio­nen be­kannt ge­wor­den und die lang­wie­ri­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen im Be­reich der Bahn durch ge­trenn­te Ta­rif­verträge bei­ge­legt wor­den.

VII.

104

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat am 24. und 25. Ja­nu­ar 2017 ei­ne münd­li­che Ver­hand­lung durch­geführt. Geäußert ha­ben sich die Be­schwer­deführen­den und die Bun­des­re­gie­rung so­wie als sach­kun­di­ge Drit­te die BDA, der DGB, der Bund der Rich­te­rin­nen und Rich­ter der Ar­beits­ge­richts­bar­keit (BRA) so­wie der Vor­sit­zen­de Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt im Ru­he­stand Prof. Klaus Be­p­ler.

B.

105

Die Ver­fas­sungs­be­schwer­den sind über­wie­gend zulässig.

I.

106

Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz trat nach des­sen Art. 3 am Tag nach der Verkündung und da­mit am 10. Ju­li 2015 in Kraft. Al­le Ver­fas­sungs­be­schwer­den gin­gen in­ner­halb der Be­schwer­de­frist von ei­nem Jahr (§ 93 Abs. 3 BVerfGG) und da­mit frist­ge­recht ein.

II.

107

Be­schwer­de­ge­gen­stand der Ver­fas­sungs­be­schwer­den sind die Kol­li­si­ons­norm des § 4a Abs. 2 TVG und die dar­auf be­zo­ge­nen Re­ge­lun­gen in § 4a Abs. 3 bis 5 TVG und die be­glei­ten­den Re­ge­lun­gen zum Be­schluss­ver­fah­ren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG als An­nex zur Kol­li­si­ons­norm.

III.

108 Die Be­schwer­deführen­den sind be­schwer­de­be­fugt. Sie ma­chen sub­stan­ti­iert gel­tend, durch die an­ge­grif­fe­nen Vor­schrif­ten selbst, ge­genwärtig und un­mit­tel­bar in ih­rem Grund­recht aus Art. 9 Abs. 3 GG ver­letzt zu sein.
109 1. Die Be­schwer­deführen­den sind durch die an­ge­grif­fe­ne Kol­li­si­ons­norm des § 4a Abs. 2 TVG und die da­mit ver­bun­de­nen Vor­wir­kun­gen un­mit­tel­bar be­trof­fen.
110 Be­schwer­deführen­de sind nur dann von ei­ner ge­setz­li­chen Re­ge­lung un­mit­tel­bar be­trof­fen, wenn die­se, oh­ne dass es ei­nes wei­te­ren Voll­zugs­ak­tes bedürf­te, in ih­ren Rechts­kreis ein­greift. Er­for­dert das Ge­setz zu sei­ner Durchführung rechts­not­wen­dig oder auch nur nach der tatsächli­chen staat­li­chen Pra­xis ei­nen be­son­de­ren, vom Wil­len der voll­zie­hen­den Stel­le be­ein­fluss­ten Voll­zugs­akt, müssen Be­schwer­deführen­de grundsätz­lich zunächst die­sen Akt an­grei­fen und den ge­gen ihn eröff­ne­ten Rechts­weg erschöpfen, be­vor sie die Ver­fas­sungs­be­schwer­de er­he­ben (vgl. BVerfGE 1, 97 <101 ff.>; 109, 279 <306>; 133, 277 <312 Rn. 84>; stRspr).
111 Das ist hier nicht der Fall. Zwar ist die von den Be­schwer­deführen­den an­ge­grif­fe­ne Kol­li­si­ons­re­gel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG bis­lang nicht zur An­wen­dung ge­kom­men. Die Re­ge­lung ist je­doch da­zu ge­eig­net und auch be­wusst dar­auf an­ge­legt, ih­re Wir­kun­gen schon im Vor­feld zu ent­fal­ten; sie be­wirkt da­mit be­reits un­mit­tel­bar spürba­re Rechts­fol­gen (vgl. BVerfGE 53, 366 <389>). Da­zu be­darf es kei­nes wei­te­ren Voll­zugs­ak­tes (vgl. BVerfGE 126, 112 <133>). Da die Re­ge­lun­gen auf ei­ne Ver­schie­bung der Hand­lungs­be­din­gun­gen der Ge­werk­schaf­ten für das Aus­han­deln an­wend­ba­rer Ta­rif­verträge an­ge­legt sind, folgt die un­mit­tel­ba­re Be­trof­fen­heit aus der sich im Verhält­nis der Be­tei­lig­ten un­mit­tel­bar aus­wir­ken­den Not­wen­dig­keit von Dis­po­si­tio­nen zur Ein­stel­lung auf die­se neue Rechts­la­ge (vgl. BVerfGE 88, 384 <399 f.>; 91, 294 <305>; 97, 157 <164>; stRspr). Die An­wen­dung des § 4a Abs. 2 TVG ist da­bei je­den­falls dann zwin­gend vor­ge­schrie­ben, wenn sich die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en nicht an­der­wei­tig ei­ni­gen, und in­so­weit als Hand­lungs­rah­men in ih­ren Aus­wir­kun­gen aus Sicht der Be­schwer­deführen­den ge­wiss (vgl. BVerfGE 50, 290 <321>). Sie führt da­zu, dass von den be­schwer­deführen­den Ge­werk­schaf­ten selbst aus­ge­han­del­te ta­rif­ver­trag­li­che Nor­men im Kol­li­si­ons­fall mit ei­nem Ta­rif­ver­trag ei­ner im Be­trieb mit­glie­derstärke­ren Ge­werk­schaft ver­drängt wer­den und ein Ge­werk­schafts­mit­glied da­mit ta­rif­los wer­den kann. Hier­auf müssen sich die Be­schwer­deführen­den be­reits jetzt ein­stel­len.
112 2. Die Be­schwer­deführen­den sind auch selbst be­trof­fen. Ih­re Be­schwer­de­be­fug­nis setzt vor­aus, dass sie selbst in ei­ge­nen Grund­rech­ten ver­letzt sein können. Er­for­der­lich ist dafür nicht, dass die Norm for­mell an sie adres­siert ist (vgl. BVerfGE 50, 290 <320 f.>). Doch muss die Norm ih­re Rechts­po­si­tio­nen verändern (vgl. BVerfGE 77, 308 <326>) und sie nicht nur fak­tisch im Sin­ne ei­ner Re­flex­wir­kung berühren, al­so ei­ne hin­rei­chend en­ge Be­zie­hung zwi­schen den Grund­rechts­po­si­tio­nen der Be­schwer­deführen­den und der Norm be­ste­hen (vgl. BVerfGE 108, 370 <384>; 123, 186 <227>). Das ist hier der Fall.
113 Der dbb ist als Zu­sam­men­schluss von Ge­werk­schaf­ten im Sin­ne des § 2 Abs. 2 TVG in sei­nen Rech­ten aus Art. 9 Abs. 3 GG selbst be­trof­fen, denn auch ei­ne Spit­zen­or­ga­ni­sa­ti­on und ein Dach­ver­band können sich grundsätz­lich auf die Ko­ali­ti­ons­frei­heit be­ru­fen (vgl. BAG, Ur­teil vom 11. De­zem­ber 2001 - 3 AZR 512/00 -, ju­ris, Rn. 63; Be­schluss vom 14. De­zem­ber 2010 - 1 ABR 19/10 -, ju­ris, ins­bes. Rn. 88 ff.). Zwar sind Spit­zen­or­ga­ni­sa­tio­nen we­der nach § 2 Abs. 2 noch nach § 2 Abs. 3 TVG ori­ginär ta­riffähig; so­weit zu ih­ren sat­zungs­gemäßen Auf­ga­ben - wie hier nach § 10 Abs. 1 der Sat­zung des dbb - der Ab­schluss von Ta­rif­verträgen gehört, können sie je­doch im ei­ge­nen Na­men Ta­rif­verträge ab­sch­ließen. Das tut der dbb auch.
114 Die Nah­ver­kehrs­ge­werk­schaft ist gleich­falls von den an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen selbst be­trof­fen. Das gilt selbst dann, wenn ih­re Ta­riffähig­keit frag­lich wäre, denn das an­ge­grif­fe­ne Ge­setz kann sich auch auf ih­re Chan­cen, die Ta­riffähig­keit zu er­rei­chen, so­wie auf ih­re bis­lang be­ste­hen­den Ko­ope­ra­ti­ons­be­zie­hun­gen, ih­re ta­rif­po­li­ti­sche Aus­rich­tung und Stra­te­gie aus­wir­ken. Wer aus struk­tu­rel­len Gründen in den Be­trie­ben nur Min­der­hei­ten or­ga­ni­siert, wird we­ni­ger at­trak­tiv, denn es fehlt der An­reiz zum Ge­werk­schafts­bei­tritt, wenn auf­grund der Ver­drängung nach § 4a TVG kaum ei­ge­ne Ta­rif­zie­le ver­wirk­licht wer­den können.
115 Das be­schwer­deführen­de Ge­werk­schafts­mit­glied ist selbst von den an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen be­trof­fen und da­her be­schwer­de­be­fugt. Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz rich­tet sich zwar nicht di­rekt an die ein­zel­nen Ge­werk­schafts­mit­glie­der. Doch be­steht nicht nur ei­ne re­flex­haf­te Be­zie­hung der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen zu ih­rer Grund­rechts­po­si­ti­on. Aus der Nicht­an­wen­dung ei­nes ab­ge­schlos­se­nen Ta­rif­ver­trags nach § 4a Abs. 2 TVG im Kol­li­si­ons­fall folgt, dass sie ih­re ta­rif­li­chen Rech­te aus dem ver­dräng­ten Ta­rif­ver­trag ver­lie­ren. Sie müssen sich auf die­ses Ri­si­ko zu­dem be­reits bei der Ent­schei­dung ein­stel­len, ob und wie sie in wel­cher Ge­werk­schaft mit­wir­ken. Art. 9 Abs. 3 GG ga­ran­tiert in­so­weit das Recht der Mit­glie­der ei­ner Ko­ali­ti­on, an de­ren Ar­beit teil­zu­neh­men; sie können da­her Be­ein­träch­ti­gun­gen ih­rer Tätig­keit zu­gleich als Ver­s­toß ge­gen das ei­ge­ne Grund­recht an­fech­ten (vgl. BVerfGE 38, 281 <303> m.w.N.; stRspr).
116 Dass die an­de­ren Be­schwer­deführen­den selbst be­trof­fen sind, ist of­fen­sicht­lich, denn es han­delt sich um Ta­rif­ver­trags­par­tei­en.
117

3. Die Be­schwer­deführen­den sind durch die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen ge­genwärtig be­trof­fen. Dafür genügt es, dass die an­ge­grif­fe­ne Vor­schrift ak­tu­ell und nicht nur po­ten­ti­ell wirkt (vgl. BVerfGE 1, 97 <102>), und klar ab­zu­se­hen ist, dass und wie sich die Re­ge­lung aus­wirkt (vgl. BVerfGE 97, 157 <164>; 102, 197 <207>; 114, 258 <277>; 119, 181 <212>). Das ist hier der Fall. Ta­rif­verträge, die ge­genwärtig aus­ge­han­delt wer­den, un­ter­lie­gen den an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen und wer­den ge­ge­be­nen­falls ver­drängt. Die Be­schwer­deführen­den ha­ben zu­dem kon­kre­te Ein­z­elfälle be­nannt, in de­nen Ar­beit­ge­ber un­ter Hin­weis auf das zu er­war­ten­de oder ver­ab­schie­de­te Ta­rif­ein­heits­ge­setz Ta­rif­ver­hand­lun­gen ab­ge­lehnt ha­ben. Auch ste­hen Kündi­gungs­ter­mi­ne lau­fen­der Ta­rif­verträge an, die je­weils da­zu zwin­gen, un­ter Berück­sich­ti­gung der ge­setz­lich an­ge­ord­ne­ten Ta­rif­ein­heit nach der be­trieb­li­chen Mehr­heit neu zu dis­po­nie­ren. Denn bei der Fest­le­gung der Ta­rif­for­de­run­gen muss ei­ne even­tu­el­le Ta­rif­kol­li­si­on berück­sich­tigt wer­den. Der Mar­bur­ger Bund hat dar­ge­legt, dass er auf­grund des an­ge­grif­fe­nen Ge­set­zes kon­kre­te Verände­run­gen in der stra­te­gi­schen Aus­rich­tung im Ver­bands­zweck prüfen muss. Die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen müssen al­so in der ta­rif­po­li­ti­schen Aus­rich­tung und Ta­rif­po­li­tik ge­genwärtig be­reits viel­fach berück­sich­tigt wer­den.

IV.

118 Die Ver­fas­sungs­be­schwer­den wah­ren den Grund­satz der Sub­si­dia­rität (vgl. BVerfGE 123, 148 <172>; 134, 242 <285 Rn. 150>; stRspr).
119 1. Das Ge­setz wirft zwar zahl­rei­che fach­recht­li­che Fra­gen auf, die, da ein Kol­li­si­ons­fall bis­her ver­mie­den wur­de, fach­ge­richt­lich noch nicht geklärt sind. Hin­sicht­lich der von den Re­ge­lun­gen un­mit­tel­bar aus­ge­hen­den Wir­kun­gen im Vor­feld ste­hen den be­schwer­deführen­den Ge­werk­schaf­ten und dem Ge­werk­schafts­ver­band fach­ge­richt­li­che Klärungsmöglich­kei­ten je­doch nicht zu­mut­bar zur Verfügung. Nimmt ei­ne an­ge­grif­fe­ne Re­ge­lung - wie hier - ge­zielt im Vor­feld ei­ner Ta­rif­aus­ein­an­der­set­zung auf das Ver­hal­ten der Be­schwer­deführen­den Ein­fluss, können sie nicht vor Er­he­bung der Ver­fas­sungs­be­schwer­de auf fach­ge­richt­li­chen Rechts­schutz ver­wie­sen wer­den (vgl. BVerfGE 92, 365 <392 f.>).
120 Das ar­beits­ge­richt­li­che Be­schluss­ver­fah­ren zum Kol­li­si­ons­fall nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG steht erst of­fen, wenn kol­li­die­ren­de Ta­rif­verträge ab­ge­schlos­sen wor­den sind. Doch wur­de nach­voll­zieh­bar dar­ge­legt, dass auf­grund der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lung be­reits Schwie­rig­kei­ten ent­stan­den sind, über­haupt Ta­rif­ver­hand­lun­gen auf­zu­neh­men und Ta­rif­verträge ab­zu­sch­ließen.
121 Wei­te­re zu­mut­ba­re Rechts­schutzmöglich­kei­ten kom­men nicht in Be­tracht. Ei­ne Leis­tungs­kla­ge auf Durchführung des Ta­rif­ver­trags (grds. BAG, Ur­teil vom 29. April 1992 - 4 AZR 469/91 -, ju­ris, Rn. 20 ff.) hängt eben­falls da­von ab, dass ein Ta­rif­ver­trag ge­schlos­sen wur­de. Des­glei­chen können die Be­schwer­deführen­den nicht auf ei­ne Kla­ge auf Fest­stel­lung der An­wen­dung ei­nes Ta­rif­ver­trags im Be­trieb (vgl. BAG, Ur­teil vom 21. März 1978 - 1 AZR 11/76 -, ju­ris, Rn. 53; Ur­teil vom 19. Ju­ni 1984 - 1 AZR 361/82 -, ju­ris, Rn. 41) oder auf Auf­nah­me von Ta­rif­ver­hand­lun­gen (vgl. BAG, Ur­teil vom 25. Sep­tem­ber 2013 - 4 AZR 173/12 -, ju­ris, Rn. 23; stRspr) oder auf die Ver­bands­kla­ge nach § 9 TVG in Ver­bin­dung mit § 2 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG (vgl. BAG, Ur­teil vom 4. Ju­li 2007 - 4 AZR 491/06 -, ju­ris, Rn. 18) ver­wie­sen wer­den. Da das Ge­setz den Ar­beits­kampf be­wusst nicht re­gelt, kann ei­ne Klärung auch in dies­bezügli­chen Ver­fah­ren nicht er­reicht wer­den.
122

2. Dem be­schwer­deführen­den Ge­werk­schafts­mit­glied steht vorgängi­ger fach­ge­richt­li­cher Rechts­schutz gleich­falls nicht zu­mut­bar zur Verfügung. Es konn­te hier nicht ver­langt wer­den, vor Er­he­bung der Ver­fas­sungs­be­schwer­de auf mögli­cher­wei­se ver­dräng­te Ta­rif­leis­tun­gen zu kla­gen. Ei­ne Kla­ge auf Fest­stel­lung, dass ein künf­ti­ger Ta­rif­ver­trag in ei­nem Ar­beits­verhält­nis zur An­wen­dung kommt (vgl. BAG, Ur­teil vom 26. Au­gust 2015 - 4 AZR 719/13 -, ju­ris, Rn. 10; stRspr), wäre nicht zulässig, weil sie sich auf nicht ab­seh­ba­re künf­ti­ge Ansprüche be­zie­hen würde (vgl. BAG, Ur­teil vom 23. März 2011 - 4 AZR 268/09 -, ju­ris, Rn. 24 f.).

V.

123

Un­zulässig sind die Ver­fas­sungs­be­schwer­den, so­weit sie sich aus­drück­lich ge­gen die be­weis­recht­li­che Re­ge­lung des § 58 Abs. 3 ArbGG wen­den. Es fehlt in­so­weit an der Be­schwer­de­be­fug­nis. Die Re­ge­lung lässt für sich ge­nom­men kei­ne Be­ein­träch­ti­gung von Grund­rech­ten er­ken­nen. Sie zeigt le­dig­lich ei­ne Möglich­keit auf, den Nach­weis über die be­trieb­li­chen Mehr­heits­verhält­nis­se zu führen, ist al­so nur ei­ne Op­ti­on und schließt an­de­re We­ge der Be­weisführung nicht aus.

C.

124

Die Ver­fas­sungs­be­schwer­den sind über­wie­gend un­be­gründet. Die Re­ge­lun­gen des Ta­rif­ein­heits­ge­set­zes sind in der ge­bo­te­nen Aus­le­gung und Hand­ha­bung weit­ge­hend mit Art. 9 Abs. 3 GG ver­ein­bar.

I.

125

Ge­gen die for­mel­le Ver­fas­sungs­gemäßheit des Ta­rif­ein­heits­ge­set­zes be­ste­hen kei­ne Be­den­ken.

126 1. Die kon­kur­rie­ren­de Ge­setz­ge­bungs­kom­pe­tenz des Bun­des er­gibt sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, der ne­ben dem Recht der In­di­vi­dual­ar­beits­verträge auch das Ta­rif­ver­trags­recht um­fasst, oh­ne dem Vor­be­halt der Er­for­der­lich­keit des Art. 72 Abs. 2 GG zu un­ter­lie­gen. Die Kom­pe­tenz des Bun­des für die flan­kie­ren­den Re­ge­lun­gen des ar­beits­ge­richt­li­chen Ver­fah­rens er­gibt sich je­den­falls aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.
127

2. So­weit die Ver­fas­sungs­be­schwer­den vor­brin­gen, der Ge­setz­ge­ber ha­be die Fak­ten nicht hin­rei­chend er­mit­telt, auf die er sei­ne Ent­schei­dun­gen stütze, ver­mag dies ei­nen Ver­fas­sungs­ver­s­toß nicht zu be­gründen. Ei­ne selbständi­ge, von den An­for­de­run­gen an die ma­te­ri­el­le Ver­fas­sungsmäßig­keit des Ge­set­zes un­abhängi­ge Sach­aufklärungs­pflicht folgt aus dem Grund­ge­setz nicht. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat bis­her nur in be­stimm­ten Son­der­kon­stel­la­tio­nen ei­ne selbständi­ge Sach­aufklärungs­pflicht des Ge­setz­ge­bers an­ge­nom­men (vgl. et­wa BVerfGE 95, 1 <23 f.> im Fal­le ei­ner Fach­pla­nung durch Ge­setz; BVerfGE 86, 90 <108 f.> bei Ge­mein­de­neu­glie­de­run­gen oder BVerfGE 139, 64 <127 Rn. 130> in Fra­gen der Rich­ter­be­sol­dung). An­sons­ten gilt das Prin­zip, dass die Ge­stal­tung des Ge­setz­ge­bungs­ver­fah­rens im Rah­men der durch die Ver­fas­sung vor­ge­ge­be­nen Re­geln Sa­che der ge­setz­ge­ben­den Or­ga­ne ist. Das par­la­men­ta­ri­sche Ver­fah­ren ermöglicht zu­dem mit der ihm ei­ge­nen Öffent­lich­keits­funk­ti­on und den folg­lich grundsätz­lich öffent­li­chen Be­ra­tun­gen ge­ra­de durch sei­ne Trans­pa­renz, dass Ent­schei­dun­gen auch in der brei­te­ren Öffent­lich­keit dis­ku­tiert und da­mit die Vor­aus­set­zun­gen für ei­ne Kon­trol­le auch der Ge­setz­ge­bung durch die Bürge­rin­nen und Bürger ge­schaf­fen wer­den. Schon des­halb geht Ent­schei­dun­gen von er­heb­li­cher Trag­wei­te grundsätz­lich ein Ver­fah­ren vor­aus, wel­ches der Öffent­lich­keit auch durch die Be­richt­er­stat­tung sei­tens der Me­di­en hin­rei­chend Ge­le­gen­heit bie­tet, Auf­fas­sun­gen aus­zu­bil­den und zu ver­tre­ten, und das die Volks­ver­tre­tung da­zu anhält, Not­wen­dig­keit und Um­fang der zu be­sch­ließen­den Maßnah­men in öffent­li­cher De­bat­te zu klären (BVerfGE 139, 148 <176 f. Rn. 55> m.w.N.). Das Grund­ge­setz ver­traut so dar­auf, dass auch oh­ne Sta­tu­ie­rung ei­ner ei­genständi­gen Sach­aufklärungs­pflicht die Trans­pa­renz und der öffent­li­che Dis­kurs im par­la­men­ta­ri­schen Ver­fah­ren hin­rei­chen­de Gewähr für ei­ne je­weils aus­rei­chen­de Tat­sa­chen­grund­la­ge der ge­setz­ge­be­ri­schen Ent­schei­dung bie­ten. Denn das Feh­len ei­ner selbständi­gen Sach­aufklärungs­pflicht im Ge­setz­ge­bungs­ver­fah­ren be­freit den Ge­setz­ge­ber nicht von der Not­wen­dig­keit, sei­ne Ent­schei­dun­gen in Ein­klang mit den ver­fas­sungs­recht­li­chen An­for­de­run­gen, ins­be­son­de­re den Grund­rech­ten, zu tref­fen, und sie in­so­weit - et­wa in Blick auf die Verhält­nismäßig­keits­an­for­de­run­gen - auf hin­rei­chend fun­dier­te Kennt­nis­se von Tat­sa­chen und Wirk­zu­sam­menhängen zu stützen (BVerfG, Ur­teil des Ers­ten Se­nats vom 6. De­zem­ber 2016 - 1 BvR 2821/11 -, www.bverfg.de, Rn. 273 ff. m.w.N.).

II.

128

Die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen genügen den An­for­de­run­gen der Nor­men­klar­heit und Be­stimmt­heit. Auch wenn sie kon­kre­ti­sie­rungs- und klärungs­bedürf­ti­ge Be­grif­fe ent­hal­ten, sind sie ei­ner fach­ge­richt­li­chen Klärung oh­ne Wei­te­res zugäng­lich.

III.

129 Die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen sind in der ge­bo­te­nen Aus­le­gung und Hand­ha­bung weit­ge­hend mit dem Grund­recht der Ge­werk­schaf­ten und ih­rer Mit­glie­der aus Art. 9 Abs. 3 GG ver­ein­bar. Durch die Re­ge­lun­gen wird der Schutz­ge­halt des Art. 9 Abs. 3 GG (1) be­ein­träch­tigt (2). Dies ist weit­ge­hend ge­recht­fer­tigt; so­weit sich die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen als un­zu­mut­bar er­wei­sen, trifft den Ge­setz­ge­ber ei­ne Pflicht zur Nach­bes­se­rung (3).
130 1. Das Grund­recht aus Art. 9 Abs. 3 GG ist in ers­ter Li­nie ein Frei­heits­recht. Es schützt die in­di­vi­du­el­le Frei­heit, Ver­ei­ni­gun­gen zur Förde­rung der Ar­beits- und Wirt­schafts­be­din­gun­gen zu bil­den und die­sen Zweck ge­mein­sam zu ver­fol­gen (vgl. BVerfGE 92, 352 <393>), ih­nen fern­zu­blei­ben oder sie zu ver­las­sen (vgl. BVerfGE 116, 202 <218>). Darüber sol­len die Be­tei­lig­ten grundsätz­lich frei von staat­li­cher Ein­fluss­nah­me, selbst und ei­gen­ver­ant­wort­lich be­stim­men können. Geschützt ist da­mit auch das Recht der Ver­ei­ni­gun­gen selbst, durch spe­zi­fisch ko­ali­ti­onsmäßige Betäti­gung die in Art. 9 Abs. 3 GG ge­nann­ten Zwe­cke zu ver­fol­gen, wo­bei die Wahl der Mit­tel, die die Ko­ali­tio­nen zur Er­rei­chung die­ses Zwecks für ge­eig­net hal­ten, mit Art. 9 Abs. 3 GG grundsätz­lich ih­nen selbst über­las­sen ist (vgl. BVerfGE 92, 365 <393 f.>; 100, 271 <282>; 116, 202 <219>; stRspr).
131 a) Das Grund­recht schützt al­le ko­ali­ti­ons­spe­zi­fi­schen Ver­hal­tens­wei­sen. Es um­fasst ins­be­son­de­re die Ta­rif­au­to­no­mie, die im Zen­trum der den Ko­ali­tio­nen ein­geräum­ten Möglich­kei­ten zur Ver­fol­gung ih­rer Zwe­cke steht. Das Aus­han­deln von Ta­rif­verträgen ist ein we­sent­li­cher Zweck der Ko­ali­tio­nen (vgl. BVerfGE 116, 202 <219> m.w.N.). Geschützt ist ins­be­son­de­re der Ab­schluss von Ta­rif­verträgen (vgl. BVerfGE 92, 365 <395>; 94, 268 <283>; 103, 293 <304 ff.>). Dies schließt den Be­stand und die An­wen­dung ab­ge­schlos­se­ner Ta­rif­verträge ein. Vom Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG er­fasst sind auch Ar­beits­kampf­maßnah­men, die auf den Ab­schluss von Ta­rif­verträgen ge­rich­tet sind, je­den­falls so­weit sie er­for­der­lich sind, um ei­ne funk­tio­nie­ren­de Ta­rif­au­to­no­mie si­cher­zu­stel­len (vgl. BVerfGE 84, 212 <224 f.>; 88, 103 <114>; 92, 365 <393 f.>). Das Grund­recht ver­mit­telt je­doch kein Recht auf ab­so­lu­te ta­rif­po­li­ti­sche Ver­wert­bar­keit von Schlüssel­po­si­tio­nen und Blo­cka­de­macht zum ei­ge­nen Nut­zen.
132 b) Art. 9 Abs. 3 GG schützt die Ko­ali­tio­nen auch in ih­rem Be­stand (vgl. BVerfGE 93, 352 <357>; 116, 202 <217>; stRspr). Zu den geschütz­ten Tätig­kei­ten gehört die Mit­glie­der­wer­bung durch die Ko­ali­tio­nen selbst. Dies schafft das Fun­da­ment für die Erfüllung ih­rer in Art. 9 Abs. 3 GG ge­nann­ten Auf­ga­ben. Ins­be­son­de­re durch die Wer­bung neu­er Mit­glie­der si­chern die Ko­ali­tio­nen ih­ren Fort­be­stand (vgl. BVerfGE 93, 352 <357 f.> m.w.N.). Ei­ne Be­stands­ga­ran­tie für ein­zel­ne Ko­ali­tio­nen ist da­mit nicht ver­bun­den. Al­ler­dings ga­ran­tiert Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG die Ko­ali­ti­ons­frei­heit aus­drück­lich für je­der­mann und al­le Be­ru­fe. Da­her wären staat­li­che Maßnah­men mit Art. 9 Abs. 3 GG un­ver­ein­bar, die ge­ra­de dar­auf ziel­ten, be­stimm­te Ge­werk­schaf­ten aus dem Ta­rif­ge­sche­hen her­aus zu drängen oder be­stimm­ten Ge­werk­schaft­s­ty­pen, wie et­wa Be­rufs­ge­werk­schaf­ten, ge­ne­rell die Exis­tenz­grund­la­ge zu ent­zie­hen.
133 c) Geschützt ist die Ko­ali­ti­on auch in ih­rer Aus­rich­tung und Or­ga­ni­sa­ti­on; die Selbst­be­stim­mung über ih­re in­ne­re Ord­nung ist ein we­sent­li­cher Teil der Ko­ali­ti­ons­frei­heit (vgl. BVerfGE 92, 365 <403>; 93, 352 <357>; 100, 214 <223>). Das um­fasst die Ent­schei­dung über die Ab­gren­zung nach Bran­chen oder Fach­be­rei­chen (vgl. BVerfGE 92, 365 <408>) oder nach Be­rufs­grup­pen, denn es gilt auch hier das Prin­zip frei­er so­zia­ler Grup­pen­bil­dung (vgl. BVerfGE 100, 214 <223> m.w.N.). Die Vor­ga­be ei­nes be­stimm­ten Pro­fils wäre un­zulässig. Das Grund­ge­setz schützt viel­mehr die „Ko­ali­tio­nen in ih­rer Man­nig­fal­tig­keit“ (BVerfGE 18, 18 <32 f.>). Da­mit geht die Möglich­keit ein­her, dass es zum Wett­be­werb un­ter den Ko­ali­tio­nen kommt.
134 2. Die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen be­ein­träch­ti­gen das Grund­recht aus Art. 9 Abs. 3 GG.
135 a) Mit der An­ord­nung ei­ner Ver­drängung ei­nes Ta­rif­ver­trags im Kol­li­si­ons­fall nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG geht ei­ne Be­ein­träch­ti­gung mit der Wir­kung ei­nes Ein­griffs in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschütz­te Ko­ali­ti­ons­frei­heit ein­her, die den er­reich­ten Ta­rif­ab­schluss schützt. Die Kol­li­si­ons­re­gel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ver­drängt das Er­geb­nis ta­rif­au­to­no­mer Betäti­gung der Ge­werk­schaft und ver­hin­dert, dass die in die­sem Ta­rif­ver­trag ver­ein­bar­ten Rechts­nor­men auf de­ren Mit­glie­der An­wen­dung fin­den und sie auf die ver­ein­bar­ten Leis­tun­gen An­spruch ha­ben.
136 Die Ver­drängungs­re­ge­lung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG kann zu­dem grund­rechts­be­ein­träch­ti­gen­de Vor­wir­kun­gen ent­fal­ten, denn die dro­hen­de Ver­drängung des ei­ge­nen Ta­rif­ver­trags kann das Ver­hal­ten der Ge­werk­schaf­ten vor Ein­tritt ei­ner Ta­rif­kol­li­si­on be­ein­flus­sen. Das Ge­setz zielt ge­ra­de auf ei­nen sol­chen vor­wir­ken­den Ef­fekt. Zwar gibt das Ta­rif­ein­heits­ge­setz den Ge­werk­schaf­ten kein be­stimm­tes Ver­hal­ten vor. Es setzt mit der Ver­drängung ei­nes Ta­rif­ver­trags je­doch ei­nen An­reiz, Kol­li­sio­nen zu ver­mei­den. Das wirkt sich für die Ge­werk­schaf­ten im Vor­feld von Ta­rif­ab­schlüssen und da­mit auch auf Ent­schei­dun­gen zum Um­gang mit der Kündi­gung von Ta­rif­verträgen und zu neu­en Ver­hand­lun­gen nach de­ren Aus­lau­fen aus. Die Möglich­keit, dass der ei­ge­ne Ta­rif­ver­trag ver­drängt wer­den könn­te, und die ge­richt­li­che Fest­stel­lung, in ei­nem Be­trieb in der Min­der­heit zu sein, können ei­ne Ge­werk­schaft bei der Mit­glie­der­wer­bung und bei der Mo­bi­li­sie­rung der Mit­glie­der auch für Ar­beits­kampf­maßnah­men schwächen und Ent­schei­dun­gen zur ta­rif­po­li­ti­schen Aus­rich­tung und Stra­te­gie be­ein­flus­sen. Be­ein­flusst wird auch die grund­recht­lich geschütz­te Ent­schei­dung, ob und in­wie­weit mit an­de­ren Ge­werk­schaf­ten ko­ope­riert wird und wel­ches Pro­fil sich ei­ne Ge­werk­schaft gibt, in­dem sie et­wa be­stimmt, wel­che Be­rufs­grup­pen von der ei­ge­nen sat­zungsmäßigen Zuständig­keit er­fasst sein sol­len. Auch die­se Be­ein­flus­sung im Vor­feld be­ein­träch­tigt die freie Grund­rechts­wahr­neh­mung.
137 b) Hin­ge­gen hat der Ge­setz­ge­ber mit den an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen we­der un­mit­tel­bar wir­ken­de An­for­de­run­gen an die Gründung und den Be­stand von Ge­werk­schaf­ten noch an de­ren Pro­fil nor­miert. Das Grund­ge­setz stünde dem Ver­such, die Möglich­keit wirk­sa­mer Ta­rif­ab­schlüsse großen Mul­ti­bran­chen­ge­werk­schaf­ten vor­zu­be­hal­ten oder be­stimm­te Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten ge­zielt aus der Ta­rif­po­li­tik zu ver­drängen, schon we­gen des Wort­lauts des Art. 9 Abs. 3 GG von vorn­her­ein ent­ge­gen, denn ga­ran­tiert ist die Ko­ali­ti­ons­frei­heit aus­drück­lich al­len Be­rufs­grup­pen.
138 c) Auch das in Art. 9 Abs. 3 GG geschütz­te Recht, mit den Mit­teln des Ar­beits­kamp­fes auf den je­wei­li­gen Ge­gen­spie­ler Druck und Ge­gen­druck ausüben zu können, um zu ei­nem Ta­rif­ab­schluss zu ge­lan­gen, wird durch die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen nicht be­ein­träch­tigt. Ins­be­son­de­re wird we­der das Streik­recht ein­ge­schränkt noch das mit dem Streik ver­bun­de­ne Haf­tungs­ri­si­ko erhöht.
139 Zwar mag der Schutz von Un­ter­neh­men und Öffent­lich­keit vor zu­neh­men­dem Streik­ge­sche­hen ein Mo­tiv des Ge­setz­ge­bers ge­we­sen sein. Doch hat sich die­ser be­wusst ge­gen Vor­schläge ent­schie­den, Vor­ga­ben für den Ar­beits­kampf zur Ver­mei­dung un­trag­ba­rer Aus­wir­kun­gen auf Drit­te zu re­geln (oben A II 3 b und A III 4 Rn. 10 und 25). Zwar nimmt die Be­gründung zum Ge­setz­ent­wurf auf den Ar­beits­kampf Be­zug (BT­Drucks 18/4062, S. 12). Doch wirkt sich die Kol­li­si­ons­re­gel des § 4a TVG nicht auf die Zulässig­keit von Ar­beits­kampf­maßnah­men aus.
140 Auch das Streik­recht ei­ner Ge­werk­schaft, die in al­len Be­trie­ben nur die klei­ne­re Zahl von Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mern or­ga­ni­sie­ren kann, bleibt un­an­ge­tas­tet; das gilt selbst dann, wenn die Mehr­heits­verhält­nis­se be­reits be­kannt sind. Das er­gibt sich schon dar­aus, dass die Kol­li­si­ons­re­gel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG eben­so wie der An­spruch auf Nach­zeich­nung in § 4a Abs. 4 TVG den Ab­schluss ei­nes wei­te­ren Ta­rif­ver­trags vor­aus­setzt; die­ser muss al­so erkämpft wer­den können. Je­den­falls ist ein Ar­beits­kampf, der sich auf ei­nen Ta­rif­ver­trag rich­tet, der sich mit ei­nem an­de­ren Ta­rif­ver­trag über­schnei­den wird, nicht schon des­halb rechts­wid­rig und ins­be­son­de­re nicht un­verhält­nismäßig. Auch darf die vom Ge­setz­ge­ber be­wusst er­zeug­te Un­si­cher­heit über das Ri­si­ko ei­ner Ver­drängung im Vor­feld ei­nes Ta­rif­ab­schlus­ses we­der bei kla­ren noch bei un­si­che­ren Mehr­heits­verhält­nis­sen für sich ge­nom­men ein Haf­tungs­ri­si­ko ei­ner Ge­werk­schaft für Ar­beits­kampf­maßnah­men be­gründen; dies ha­ben die Ar­beits­ge­rich­te ge­ge­be­nen­falls in ver­fas­sungs­kon­for­mer An­wen­dung der Haf­tungs­re­ge­lun­gen si­cher­zu­stel­len.
141 3. Die Be­ein­träch­ti­gun­gen sind bei der ver­fas­sungs­recht­lich ge­bo­te­nen Aus­le­gung und Hand­ha­bung der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen weit­ge­hend zu recht­fer­ti­gen. Die Ko­ali­ti­ons­frei­heit ist wie je­des vor­be­halt­los gewähr­te Grund­recht zu­guns­ten an­de­rer Zie­le mit Ver­fas­sungs­rang be­schränk­bar. Ge­stal­tet der Ge­setz­ge­ber das Verhält­nis kon­kur­rie­ren­der Ge­werk­schaf­ten un­ter­ein­an­der aus, um struk­tu­rel­le Vor­aus­set­zun­gen dafür her­zu­stel­len oder zu si­chern, dass Ta­rif­ver­hand­lun­gen ei­nen fai­ren Aus­gleich ermögli­chen, kann dies ei­ne Be­schränkung der Ko­ali­ti­ons­frei­heit grundsätz­lich recht­fer­ti­gen (a). Die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen ver­fol­gen vor al­lem die­sen le­gi­ti­men Zweck und genügen auch an­sons­ten weit­ge­hend, aber nicht in je­der Hin­sicht, den An­for­de­run­gen des Grund­sat­zes der Verhält­nismäßig­keit (b).
142 a) Die vor­be­halt­los gewähr­leis­te­te Ko­ali­ti­ons­frei­heit ist durch ge­setz­li­che Be­stim­mun­gen be­schränk­bar, die das Verhält­nis kon­kur­rie­ren­der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en der­sel­ben Sei­te re­geln, um struk­tu­rel­le Vor­aus­set­zun­gen dafür zu schaf­fen, dass Ta­rif­ver­hand­lun­gen ei­nen fai­ren Aus­gleich in der Ge­stal­tung der Ar­beits- und Wirt­schafts­be­din­gun­gen ermögli­chen.
143 aa) Die Ko­ali­ti­ons­frei­heit ist zwar vor­be­halt­los gewähr­leis­tet. Sie ist kein Spe­zi­al­fall der all­ge­mei­nen Ver­ei­ni­gungs­frei­heit und un­ter­liegt da­her nicht den Schran­ken des Art. 9 Abs. 2 GG. Das be­deu­tet aber nicht, dass dem Ge­setz­ge­ber je­de Re­ge­lung im Schutz­be­reich die­ses Grund­rechts ver­wehrt wäre. Ge­setz­li­che Re­ge­lun­gen, die ei­ne Be­ein­träch­ti­gung des Art. 9 Abs. 3 GG be­wir­ken, können zu­guns­ten der Grund­rech­te Drit­ter so­wie sons­ti­ger mit Ver­fas­sungs­rang aus­ge­stat­te­ter Rech­te und Ge­mein­wohl­be­lan­ge ge­recht­fer­tigt wer­den (vgl. BVerfGE 84, 212 <228>; 92, 365 <403>; 100, 271 <283>; 103, 293 <306>; stRspr).
144 bb) Ge­setz­li­che Re­ge­lun­gen, die in den Schutz­be­reich des Art. 9 Abs. 3 GG fal­len, und die Funk­ti­onsfähig­keit des Sys­tems der Ta­rif­au­to­no­mie her­stel­len und si­chern sol­len, ver­fol­gen ei­nen le­gi­ti­men Zweck (vgl. BVerfGE 84, 212 <225, 228>; 88, 103 <114 f.>; 92, 365 <394 f., 397>; 94, 268 <284>; 116, 202 <224>). Der Ge­setz­ge­ber hat ei­ne ent­spre­chen­de Aus­ge­stal­tungs­be­fug­nis (vgl. BVerfGE 92, 26 <41>). Ins­be­son­de­re wenn das Verhält­nis der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en zu­ein­an­der berührt wird, die bei­de den Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG ge­nießen, be­darf die Ko­ali­ti­ons­frei­heit der ge­setz­li­chen Aus­ge­stal­tung (vgl. BVerfGE 94, 268 <284>; stRspr). Der Ge­setz­ge­ber hat die Rechts­in­sti­tu­te und Nor­men­kom­ple­xe zu set­zen, die dem Han­deln der Ko­ali­tio­nen und ins­be­son­de­re der Ta­rif­au­to­no­mie Gel­tung ver­schaf­fen (vgl. BVerfGE 50, 290 <368>; 92, 26 <41>).
145 cc) Art. 9 Abs. 3 GG be­rech­tigt den Ge­setz­ge­ber ins­be­son­de­re, Re­ge­lun­gen zum Verhält­nis der sich ge­genüber ste­hen­den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en zu tref­fen, um struk­tu­rel­le Vor­aus­set­zun­gen dafür zu schaf­fen, dass Ta­rif­ver­hand­lun­gen ei­nen fai­ren Aus­gleich ermögli­chen und da­mit - im Sin­ne der Ta­rif­verträgen zu­kom­men­den Rich­tig­keits­ver­mu­tung - an­ge­mes­se­ne Wirt­schafts- und Ar­beits­be­din­gun­gen her­vor­brin­gen können.
146 Grundsätz­lich enthält sich der Staat ei­ner Ein­fluss­nah­me und überlässt die au­to­no­me Ver­ein­ba­rung von Ar­beits- und Wirt­schafts­be­din­gun­gen zum großen Teil den Ko­ali­tio­nen; da­zu gehören ins­be­son­de­re das Ar­beits­ent­gelt und an­de­re ma­te­ri­el­le Ar­beits­be­din­gun­gen (vgl. BVerfGE 94, 268 <283>; 100, 271 <282>; 103, 293 <304>; 116, 202 <219>). Mit der grund­recht­li­chen Ga­ran­tie der Ta­rif­au­to­no­mie wird ein Frei­raum gewähr­leis­tet, in dem Ar­beit­neh­mer und Ar­beit­ge­ber ih­re In­ter­es­sen­ge­gensätze in ei­ge­ner Ver­ant­wor­tung aus­tra­gen können. Die­se Frei­heit fin­det ih­ren Grund in der his­to­ri­schen Er­fah­rung, dass auf die­se Wei­se eher Er­geb­nis­se er­zielt wer­den, die den In­ter­es­sen der wi­der­strei­ten­den Grup­pen und dem Ge­mein­wohl ge­recht wer­den, als bei ei­ner staat­li­chen Sch­lich­tung (BVerfGE 88, 103 <114 f.>). Dem Ta­rif­ver­trag kommt da­her ei­ne Rich­tig­keits­ver­mu­tung zu. Es darf grundsätz­lich da­von aus­ge­gan­gen wer­den, dass das von den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en er­ziel­te Ver­hand­lungs­er­geb­nis rich­tig ist und die In­ter­es­sen bei­der Sei­ten sach­ge­recht zum Aus­gleich bringt; ein ob­jek­ti­ver Maßstab, nach dem sich die Rich­tig­keit bes­ser be­ur­tei­len ließe, exis­tiert nicht. Im Zen­trum der Rich­tig­keits­ver­mu­tung steht, dass mit dem kol­lek­ti­ven Ver­trags­sys­tem die struk­tu­rel­le Un­ter­le­gen­heit der ein­zel­nen Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer über­wun­den wer­den kann. Das Ta­rif­ver­trags­sys­tem ist dar­auf an­ge­legt, de­ren struk­tu­rel­le Un­ter­le­gen­heit beim Ab­schluss von in­di­vi­du­el­len Ar­beits­verträgen durch kol­lek­ti­ves Han­deln aus­zu­glei­chen und da­mit ein annähernd gleich­ge­wich­ti­ges Aus­han­deln der Löhne und Ar­beits­be­din­gun­gen zu ermögli­chen. Funk­ti­onsfähig ist die Ta­rif­au­to­no­mie folg­lich nur, so­lan­ge zwi­schen den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en ein un­gefähres Kräfte­gleich­ge­wicht - Pa­rität - be­steht (vgl. BVerfGE 92, 365 <395>; stRspr). Die Ver­mu­tung der Rich­tig­keit des zwi­schen den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en Aus­ge­han­del­ten greift al­so nur un­ter die­sen Vor­aus­set­zun­gen.
147 Da Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG den so­zia­len Schutz der abhängig Beschäftig­ten im We­ge der kol­lek­ti­vier­ten Pri­vat­au­to­no­mie ga­ran­tiert (vgl. BAG, Ur­teil vom 14. Ok­to­ber 1997 - 7 AZR 811/96 -, ju­ris, Rn. 16; Ur­teil vom 23. März 2011 - 4 AZR 366/09 -, ju­ris, Rn. 21; stRspr) und mit Blick auf das So­zi­al­staats­prin­zip des Art. 20 Abs. 1 GG kommt es dem Ge­setz­ge­ber zu, struk­tu­rel­le Rah­men­be­din­gun­gen dafür zu schaf­fen, dass Ta­rif­ver­hand­lun­gen ei­nen fai­ren Aus­gleich auch tatsächlich ermögli­chen (vgl. schon BVerfGE 44, 322 <341 f.>; 92, 26 <41>). Der Ge­setz­ge­ber ist in­so­fern nicht ge­hin­dert, Rah­men­be­din­gun­gen für das Han­deln der Ko­ali­tio­nen zu ändern (vgl. BVerfGE 84, 212 <228 f.>; 92, 365 <394>); er ist so­gar ver­pflich­tet ein­zu­grei­fen, wenn nach­hal­ti­ge Störun­gen der Funk­ti­onsfähig­keit des Sys­tems vor­lie­gen (vgl. BVerfGE 92, 365 <397>).
148 dd) Der Ge­setz­ge­ber kann zur Si­che­rung der Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie je­doch nicht nur Re­ge­lun­gen in Kraft set­zen, die zwi­schen den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en Pa­rität her­stel­len. Art. 9 Abs. 3 GG be­rech­tigt den Ge­setz­ge­ber auch, Re­ge­lun­gen zum Verhält­nis der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en auf ei­ner der bei­den Sei­ten zu tref­fen, um struk­tu­rel­le Vor­aus­set­zun­gen dafür zu schaf­fen, dass Ta­rif­ver­hand­lun­gen auch in­so­fern ei­nen fai­ren Aus­gleich ermögli­chen und in Ta­rif­verträgen mit der ih­nen in­ne­woh­nen­den Rich­tig­keits­ver­mu­tung an­ge­mes­se­ne Wirt­schafts- und Ar­beits­be­din­gun­gen her­vor­brin­gen können. Wur­den struk­tu­rell aus­ge­gli­che­ne Ver­hand­lungs­be­din­gun­gen bis­lang vor al­lem durch Vor­ga­ben zu si­chern ge­sucht, die das Verhält­nis sich ge­genüber ste­hen­der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en be­tra­fen, schließt dies nicht aus, dass der Ge­setz­ge­ber auch das Verhält­nis kon­kur­rie­ren­der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en aus­ge­stal­tet, die der­sel­ben Sei­te an­gehören. Zur Funk­ti­onsfähig­keit der von Art. 9 Abs. 3 GG geschütz­ten Ta­rif­au­to­no­mie gehört in­so­weit nicht nur die struk­tu­rel­le Pa­rität zwi­schen Ar­beit­ge­ber- und Ar­beit­neh­mer­sei­te. Zu ihr gehören, wo Ge­werk­schaf­ten oder Ar­beit­ge­ber un­ter­ein­an­der kon­kur­rie­ren, auch Be­din­gun­gen der Aus­hand­lung von Ta­rif­verträgen, wel­che die Ent­fal­tung der Ko­ali­ti­ons­frei­heit selbst si­chern, in­dem sie die Vor­aus­set­zun­gen für ei­nen fai­ren Aus­gleich der berühr­ten In­ter­es­sen schaf­fen.
149 ee) Bei der Re­ge­lung der Struk­tur­be­din­gun­gen der Ta­rif­au­to­no­mie verfügt der Ge­setz­ge­ber über ei­ne Einschätzungs­präro­ga­ti­ve und ei­nen wei­ten Hand­lungs­spiel­raum (vgl. BVerfGE 92, 365 <394>). Das Grund­ge­setz schreibt ihm nicht vor, wie Grund­rechts­po­si­tio­nen im Ein­zel­nen ab­zu­gren­zen sind. Es ver­langt auch kei­ne Op­ti­mie­rung der Kampf­be­din­gun­gen. Grundsätz­lich ist es den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en selbst über­las­sen, ihr Han­deln den sich wan­deln­den Umständen an­zu­pas­sen, um aus­ge­wo­ge­ne Ta­rif­ab­schlüsse zu er­zie­len. Doch ist der Ge­setz­ge­ber auch nicht ge­hin­dert, die Rah­men­be­din­gun­gen der Ta­rif­au­to­no­mie zu ändern, sei es aus Gründen des Ge­mein­wohls, sei es, um gestörte Pa­ritäten wie­der her­zu­stel­len (vgl. BVerfGE 84, 212 <228 f.>; 92, 365 <394>), sei es zur Si­che­rung ei­nes fai­ren Aus­gleichs auf nur ei­ner Sei­te der sich ge­genüber­ste­hen­den Ko­ali­tio­nen.
150 Nur tatsächli­che Schwie­rig­kei­ten und erst recht nur Schwie­rig­kei­ten auf Sei­ten der Ar­beit­ge­ber, die sich dar­aus er­ge­ben, dass meh­re­re Ge­werk­schaf­ten auf­tre­ten, recht­fer­ti­gen ei­ne Be­schränkung der Ko­ali­ti­ons­frei­heit da­ge­gen grundsätz­lich nicht. Denn ob ei­ne Ko­ali­ti­on sich im Ar­beits­le­ben bil­den und be­haup­ten kann, wird viel­mehr ge­ra­de auch durch den Wett­be­werb un­ter den ver­schie­de­nen Grup­pen be­stimmt (vgl. BVerfGE 55, 7 <24>). Der Or­ga­ni­sa­ti­ons­grad ei­ner Ko­ali­ti­on, ih­re Fähig­keit zur An­wer­bung und Mo­bi­li­sie­rung von Mit­glie­dern und ähn­li­che Fak­to­ren lie­gen außer­halb der Ver­ant­wor­tung des Ge­setz­ge­bers. Er ist nicht ge­hal­ten, schwa­chen Verbänden Durch­set­zungsfähig­keit bei Ta­rif­ver­hand­lun­gen zu ver­schaf­fen, denn Art. 9 Abs. 3 GG ver­langt kei­ne Op­ti­mie­rung der Kampf­be­din­gun­gen, son­dern ver­pflich­tet den Staat auch in­so­weit zur Neu­tra­lität (vgl. BVerfGE 92, 365 <396>). Des­glei­chen darf der Ge­setz­ge­ber star­ke Verbände nicht ge­zielt schwächen, wenn das im Verhält­nis zur Ge­gen­sei­te den Grund­satz der Pa­rität (oben C III 3 a cc Rn. 145 f.) ver­letzt. Er darf auch nicht ge­zielt ge­gen be­stimm­te Ver­ei­ni­gun­gen be­stimm­ter Be­ru­fe vor­ge­hen (oben C III 1 b und c Rn. 132 und 133).
151 b) Die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen genügen bei ver­fas­sungs­recht­lich ge­bo­te­ner Aus­le­gung und Hand­ha­bung weit­ge­hend, aber nicht in je­der Hin­sicht, den An­for­de­run­gen an die Verhält­nismäßig­keit. Der Ge­setz­ge­ber ver­folgt ein le­gi­ti­mes Ziel (aa) und die Ver­drängung kon­kur­rie­ren­der Ta­rif­verträge ist nicht von vorn­her­ein un­ge­eig­net (bb) oder ein gleich wirk­sa­mes, mil­de­res Mit­tel zur Er­rei­chung die­ses Ziels er­kenn­bar (cc). Zur Si­che­rung der Zu­mut­bar­keit ist al­ler­dings bei der An­wen­dung der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen den grund­recht­lich geschütz­ten In­ter­es­sen hin­rei­chend Rech­nung zu tra­gen, so­weit nicht der Ge­setz­ge­ber zur Nach­bes­se­rung ver­pflich­tet ist (dd).
152 aa) Das vom Ge­setz­ge­ber ver­folg­te Ziel (1) ist ver­fas­sungs­recht­lich le­gi­tim (2).
153 (1) Zweck der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen ist es, An­rei­ze für ein ko­or­di­nier­tes und ko­ope­ra­ti­ves Vor­ge­hen der Ar­beit­neh­mer­sei­te in Ta­rif­ver­hand­lun­gen zu set­zen und so Ta­rif­kol­li­sio­nen zu ver­mei­den (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 9). Da­mit will der Ge­setz­ge­ber die Aus­gangs­be­din­gun­gen für im Ta­rif­ver­trags­sys­tem funk­tio­nie­ren­de Ta­rif­ver­hand­lun­gen si­chern, wel­che er spe­zi­fisch gefähr­det sieht, wenn es auf­grund der Aus­nut­zung be­trieb­li­cher Schlüssel­po­si­tio­nen auf Ar­beit­neh­mer­sei­te zur Ta­rif­kol­li­si­on im Be­trieb kommt. Die Bun­des­re­gie­rung hat in ih­rer schrift­li­chen Stel­lung­nah­me dar­ge­legt, es ge­he um die Si­che­rung der Vernünf­tig­keit der Aus­gangs­be­din­gun­gen der Ta­rif­ver­hand­lun­gen, wie sie für die ge­ne­rel­le Rich­tig­keits­ver­mu­tung des Ta­rif­ver­trags es­sen­ti­ell sei. Nach ih­rer Einschätzung ist in ei­nem Sys­tem erhöhter Ge­werk­schafts­kon­kur­renz bei gleich­zei­ti­ger Ermögli­chung von Ta­rifp­lu­ra­lität die Ver­hand­lungs­sym­me­trie in ver­schie­de­ner Hin­sicht gestört. Aus­weis­lich der Be­gründung des Ge­setz­ent­wurfs der Bun­des­re­gie­rung soll die Ver­hand­lungsstärke ein­sch­ließlich der Ar­beits­kampf­kraft der Ar­beit­neh­mer­sei­te als Gan­ze ge­si­chert wer­den: Nähmen Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer mit be­son­de­ren Schlüssel­po­si­tio­nen in den Be­trie­ben ih­re In­ter­es­sen ge­son­dert wahr, führe dies ten­den­zi­ell zu ei­ner Be­ein­träch­ti­gung ei­ner wirk­sa­men kol­lek­ti­ven In­ter­es­sen­ver­tre­tung durch die übri­gen Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer. Oh­ne be­son­de­re Schlüssel­po­si­ti­on im Be­triebs­ab­lauf sei­en die­se dann selbst kol­lek­tiv nur noch ein­ge­schränkt in der La­ge, auf Au­genhöhe mit der Ar­beit­ge­ber­sei­te zu ver­han­deln (a.a.O., S. 9). Zu­dem wer­de die Ver­tei­lungs­funk­ti­on des Ta­rif­ver­trags gestört, wenn die kon­kur­rie­ren­den Ta­rif­ab­schlüsse nicht den Wert ver­schie­de­ner Ar­beits­leis­tun­gen in­ner­halb ei­ner be­trieb­li­chen Ge­mein­schaft zu­ein­an­der wi­der­spie­gel­ten, son­dern vor al­lem Aus­druck der je­wei­li­gen Schlüssel­po­si­tio­nen der un­ter­schied­li­chen Beschäftig­ten­grup­pen im Be­triebs­ab­lauf sei­en (a.a.O., S. 11 f.). Bei er­folg­rei­chen Ta­rif­ver­hand­lun­gen ei­ner Ge­werk­schaft ver­rin­ge­re sich der Ver­tei­lungs­spiel­raum für die an­ders- und nicht­or­ga­ni­sier­ten Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer (a.a.O., S. 8). Sch­ließlich könne die Kon­kur­renz un­ter­schied­li­cher Ta­rif­wer­ke die Her­stel­lung von Ge­samt­kom­pro­mis­sen gefähr­den, die vor al­lem in wirt­schaft­li­chen Kri­sen­si­tua­tio­nen oft­mals zur Beschäfti­gungs­si­che­rung er­for­der­lich sei­en (a.a.O.).
154 (2) Der Ge­setz­ge­ber ver­folgt da­mit ein le­gi­ti­mes Ziel.
155 (a) Der Ge­setz­ge­ber ist be­rech­tigt, Re­ge­lun­gen zum Verhält­nis der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en zu tref­fen, um struk­tu­rel­le Vor­aus­set­zun­gen dafür her­zu­stel­len, dass Ta­rif­ver­hand­lun­gen ei­nen fai­ren Aus­gleich ermögli­chen (oben C III 3 a dd Rn. 148). Das gilt ge­ra­de, weil sich der Staat hier ei­ner ma­te­ri­el­len Re­ge­lung der Löhne und sons­ti­ger Ar­beits­be­din­gun­gen weit­ge­hend enthält und de­ren Aus­hand­lung den Ta­rif­part­nern überlässt. Dies folgt so­wohl aus Art. 9 Abs. 3 GG als auch aus dem So­zi­al­staats­prin­zip (Art. 20 Abs. 1 GG) (oben C III 3 a cc Rn. 147). Der Ge­stal­tungs­spiel­raum des Ge­setz­ge­bers fin­det sei­ne Gren­zen je­doch am ob­jek­ti­ven Ge­halt des Art. 9 Abs. 3 GG. Die Ta­rif­au­to­no­mie muss als ein Be­reich ge­wahrt blei­ben, in dem die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en ih­re An­ge­le­gen­hei­ten grundsätz­lich selbst­ver­ant­wort­lich und oh­ne staat­li­che Ein­fluss­nah­me re­geln können (BVerfGE 92, 365 <393 f.>). Die­se Gren­ze ist hier nicht über­schrit­ten. § 4a TVG enthält kei­ne ma­te­ri­el­len Lohn- oder Ver­tei­lungs­re­ge­lun­gen, son­dern zielt auf die Struk­tur des von den Ta­rif­part­nern ei­genständig aus­zufüllen­den Ver­hand­lungs­rah­mens. So hat die Bun­des­re­gie­rung im Ver­fah­ren dar­ge­legt, dass das Ta­rif­ein­heits­ge­setz kei­ne be­stimm­te Vor­stel­lung ei­ner ma­te­ria­len Ge­rech­tig­keit zu­grun­de le­ge oder durch­zu­set­zen ver­su­che, son­dern Pro­zes­se des Ver­han­delns, der Ab­stim­mung und der Ko­or­di­na­ti­on zwi­schen den Be­tei­lig­ten an­s­toßen wol­le.
156 (b) Der Ge­setz­ge­ber ver­folgt hier das le­gi­ti­me Ziel, zur Si­che­rung der struk­tu­rel­len Vor­aus­set­zun­gen von Ta­rif­ver­hand­lun­gen das Verhält­nis der Ge­werk­schaf­ten un­ter­ein­an­der zu re­geln, um zu ver­hin­dern, dass sich durch die iso­lier­te Aus­nut­zung ei­ner Schlüssel­po­si­ti­on die struk­tu­rel­len Be­din­gun­gen von Ta­rif­ver­hand­lun­gen in ei­ner Wei­se ent­wi­ckeln, dass ei­ne fai­re Aus­hand­lung von Ar­beits- und Wirt­schafts­be­din­gun­gen nicht mehr gewähr­leis­tet ist.
157 Bei der Re­ge­lung von Struk­tur­be­din­gun­gen von Ko­ali­ti­ons­frei­heit im All­ge­mei­nen und Ta­rif­au­to­no­mie im Be­son­de­ren verfügt der Ge­setz­ge­ber für die kon­kre­te Ziel­set­zung über ei­ne Einschätzungs­präro­ga­ti­ve und Ge­stal­tungs­spiel­raum beim Aus­gleich der sich ge­genüber ste­hen­den Rech­te (vgl. BVerfGE 92, 365 <394>). Die­sen Spiel­raum über­schrei­tet er hier nicht. Weil das Auf­tre­ten kon­kur­rie­ren­der Ge­werk­schaf­ten die Ver­hand­lungs­struk­tu­ren im Ta­rif­ver­trags­sys­tem grund­le­gend be­ein­flus­sen kann, ist der Ge­setz­ge­ber be­fugt, auch die­sen As­pekt der Ta­rif­po­li­tik ge­setz­lich aus­zu­ge­stal­ten. Ins­be­son­de­re darf der Ge­setz­ge­ber dar­auf zie­len, dass der in­ter­ge­werk­schaft­li­che Wett­be­werb nicht zur ta­rif­po­li­ti­schen Schwächung und zum ma­te­ri­el­len Nach­teil sol­cher Ar­beit­neh­mer­grup­pen führt, die nicht über so­ge­nann­te Schlüssel­po­si­tio­nen und ei­ne dar­auf be­ru­hen­de Blo­cka­de­macht im Be­trieb verfügen. Er ist da­bei grundsätz­lich nicht dar­auf be­schränkt, ge­gen be­reits ein­ge­tre­te­ne Funk­ti­onsstörun­gen vor­zu­ge­hen. Auch im Hin­blick auf dro­hen­de Funk­ti­onsstörun­gen verfügt er über ei­nen Einschätzungs­spiel­raum bei der Fra­ge, wann auf­grund tatsäch­li­cher An­halts­punk­te ein le­gis­la­ti­ves Ein­grei­fen ge­bo­ten ist.
158 bb) Die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen sind im Sin­ne des Verhält­nismäßig­keits­grund­sat­zes ge­eig­net, das Ziel zu er­rei­chen, auf der Ar­beit­neh­mer­sei­te ein ko­or­di­nier­tes und ko­ope­ra­ti­ves Vor­ge­hen in Ta­rif­ver­hand­lun­gen zu be­wir­ken, auch wenn nicht ge­wiss ist, dass die­ser Ef­fekt tatsächlich er­zielt wird.
159 (1) Es genügt, dass die Re­ge­lun­gen des Ta­rif­ein­heits­ge­set­zes nicht of­fen­sicht­lich un­ge­eig­net sind, der Aus­nut­zung von Blo­cka­de­po­si­tio­nen ein­zel­ner Ar­beit­neh­mer­grup­pen in der Ge­stal­tung der Ar­beits- und Beschäfti­gungs­be­din­gun­gen im Be­trieb ent­ge­gen­zu­wir­ken. Ver­fas­sungs­recht­lich be­darf es nur der Möglich­keit, dass der er­streb­te Er­folg so gefördert wer­den kann, al­so die Möglich­keit der Zweck­er­rei­chung be­steht (vgl. BVerfGE 90, 145 <172>; 126, 112 <144>; stRspr). Die Re­ge­lun­gen dürfen nur nicht von vorn­her­ein un­taug­lich sein (vgl. BVerfGE 100, 313 <373>), was nicht schon der Fall ist, wenn ih­re Um­set­zung schwie­rig ist, so­fern sie möglich er­scheint (vgl. BVerfGE 110, 141 <164>). Der Ge­setz­ge­ber hat auch hier ei­nen Einschätzungs­spiel­raum für die Be­ur­tei­lung der tatsächli­chen Grund­la­gen ei­ner Re­ge­lung (vgl. BVerfGE 104, 337 <347 f.>). Die Gren­ze liegt dort, wo sich deut­lich er­kenn­bar ab­zeich­net, dass ei­ne Fehl­einschätzung vor­ge­le­gen hat (vgl. BVerfGE 92, 365 <395 f.>).
160 (2) Hier will der Ge­setz­ge­ber mit der Kol­li­si­ons­norm des § 4a Abs. 2 TVG si­cher­stel­len, dass auch bei ei­nem Wett­be­werb der Ge­werk­schaf­ten un­ter­ein­an­der fai­re Be­din­gun­gen für das Aus­han­deln von Ta­rif­verträgen be­ste­hen und ins­be­son­de­re Beschäftig­te in Schlüssel­po­si­tio­nen im Be­trieb ih­re For­de­run­gen nicht völlig los­gelöst von den In­ter­es­sen der an­de­ren Beschäftig­ten gel­tend ma­chen können. Der Ge­setz­ge­ber hat die schar­fe Sank­ti­on der Ver­drängung ei­nes Ta­rif­ver­trags bei Über­schnei­dun­gen nor­miert, um die Ge­werk­schaf­ten zur Ko­ope­ra­ti­on zu be­we­gen und es so gar nicht erst zur Ta­rif­kol­li­si­on im Be­trieb kom­men zu las­sen. Es er­scheint nicht aus­ge­schlos­sen, dass die Re­ge­lun­gen den be­zweck­ten Ko­or­di­nie­rungs­an­reiz tatsächlich ent­fal­ten. Je­den­falls ist nicht er­kenn­bar, dass ei­ne völli­ge Fehl­einschätzung sei­tens des Ge­setz­ge­bers vor­ge­le­gen hätte.
161 Die mit den Ver­fas­sungs­be­schwer­den vor­ge­brach­ten Einwände grei­fen in­so­weit nicht durch. Ins­be­son­de­re der Ein­wand, das Ge­setz knüpfe an den Be­trieb an und da­mit nicht an das für die Ta­rif­po­li­tik zen­tra­le Un­ter­neh­men, stellt die ver­fas­sungs­recht­li­che Eig­nung nicht in Fra­ge. Ei­ne Lösung von Ta­rif­kol­li­sio­nen im Be­trieb kann ei­nen Bei­trag da­zu leis­ten, in Teil­be­rei­chen ei­ne de­struk­ti­ve Ent­wick­lung im Ta­rif­ver­trags­sys­tem zu ver­hin­dern und des­sen Funk­ti­onsfähig­keit zu stärken. Auch der Ein­wand, ei­ne Ta­rif­ein­heits­re­ge­lung nur für den Be­trieb schwäche den Flächen­ta­rif­ver­trag, stellt die Eig­nung der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen, ei­nen An­reiz für die Selbst­ko­or­di­na­ti­on der kon­kur­rie­ren­den Ge­werk­schaf­ten zu set­zen, nicht in Fra­ge.
162 cc) Ge­gen die Er­for­der­lich­keit der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen be­ste­hen kei­ne ver­fas­sungs­recht­lich durch­grei­fen­den Be­den­ken. Der Ge­setz­ge­ber verfügt auch in­so­weit über ei­nen Be­ur­tei­lungs- und Pro­gno­se­spiel­raum. Da­her können Maßnah­men, die der Ge­setz­ge­ber zum Schutz ei­nes wich­ti­gen Zie­les für er­for­der­lich hält, ver­fas­sungs­recht­lich nur be­an­stan­det wer­den, wenn nach den ihm be­kann­ten Tat­sa­chen und im Hin­blick auf die bis­he­ri­gen Er­fah­run­gen fest­stell­bar ist, dass Re­ge­lun­gen, die als Al­ter­na­ti­ven in Be­tracht kom­men, die glei­che Wirk­sam­keit ver­spre­chen, die Be­trof­fe­nen in­des­sen we­ni­ger be­las­ten (vgl. BVerfGE 116, 202 <225>; stRspr). Hier steht je­den­falls kein ein­deu­tig sach­lich gleich­wer­ti­ges, al­so zwei­fels­frei gleich wirk­sa­mes, die Grund­rechts­be­rech­tig­ten aber we­ni­ger be­ein­träch­ti­gen­des Mit­tel zur Verfügung, um den mit dem Ge­setz ver­folg­ten Zweck zu er­rei­chen. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt prüft hier nicht, ob es bes­se­re Lösun­gen für die hin­ter ei­nem Ge­setz ste­hen­den Pro­ble­me gibt. Der Ge­setz­ge­ber hat sei­nen Be­ur­tei­lungs- und Pro­gno­se­spiel­raum nicht ver­letzt.
163 (1) Der Ge­setz­ge­ber hat sich be­wusst ge­gen al­ter­na­ti­ve Re­ge­lun­gen (oben A II 3 b Rn. 10) zum Um­gang mit Pro­ble­men ent­schie­den, die aus der Kon­kur­renz un­ter­schied­li­cher Ge­werk­schaf­ten und dem Ab­schluss meh­re­rer Ta­rif­verträge mit Gel­tung in ei­nem Be­trieb er­wach­sen können. Er hält das in der ar­beits­ge­richt­li­chen Recht­spre­chung ver­wen­de­te Spe­zia­litätsprin­zip wie auch ein Mo­dell so­ge­nann­ter „dy­na­mi­scher Re­präsen­ta­ti­vität“ nicht für gleich wirk­sam und auch nicht für mil­der als das Mehr­heits­prin­zip; auch ei­ne auf be­stimm­te Be­rei­che wie na­ment­lich die Da­seins­vor­sor­ge be­schränk­te Re­ge­lung wird nicht als gleich wirk­sam an­ge­se­hen. Nicht auf­ge­grif­fen hat der Ge­setz­ge­ber auch die wei­te­ren Vor­schläge zur Ein­be­zie­hung der Min­der­heits­ge­werk­schaft in die Ta­rif­ver­hand­lun­gen zwi­schen Ar­beit­ge­bern und Mehr­heits­ge­werk­schaft, zu ei­ner Syn­chro­ni­sie­rung der Lauf­zei­ten von Ta­rif­verträgen, zu der Vor­ga­be ei­ner Streikführer­schaft der Mehr­heits­ge­werk­schaft oder zur Eta­blie­rung ei­ner be­son­de­ren Sch­lich­tung oder zur Ein­schränkung des Ar­beits­kampf­rech­tes in Be­rei­chen der Da­seins­vor­sor­ge. Dass es sich da­bei um gleich wirk­sa­me und ein­deu­tig we­ni­ger be­las­ten­de Re­ge­lun­gen han­del­te, ist nicht fest­stell­bar.
164 Auch steht mit der An­for­de­rung der Ta­riffähig­keit ein von der Recht­spre­chung ent­wi­ckel­tes ta­rif­ver­trags­recht­li­ches In­stru­ment zur Verfügung, ge­wis­se de­struk­ti­ve Ent­wick­lun­gen in der Ta­rif­po­li­tik zu ver­hin­dern. So si­chert die Recht­spre­chung zur Ta­riffähig­keit, dass nicht je­de Split­ter­ver­ei­ni­gung Ta­rif­verträge erkämp­fen und ab­sch­ließen kann, denn ta­riffähig ist nur die­je­ni­ge Ver­ei­ni­gung, die ein Min­dest­maß an Ver­hand­lungs­ge­wicht und al­so ei­ne ge­wis­se Durch­set­zungs­kraft ge­genüber dem so­zia­len Ge­gen­spie­ler auf­weist (vgl. BVerfGE 58, 233 <248 f.>; 100, 214 <223>; näher BAG, Be­schluss vom 6. Ju­ni 2000 - 1 ABR 10/99 -, ju­ris, Rn. 34; Be­schluss vom 14. De­zem­ber 2010 - 1 ABR 19/10 -, ju­ris, Rn. 81). Die Re­geln des Ta­rif­ein­heits­ge­set­zes ver­mag dies aber of­fen­kun­dig nicht zu er­set­zen. Ei­ne sol­che, durch­set­zungs­schwa­che Ge­werk­schaf­ten aus dem Ta­rif­ge­sche­hen ver­drängen­de An­for­de­rung ist kein ge­eig­ne­tes Mit­tel ge­gen die Aus­nut­zung be­trieb­li­cher Schlüssel­po­si­tio­nen durch ein­zel­ne in­so­weit durch­set­zungs­star­ke Ge­werk­schaf­ten.
165 (2) Der Ein­wand, tatsächlich sei die Ta­rif­au­to­no­mie durch Ta­rif­kol­li­sio­nen nicht gefähr­det und ei­ne Re­ge­lung da­her nicht er­for­der­lich, greift ver­fas­sungs­recht­lich nicht durch. Der Ge­setz­ge­ber ist nicht dar­auf be­schränkt, ge­gen be­reits ein­ge­tre­te­ne Funk­ti­onsstörun­gen vor­zu­ge­hen, son­dern verfügt auch mit Blick auf dro­hen­de Funk­ti­onsstörun­gen über ei­nen Einschätzungs­spiel­raum (oben C III 3 b aa (2) (b) Rn. 157). Den Ge­setz­ge­ber trifft die po­li­ti­sche Ver­ant­wor­tung für ei­ne zu­tref­fen­de Er­fas­sung und Be­wer­tung der maßge­ben­den Fak­to­ren. Ver­fas­sungs­recht­lich ist die­se so­lan­ge zu ak­zep­tie­ren, wie sich nicht deut­lich er­kenn­bar ab­zeich­net, dass ei­ne Fehl­einschätzung vor­ge­le­gen hat oder die an­ge­grif­fe­ne Maßnah­me von vorn­her­ein dar­auf hin­ausläuft, ein vor­han­de­nes Gleich­ge­wicht der Kräfte zu stören oder ein Un­gleich­ge­wicht zu verstärken (vgl. BVerfGE 92, 365 <396>) oder sonst ge­gen ver­fas­sungs­recht­li­che Vor­ga­ben zu ver­s­toßen. Das ist hier nicht der Fall.
166 dd) Die mit den an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen ver­bun­de­nen Be­las­tun­gen sind im Er­geb­nis weit­ge­hend zu­mut­bar. Die Be­ein­träch­ti­gun­gen der Ko­ali­ti­ons­frei­heit der Be­trof­fe­nen wie­gen schwer (1). Doch ver­folgt der Ge­setz­ge­ber mit dem Ta­rif­ein­heits­ge­setz ge­wich­ti­ge Zie­le ge­ra­de auch im In­ter­es­se der Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie und mit dem Ziel des so­zia­len Aus­gleichs (2). In der Abwägung er­wei­sen sich die Be­ein­träch­ti­gun­gen des Art. 9 Abs. 3 GG bei teils ver­fas­sungs­recht­lich ge­bo­te­ner re­strik­ti­ver Aus­le­gung der Re­ge­lun­gen des Ta­rif­ein­heits­ge­set­zes als im We­sent­li­chen zu­mut­bar, weil sich die Be­las­tungs­wir­kun­gen so hin­rei­chend be­schränken las­sen (3). Mit Blick auf den Schutz der Ge­werk­schafts­mit­glie­der aus den Be­rufs­grup­pen, de­ren Ta­rif­ver­trag ver­drängt wird, genügt die Re­ge­lung al­ler­dings in­so­fern nicht den ver­fas­sungs­recht­li­chen An­for­de­run­gen, als sie kei­ne Schutz­vor­keh­run­gen ge­gen ei­ne ein­sei­ti­ge Ver­nachlässi­gung der An­gehöri­gen die­ser Be­rufs­grup­pen durch die je­wei­li­ge Mehr­heits­ge­werk­schaft vor­se­hen (4).
167 (1) Die mit den an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen ein­her­ge­hen­den Be­ein­träch­ti­gun­gen der Ko­ali­ti­ons­frei­heit wie­gen schwer. Das gilt so­wohl für die in § 4a Abs. 2 TVG an­ge­ord­ne­te Ver­drängungs­wir­kung selbst (a) als auch für die da­mit ein­her­ge­hen­den, vom Ge­setz­ge­ber be­ab­sich­tig­ten Vor­wir­kun­gen die­ser Re­ge­lung (b).
168 (a) § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG führt im Fall ei­ner Ta­rif­kol­li­si­on zur Ver­drängung der Rechts­nor­men ei­nes ab­ge­schlos­se­nen Ta­rif­ver­trags. Der be­trof­fe­nen Ge­werk­schaft wird da­mit das von ihr Er­reich­te ge­nom­men und ihr Mit­glied hin­sicht­lich die­ses Ta­rif­ver­trags ta­rif­los ge­stellt. Den­noch ist die Ge­werk­schaft wei­ter an die Frie­dens­pflicht und die Ab­re­den zur Lauf­zeit ih­res ei­ge­nen Ta­rif­ver­trags ge­bun­den. Die da­mit ver­bun­de­nen Ver­lus­te können auch durch Be­triebs­ver­ein­ba­run­gen nicht kom­pen­siert wer­den, da die Sperr­wir­kung der § 77 Abs. 3, § 87 Abs. 1 Be­trVG greift, die sich ent­we­der aus dem an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trag oder der durch den ver­dräng­ten Ta­rif­ver­trag be­leg­ten Ta­rifüblich­keit er­gibt. Da­mit trifft § 4a Abs. 2 TVG die Ta­rif­au­to­no­mie als die zen­tra­le Betäti­gungs­form und den Zweck von Ko­ali­tio­nen schwer (oben C III 1 a Rn. 131); die Ver­drängung be­wirkt ei­ne Ent­wer­tung er­reich­ter Ta­rif­ab­schlüsse und be­ein­träch­tigt so den ver­fas­sungs­recht­lich gewähr­leis­te­ten Ta­rif­ver­trags­schutz.
169 (b) Von er­heb­li­chem Ge­wicht sind zu­dem die mit den be­ab­sich­tig­ten Vor­wir­kun­gen der Re­ge­lung ver­bun­de­nen Be­ein­träch­ti­gun­gen der Rech­te aus Art. 9 Abs. 3 GG im Vor­feld ei­ner Ta­rif­kol­li­si­on. Die an­ge­grif­fe­ne Norm be­ein­träch­tigt so be­reits vor ei­ner Ta­rif­kol­li­si­on die ta­rif­po­li­ti­sche Frei­heit der Ge­werk­schaf­ten und ih­rer Mit­glie­der, die in ei­nem Be­trieb struk­tu­rell oder so­gar of­fen­kun­dig le­dig­lich ei­ne Min­der­heit der Beschäftig­ten or­ga­ni­sie­ren. Für sie be­steht die Ge­fahr, dass sie vom so­zia­len Ge­gen­spie­ler von vorn­her­ein nicht mehr als Ta­rif­part­ner ernst­ge­nom­men wer­den, weil klar oder je­den­falls wahr­schein­lich ist, dass die von ih­nen ab­ge­schlos­se­nen Ta­rif­verträge nicht zur An­wen­dung kom­men. Die­se Ge­werk­schaf­ten ver­lie­ren an At­trak­ti­vität und Mo­bi­li­sie­rungs­kraft für den Ar­beits­kampf. Mit dem po­ten­ti­el­len Be­deu­tungs­ver­lust und der nach­las­sen­den Ge­stal­tungs­kraft erhöht sich der Druck, die ta­rif­po­li­ti­sche Aus­rich­tung zu ändern. Aus­weis­lich der Stel­lung­nah­men und des Vor­brin­gens in der münd­li­chen Ver­hand­lung ist in Be­trie­ben der­zeit häufig kei­ne Kennt­nis darüber vor­han­den, wel­che Ge­werk­schaft im Verhält­nis zu an­de­ren nach ih­rer Sat­zung über­schnei­dend zuständi­gen Ge­werk­schaf­ten ei­ne Mehr­heit der Beschäftig­ten or­ga­ni­siert. Aus die­ser Un­kennt­nis über die ei­ge­ne re­la­ti­ve Stärke re­sul­tiert ei­ne Un­si­cher­heit über die Durch­setz­bar­keit ei­ge­ner Ta­rif­verträge und ei­ne ta­rif­po­li­ti­sche Schwächung. Dies ist ge­wollt, weil sie die Ver­hand­lungs- und Kom­pro­miss­be­reit­schaft im Sin­ne ei­nes ko­or­di­nier­ten und ko­ope­ra­ti­ven Vor­ge­hens der Ge­werk­schaf­ten fördern soll. Sie be­ein­träch­tigt die grund­recht­lich geschütz­te Frei­heit der in­ne­ren Or­ga­ni­sa­ti­on und Aus­rich­tung. Sind die Mehr­heits­verhält­nis­se hin­ge­gen be­kannt, ist die Ge­werk­schaft, die sich in ei­nem Be­trieb in der Min­der­heit be­fin­det, auf­grund der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen erst recht ge­schwächt, denn dann ist of­fen­kun­dig, dass sie sich in die­sem Be­trieb nicht wird durch­set­zen können.
170 (c) Ei­ne zusätz­li­che Be­ein­träch­ti­gung der ko­ali­ti­ons­spe­zi­fi­schen Betäti­gungs­frei­heit durch die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen liegt schließlich dar­in, dass mit dem Be­schluss­ver­fah­ren zum Kol­li­si­ons­fall nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG das Ri­si­ko ein­her­geht, of­fen­ba­ren zu müssen, wie hoch die Zahl der Mit­glie­der ist, und da­mit die Kampfstärke in dem Be­trieb of­fen zu le­gen.
171 (2) Das Ta­rif­ein­heits­ge­setz soll die struk­tu­rel­len Vor­aus­set­zun­gen dafür schaf­fen und er­hal­ten, dass Ta­rif­ver­hand­lun­gen ei­nen fai­ren Aus­gleich ermögli­chen. Weil sich der Staat ei­ner ma­te­ri­el­len Re­ge­lung der Löhne und sons­ti­ger Ar­beits­be­din­gun­gen grundsätz­lich enthält und de­ren Aus­hand­lung den Ta­rif­part­nern überlässt, kann er die struk­tu­rel­len Vor­aus­set­zun­gen die­ser Aus­hand­lung re­geln; aus Art. 9 Abs. 3 GG fol­gen ei­ne ent­spre­chen­de Aus­ge­stal­tungs­be­fug­nis und ge­ge­be­nen­falls ein Aus­ge­stal­tungs­auf­trag (oben C III 3 a bb Rn. 144). Die Si­che­rung der Be­din­gun­gen ei­nes funk­ti­onsfähi­gen Ta­rif­ver­trags­sys­tems auch nur auf der Sei­te der Ge­werk­schaf­ten ist von er­heb­li­cher Be­deu­tung dafür, die mit der Ko­ali­ti­ons­frei­heit ver­bun­de­nen Zwe­cke auch tatsächlich zu er­rei­chen. Wie re­al und wie weit­ge­hend die­se Gefähr­dun­gen oh­ne ent­spre­chen­de Re­ak­tio­nen des Ge­setz­ge­bers sind, hat der Ge­setz­ge­ber im Rah­men sei­nes Einschätzungs- und Pro­gno­se­spiel­raums (oben C III 3 a ee Rn. 149) zu be­wer­ten. Dass der Ge­setz­ge­ber die­sen Spiel­raum über­schrit­ten hätte, ha­ben die Ver­fas­sungs­be­schwer­de­ver­fah­ren nicht er­ge­ben.
172 (3) Die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen des Ta­rif­ein­heits­ge­set­zes be­ein­träch­ti­gen mit ih­ren Vor­wir­kun­gen auf die Or­ga­ni­sa­ti­on, ta­rif­po­li­ti­sche Aus­rich­tung und Ver­hand­lungsfähig­keit der Ge­werk­schaf­ten und im Fall der Ver­drängung ei­nes Ta­rif­ver­trags mit der Ent­wer­tung des Ver­hand­lungs­er­geb­nis­ses der Min­der­heits­ge­werk­schaft die Ta­rif­au­to­no­mie er­heb­lich. Auch un­ter Berück­sich­ti­gung des ho­hen Ge­wichts der mit dem Ta­rif­ein­heits­ge­setz ver­folg­ten Zie­le er­wei­sen sich die­se Be­las­tun­gen in der Ge­samt­abwägung nur dann als zu­mut­bar, wenn ih­nen durch ei­ne re­strik­ti­ve Aus­le­gung der Ver­drängungs­re­ge­lung und ih­rer ver­fah­rens­recht­li­chen Ein­bin­dung Schärfen ge­nom­men wer­den. Teils ist die ein­schränken­de Aus­le­gung und Hand­ha­bung für sich ge­nom­men ver­fas­sungs­recht­lich ge­bo­ten. Im Übri­gen hat der Se­nat für die Be­ur­tei­lung der Zu­mut­bar­keit ei­ne re­strik­ti­ve Aus­le­gung der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen zu­grun­de ge­legt, die als sol­che nicht von Ver­fas­sungs we­gen ge­bo­ten ist. So­weit die Fach­ge­rich­te hier zu an­de­ren Er­geb­nis­sen kom­men, ha­ben die­se die Zu­mut­bar­keit der Re­ge­lun­gen auch in ih­rer Ge­samt­be­las­tung im Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG zu berück­sich­ti­gen. So­weit Re­ge­lun­gen zum Be­rufs­grup­pen­schutz feh­len, be­darf es der ge­setz­li­chen Nach­bes­se­rung.
173 Dafür ist von Be­deu­tung, dass die Vor­ga­be der Ver­drängung ei­nes Ta­rif­ver­trags nach § 4a Abs. 2 TVG, so­fern sie schon kraft Ge­set­zes ein­tritt, doch un­ter be­stimm­ten Be­din­gun­gen von den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en ab­be­dun­gen wer­den kann (a). Der kol­li­die­ren­de Min­der­heits­ta­rif­ver­trag wird grundsätz­lich vollständig ver­drängt, doch ist die Ver­drängungs­re­ge­lung re­strik­tiv aus­zu­le­gen und die Ver­drängungs­wir­kung mehr­fach be­schränkt (b). Ta­rif­ver­trag­lich ga­ran­tier­te Leis­tun­gen be­son­de­rer Qua­lität müssen ge­genüber der Ver­drängungs­wir­kung Be­stand ha­ben, um un­zu­mut­ba­re Härten zu ver­mei­den (c). Kommt es zur Ver­drängung der An­wend­bar­keit ei­nes Ta­rif­ver­trags, lebt er grundsätz­lich wie­der auf, wenn der ver­drängen­de Ta­rif­ver­trag en­det (d). Die Re­ge­lung des § 4a Abs. 4 TVG zum An­spruch auf Nach­zeich­nung, der den durch die Ver­drängung er­lit­te­nen Rechts­ver­lust teil­wei­se aus­glei­chen soll, ist ent­spre­chend dem Um­fang der Ver­drängung weit aus­zu­le­gen (e). Wer­den die Vor­ga­ben ei­ner Be­kannt­ga­be von Ta­rif­ver­hand­lun­gen im Be­trieb nach § 4a Abs. 5 Satz 1 TVG und ei­ner Anhörung kon­kur­rie­ren­der Ge­werk­schaf­ten nach § 4a Abs. 5 Satz 2 TVG ver­letzt, lie­gen die Vor­aus­set­zun­gen der Ver­drängung nicht vor (f). Das ar­beits­ge­richt­li­che Be­schluss­ver­fah­ren nach § 99 ArbGG ist so zu führen, dass die Mit­glie­derstärke der Ge­werk­schaf­ten nach Möglich­keit nicht of­fen ge­legt wird (g).
174 (a) Das Ge­wicht der Be­ein­träch­ti­gung ist da­durch re­la­ti­viert, dass es die Be­trof­fe­nen in ge­wis­sem Maße selbst in der Hand ha­ben, ob es zur Ver­drängungs­wir­kung kommt oder nicht.
175

(aa) Zwar tritt die Ver­drängungs­wir­kung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nach der­zeit wohl über­wie­gen­der Auf­fas­sung kraft Ge­set­zes ein, so­bald es zur Ta­rif­kol­li­si­on kommt (vgl. u.a. Fran­zen, in: ErfK, 17. Aufl. 2017, § 4a TVG Rn. 17; Gie­sen, in: Be­ckOK ArbR, 43. Ed., § 4a TVG Rn. 21; Be­p­ler, in: Boecken/Düwell/Dil­ler/ Ha­nau, Ge­sam­tes Ar­beits­recht, 1. Aufl. 2016, § 4a TVG Rn. 55; a.A. Löwisch, NZA 2015, S. 1369 f.; Grei­ner, in: Hens­s­ler/Moll/Be­p­ler, Der Ta­rif­ver­trag, 2. Aufl. 2016, Teil 9 Rn. 112a). Die Ver­drängung ist da­nach nicht von ei­ner Fest­stel­lung des Ar­beits­ge­richts nach § 99 ArbGG abhängig. Die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en ha­ben es dem­nach nicht in der Hand, die Ver­drängungs­wir­kung da­durch zu ver­mei­den, dass sie kei­nen An­trag nach § 99 ArbGG stel­len. Ei­ne ge­richt­li­che Ent­schei­dung da­zu, wel­cher Ta­rif­ver­trag in ei­nem Be­trieb als von der Mehr­heits­ge­werk­schaft ge­schlos­sen zur An­wen­dung kommt, kann viel­mehr oh­ne Zu­tun der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en im ar­beits­recht­li­chen In­di­vi­du­al­rechts­streit er­fol­gen.

176 Dass der Ge­setz­ge­ber als maßgeb­li­chen Zeit­punkt der Kol­li­si­on in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG auf den Ab­schluss des kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags ab­stellt, spricht auch dafür, die Ver­drängungs­wir­kung auf die­sen Zeit­punkt zu be­zie­hen; ab dann be­steht kein An­spruch mehr auf von der Min­der­heit im Be­trieb ta­rif­lich ver­ein­bar­te Leis­tun­gen. Zwin­gend ge­bo­ten ist die­se Aus­le­gung in­des­sen von Ver­fas­sungs we­gen nicht.
177 (bb) Ein­flussmöglich­kei­ten der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en be­ste­hen je­doch in­so­fern, als die Re­ge­lung des § 4a TVG ta­rif­dis­po­si­tiv ist.
178 Für die An­nah­me, dass die Kol­li­si­ons­norm des § 4a TVG zur Dis­po­si­ti­on der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en steht (so auch Be­p­ler, in: Däubler/Be­p­ler, Das neue Ta­rif­ein­heits­recht, 1. Aufl. 2016, Rn. 291 ff.; Berg, in: Berg/Ko­cher/Schu­mann, TVG und Ar­beits­kampf­recht, 5. Aufl. 2015, § 4a Rn. 38; a.A. Grei­ner, NZA 2015, S. 769 <774 f.>; Schlie­mann, NZA 2015, S. 1298), spricht, dass der Ge­setz­ge­ber mit dem Ta­rif­ein­heits­ge­setz in ers­ter Li­nie auf ei­ne Selbst­steue­rung der Ge­werk­schaf­ten zielt, um über die Vor­wir­kung die­ser Re­ge­lung ei­ne Kol­li­si­on mit der Fol­ge des Ta­rif­ver­lusts zu ver­mei­den. Auch ei­ne Aus­le­gung des § 4a TVG im Lich­te der grund­recht­lich geschütz­ten Ko­ali­ti­ons­frei­heit spricht für des­sen Verständ­nis als dis­po­si­ti­ve Re­ge­lung, weil dies die Spielräume der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en erhöht.
179 Al­ler­dings müssen al­le von der Kol­li­si­ons­norm po­si­tiv oder ne­ga­tiv be­trof­fe­nen Ta­rif­ver­trags­par­tei­en ver­ein­ba­ren, die Re­ge­lung des § 4a TVG aus­zu­sch­ließen. In­so­weit müssen al­so al­le in ei­nem Be­trieb kol­li­die­rend ta­ri­fie­ren­den Ge­werk­schaf­ten und der Ar­beit­ge­ber übe­r­ein­kom­men. Dies ent­spricht im Er­geb­nis der in § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG ge­trof­fe­nen Ent­schei­dung des Ge­setz­ge­bers, Ta­rifp­lu­ra­lität grundsätz­lich zu ak­zep­tie­ren. Die­se Dis­po­si­ti­vität steht im Ein­klang mit dem Ziel des Art. 9 Abs. 3 GG, die Aus­ge­stal­tung ta­rif­ver­trag­li­cher Re­ge­lun­gen so weit wie möglich den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en oh­ne staat­li­che In­ge­renz zu über­las­sen.
180 (b) Die Zu­mut­bar­keit der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lung hängt auch da­von ab, wie weit die Ver­drängungs­wir­kung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG reicht. Im Er­geb­nis ist die Ver­drängungs­wir­kung nach ih­rer ge­setz­li­chen Aus­ge­stal­tung mehr­fach be­schränkt.
181 (aa) § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG re­gelt die Ver­drängung des kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags der Min­der­heits­ge­werk­schaft, so­weit ei­ne Über­schnei­dung mit dem Ta­rif­ver­trag der Mehr­heits­ge­werk­schaft in räum­li­cher, zeit­li­cher, be­trieb­lich-fach­li­cher und persönli­cher Hin­sicht vor­liegt. So­weit der Mehr­heits­ta­rif­ver­trag in dem­sel­ben Be­trieb für die glei­che Be­rufs­grup­pe Re­ge­lun­gen des Ar­beits­verhält­nis­ses enthält, die mit nicht in­halts­glei­chen Re­ge­lun­gen des Min­der­heits­ta­rif­ver­trags kol­li­die­ren, wird der Min­der­heits­ta­rif­ver­trag grundsätz­lich ins­ge­samt, al­so nicht be­schränkt auf den Kol­li­si­ons­be­reich, ver­drängt. Denn die An­wen­dung der Kol­li­si­ons­re­gel setzt nicht vor­aus, dass sich die Re­ge­lungs­ge­genstände der sich persönlich über­schnei­den­den Ta­rif­verträge völlig de­cken (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 13; BT­Drucks 18/4156, S. 10). Das zeigt schon der Ver­gleich mit § 4a Abs. 3 TVG, der ei­ne in­halt­li­che Über­schnei­dung for­dert, und mit § 4a Abs. 4 Satz 2 TVG, der ei­ne Über­schnei­dung von Gel­tungs­be­rei­chen und Rechts­nor­men vor­aus­setzt, wo­hin­ge­gen in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nur von der Über­schnei­dung im „Gel­tungs­be­reich“ die Re­de ist. Die in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ge­re­gel­te Ver­drängung er­fasst dann nur die Rechts­nor­men des Min­der­heits­ta­rif­ver­trags, al­so In­halts-, Be­triebs- und be­triebs­ver­fas­sungs­recht­li­che Nor­men vor­be­halt­lich der Son­der­re­ge­lung in § 4a Abs. 3 TVG, nicht aber schuld­recht­li­che Ver­ein­ba­run­gen. An die Frie­dens­pflicht des ver­dräng­ten Ta­rif­ver­trags sind die Mit­glie­der der Min­der­heits­ge­werk­schaft al­so wei­ter­hin ge­bun­den.
182 So­weit hin­ge­gen kei­ne Über­schnei­dung im persönli­chen Gel­tungs­be­reich zwei­er Ta­rif­verträge vor­liegt, be­steht kei­ne Ta­rif­kol­li­si­on; es gel­ten dann bei­de Ta­rif­verträge je­weils für die Per­so­nen, für die nur sie Re­ge­lun­gen ge­trof­fen ha­ben. Da­mit blei­ben ins­be­son­de­re be­rufs­grup­pen­spe­zi­fi­sche Ta­rif­leis­tun­gen er­hal­ten, wenn ei­ne Bran­chen­ge­werk­schaft im Be­trieb für an­de­re und even­tu­ell auch größere Tei­le der Be­leg­schaft ta­ri­fiert, aber eben nicht für die­je­ni­gen, die in der in die­sem Be­trieb we­ni­ger stark ver­tre­te­nen, aber nicht über­schnei­dend ta­ri­fie­ren­den Ge­werk­schaft or­ga­ni­siert sind.
183 Nach § 4a Abs. 3 TVG gilt die Ver­drängung für be­stimm­te be­triebs­ver­fas­sungs­recht­li­che Nor­men auch nur, so­weit ei­ne in­halt­li­che Über­schnei­dung vor­liegt; da­mit will der Ge­setz­ge­ber die Kon­ti­nuität ta­rif­ver­trag­lich ge­schaf­fe­ner be­triebs­ver­fas­sungs­recht­li­cher Ver­tre­tungs­struk­tu­ren si­chern (BT­Drucks 18/4062, S. 14).
184 An ei­ner Ta­rif­kol­li­si­on fehlt es zu­dem von vorn­her­ein, wenn auf ei­nen an­de­ren Ta­rif­ver­trag le­dig­lich ar­beits­ver­trag­lich Be­zug ge­nom­men wird, denn dann er­gibt sich die Bin­dung aus dem Ver­trag und nicht aus § 3 TVG; es kommt nicht zur Ver­drängung.
185 In an­de­ren Be­trie­ben bleibt nach dem be­triebs­be­zo­ge­nen Kon­zept des Ge­setz­ge­bers ein in ei­nem Be­trieb ver­dräng­ter Ta­rif­ver­trag an­wend­bar.
186 (bb) Darüber hin­aus sind die Ar­beits­ge­rich­te, um die Zu­mut­bar­keit der mit dem Ta­rif­ein­heits­ge­setz ein­her­ge­hen­den Be­ein­träch­ti­gun­gen der Rech­te aus Art. 9 Abs. 3 GG zu wah­ren, ge­hal­ten, die sich im Gel­tungs­be­reich in ei­nem Be­trieb über­schnei­den­den Ta­rif­verträge im Kol­li­si­ons­fall mit dem Ziel der größtmögli­chen Scho­nung der durch ei­ne Ver­drängung be­ein­träch­tig­ten Grund­rechts­po­si­tio­nen aus­zu­le­gen. Re­ge­lun­gen wer­den ins­be­son­de­re dann nicht ver­drängt, wenn und so­weit es dem Wil­len der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en des Mehr­heits­ta­rif­ver­trags ent­spricht, ei­ne ent­spre­chen­de Ergänzung ih­rer Re­ge­lun­gen durch Ta­rif­verträge kon­kur­rie­ren­der Ge­werk­schaf­ten zu­zu­las­sen (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 13). Die­ser Wil­le kann aus­drück­lich do­ku­men­tiert sein, aber auch im­pli­zit zum Aus­druck kom­men. Be­steht al­so Grund zu der An­nah­me, dass Re­ge­lun­gen kol­li­die­ren­der Ta­rif­verträge ne­ben­ein­an­der be­ste­hen sol­len oder bei ob­jek­ti­vie­ren­der Sicht nicht in den Ge­samt­kom­pro­miss der aus­ge­han­del­ten Leis­tun­gen ein­ge­stellt wur­den, fin­det die Ver­drängung dort aus ver­fas­sungs­recht­li­chen Gründen zum Schutz ei­nes ge­schlos­se­nen Ta­rif­ver­trags nicht statt. So muss die Ver­drängungs­wir­kung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG aus ver­fas­sungs­recht­li­chen Gründen auf das be­schränkt wer­den, was auch ob­jek­tiv als an­ders ver­ein­bart an­zu­se­hen ist. Ei­ne Ver­drängung fin­det al­so ih­re Gren­ze, so­weit sub­jek­tiv aus Sicht der Mehr­heits­ge­werk­schaft oder aus ei­ner ob­jek­ti­vier­ten Per­spek­ti­ve ne­ben dem an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trag wei­te­re in­halt­li­che Re­ge­lun­gen an­wend­bar blei­ben sol­len. Das ist der Fall, wenn Ta­rif­leis­tun­gen nicht er­kenn­bar un­ter­ein­an­der ver­knüpft sind, weil sie zu ganz ver­schie­de­nen Re­ge­lungs­kom­ple­xen gehören (vgl. zu ge­schlos­se­nen Re­ge­lungs­sys­te­men für be­stimm­te Per­so­nen­krei­se BAG, Ur­teil vom 6. Mai 2009 - 10 AZR 390/08 -, ju­ris, Rn. 29 ff.).
187 (c) Mit dem durch Art. 9 Abs. 3 GG gewähr­leis­te­ten Be­stands­schutz für ta­rif­ver­trag­lich ga­ran­tier­te Leis­tun­gen un­ver­ein­bar wäre - auch un­be­scha­det ei­nes un­ter Umständen aus Art. 14 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 GG re­sul­tie­ren­den Schut­zes - der Ver­lust lang­fris­tig an­ge­leg­ter, die Le­bens­pla­nung der Beschäftig­ten berühren­der Ansprüche aus dem Min­der­heits­ta­rif­ver­trag durch des­sen Ver­drängung, oh­ne die Möglich­keit ver­gleich­ba­re Leis­tun­gen im nach­zeich­nungsfähi­gen Mehr­heits­ta­rif­ver­trag zu er­hal­ten. Das be­trifft länger­fris­tig be­deut­sa­me Leis­tun­gen, auf die sich Beschäftig­te in ih­rer Le­bens­pla­nung ty­pi­scher­wei­se ein­stel­len und auf de­ren Be­stand sie be­rech­tig­ter­wei­se ver­trau­en. Der er­satz­lo­se Ver­lust oder die sub­stan­ti­el­le Ent­wer­tung in­so­weit be­reits er­wor­be­ner Ansprüche oder An­wart­schaf­ten in­fol­ge ei­ner Ver­drängung des zu­grun­de lie­gen­den Ta­rif­ver­trags würde un­verhält­nismäßig je­den­falls in die grund­recht­lich geschütz­te Teil­ha­be am Ta­rif­er­geb­nis ein­grei­fen. So läge ei­ne un­zu­mut­ba­re Härte zum Bei­spiel vor, wenn ei­ne ta­rif­ver­trag­lich ver­ein­bar­te, lang­fris­tig an­ge­leg­te Leis­tung zur Al­ters­si­che­rung, zur Ar­beits­platz­ga­ran­tie oder zur Le­bens­ar­beits­zeit, so­weit sie be­reits er­wor­ben ist, durch ei­nen ver­drängen­den Ta­rif­ver­trag ver­lo­ren gin­ge oder sub­stan­ti­ell ent­wer­tet würde, der dafür über­haupt kei­ne Re­ge­lung trifft. Des­glei­chen wäre es et­wa un­zu­mut­bar, wenn auf­grund ei­ner Kol­li­si­on nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG Beschäftig­te da­zu ge­zwun­gen wären, ei­ne un­mit­tel­bar be­vor­ste­hen­de oder be­reits be­gon­ne­ne be­ruf­li­che Bil­dungs­maßnah­me nicht wahr­neh­men zu können oder ab­bre­chen zu müssen.
188 Der Ge­setz­ge­ber hat in § 4a TVG kei­ne Vor­keh­run­gen ge­trof­fen, die si­cher­stel­len, dass sol­che un­zu­mut­ba­ren Härten ver­mie­den wer­den. Die Ge­rich­te müssen von Ver­fas­sungs we­gen bei der An­wen­dung des für die wei­te­re Gewährung sol­cher länger­fris­tig an­ge­leg­ter Leis­tun­gen maßgeb­li­chen Rechts si­cher­stel­len, dass es zu die­sen Härten nicht kommt. Soll­te dies nach gel­ten­dem Recht nicht möglich sein, wären die ent­ge­gen­ste­hen­den Re­ge­lun­gen dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Kon­trol­le ih­rer Ver­fas­sungsmäßig­keit vor­zu­le­gen. Nöti­gen­falls ist der Ge­setz­ge­ber ge­hal­ten, die Zu­mut­bar­keit der Ver­drängung sol­cher Leis­tun­gen zu si­chern.
189 (d) Die be­ein­träch­ti­gen­de Wir­kung der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen wird wei­ter da­durch be­schränkt, dass § 4a Abs. 2 TVG in der Wei­se aus­zu­le­gen ist, dass ei­ne Ver­drängung nur so­lan­ge an­dau­ert, wie der ver­drängen­de Ta­rif­ver­trag läuft und kein wei­te­rer Ta­rif­ver­trag eben­falls ei­ne Ver­drängung be­wirkt. Der ver­dräng­te Ta­rif­ver­trag lebt folg­lich für die Zu­kunft wie­der auf, wenn die Lauf­zeit des ver­drängen­den Ta­rif­ver­trags en­det (vgl. so auch Tre­ber, in: Schaub, Ar­bRHdb, 16. Aufl. 2015, § 203 Rn. 58; Berg, in: Berg/Ko­cher/Schu­mann, TVG und Ar­beits­kampf­recht, 5. Aufl. 2015, § 4a Rn. 46; Fran­zen, in: ErfK, 17. Aufl. 2017, § 4a Rn. 7 f.). Ob und wie­weit - wie in der münd­li­chen Ver­hand­lung vor­ge­tra­gen - ein Wie­der­auf­le­ben zur Ver­mei­dung ei­nes ab­seh­bar kurz­fris­ti­gen Sprin­gens zwi­schen ver­schie­de­nen Ta­rif­wer­ken für ei­ne be­grenz­te Zeit auch im Rah­men der Nach­wir­kung des Mehr­heits­ta­rif­ver­trags aus­zu­sch­ließen ist, ob­liegt der Be­ur­tei­lung der Fach­ge­rich­te.
190 (e) Die Nach­zeich­nungs­op­ti­on in Be­zug auf den Mehr­heits­ta­rif­ver­trag aus § 4a Abs. 4 TVG mil­dert die Be­las­tungs­wir­kun­gen der Ver­drängungs­re­ge­lung für die Be­trof­fe­nen. Die Re­ge­lung be­darf, um die Zu­mut­bar­keit der Ver­drängungs­wir­kung zu si­chern, von Ver­fas­sungs we­gen ei­ner wei­ten Aus­le­gung.
191 Der Nach­zeich­nungs­an­spruch kann nach Maßga­be des § 4a Abs. 4 TVG nur gel­tend ge­macht wer­den, wenn zwei kol­li­die­ren­de Ta­rif­verträge tatsächlich ab­ge­schlos­sen wor­den sind. Er ist je­doch nicht da­von abhängig, dass der Ta­rif­ver­trag der nach­zeich­nen­den Ge­werk­schaft tatsächlich ver­drängt wird, sie al­so im Be­trieb tatsächlich ei­ne Min­der­heit der Beschäftig­ten or­ga­ni­siert. Aus Gründen der Prak­ti­ka­bi­lität genügt viel­mehr, dass ei­ne Ge­werk­schaft po­ten­ti­ell ei­nen Nach­teil er­lei­den könn­te (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 14), oh­ne dass im Zeit­punkt der Nach­zeich­nung die Mehr­heits­verhält­nis­se im Be­trieb be­reits ab­sch­ließend geklärt sein müss­ten (vgl. Gie­sen, in: Be­ckOK ArbR, 43. Ed., § 4a TVG Rn. 23).
192 In­halt und Um­fang des Nach­zeich­nungs­an­spruchs er­ge­ben sich aus § 4a Abs. 4 Satz 2 TVG. Die Re­ge­lung sieht ei­ne Nach­zeich­nung des an­ge­streb­ten Ta­rif­ver­trags vor, so­weit sich die Gel­tungs­be­rei­che und Rechts­nor­men der Ta­rif­verträge über­schnei­den. Dies darf nicht da­hin ver­stan­den wer­den, dass ei­ne Nach­zeich­nung sich nur auf sol­che Ge­genstände er­stre­cken kann, für die in dem ver­dräng­ten Ta­rif­ver­trag aus­drück­lich Re­ge­lun­gen ge­trof­fen wur­den. Bei die­sem Verständ­nis wäre das Nach­zeich­nungs­recht ei­ner Ge­werk­schaft nur auf den tatsächli­chen Über­schnei­dungs­be­reich der Ta­rif­verträge be­schränkt, während die Ver­drängung im Kol­li­si­ons­fall nach § 4a Abs. 2 TVG grundsätz­lich um­fas­send auch jen­seits des sach­li­chen Über­schnei­dungs­be­reichs gel­ten würde.
193 Ei­ne sol­che Aus­le­gung ist mit Art. 9 Abs. 3 GG nicht ver­ein­bar. Der An­spruch auf ei­ne der­art asym­me­tri­sche Teil­nach­zeich­nung kann den Ver­lust der ver­fas­sungs­recht­lich ge­si­cher­ten Rechts­po­si­tio­nen der­je­ni­gen Ge­werk­schaft, de­ren Ta­rif­ver­trag ver­drängt wird, nicht kom­pen­sie­ren. Die Ein­engung des Nach­zeich­nungs­rechts auf den tatsächli­chen Über­schnei­dungs­be­reich hätte zur Fol­ge, dass die von der Ver­drängung be­droh­te oder be­trof­fe­ne Ge­werk­schaft und ih­re Mit­glie­der jen­seits des Über­schnei­dungs­be­reichs er­satz­los verlöre, was sie selbst in ih­rem Ta­rif­ver­trag er­reicht ha­ben, die an­de­re Ge­werk­schaft je­doch - be­ab­sich­tigt oder un­be­ab­sich­tigt - nicht in ih­ren Ta­rif­ver­trag ein­be­zo­gen hat. Es bestünde kein An­spruch auf Leis­tun­gen, die im Ge­samt­pa­ket der ta­rif­li­chen Ver­ein­ba­rung der an­de­ren Ge­werk­schaft ent­hal­ten, im Ver­trag der nach­zeich­nen­den Ge­werk­schaft aber nicht ge­re­gelt sind.
194 Tragfähi­ge Gründe für die Ein­schränkung der Nach­zeich­nung auf den tatsächli­chen Über­schnei­dungs­be­reich sind we­der im Ge­setz­ge­bungs­ver­fah­ren noch im Rah­men der Ver­fas­sungs­be­schwer­den vor­ge­bracht wor­den und auch sonst nicht er­kenn­bar. Viel­mehr ist § 4a Abs. 4 Satz 2 TVG zum Schutz der Rech­te aus Art. 9 Abs. 3 GG ver­fas­sungs­kon­form da­hin aus­zu­le­gen, dass die Ge­werk­schaft, de­ren Ta­rif­ver­trag im Be­trieb auf­grund ei­ner Kol­li­si­on nicht an­wend­bar ist oder sein wird, ei­nen An­spruch auf Nach­zeich­nung des ver­drängen­den Ta­rif­ver­trags in sei­ner Ge­samt­heit hat. So kor­re­spon­diert das Nach­zeich­nungs­recht zu­min­dest mit der Reich­wei­te der Ver­drängung, kann aber auch über die In­hal­te des ei­ge­nen Ta­rif­ver­trags hin­aus­ge­hen. Der Ver­lust des selbst aus­ge­han­del­ten Ge­samt­pa­ke­tes wird ge­ra­de durch die Op­ti­on in Gren­zen ge­hal­ten, sich in der Sa­che dem ge­sam­ten an­de­ren Ta­rif­ver­trag an­zu­sch­ließen (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 9; zum An­schluss­ta­rif­ver­trag BAG, Be­schluss vom 28. März 2006 - 1 ABR 58/04 -, ju­ris, Rn. 72 f.).
195 (f) Die Be­ein­träch­ti­gung des Grund­rechts aus Art. 9 Abs. 3 GG durch die Ver­drängung ab­ge­schlos­se­ner Ta­rif­verträge wird durch Ver­fah­rens- und Be­tei­li­gungs­rech­te ge­min­dert, die der be­trof­fe­nen Ge­werk­schaft in § 4a Abs. 5 TVG ein­geräumt sind. So ist der Ar­beit­ge­ber nach § 4a Abs. 5 Satz 1 TVG ver­pflich­tet, die Auf­nah­me von Ta­rif­ver­hand­lun­gen recht­zei­tig und in ge­eig­ne­ter Wei­se im Be­trieb be­kannt zu ge­ben; zu­dem hat die nicht selbst ver­han­deln­de, aber nach ih­rer Sat­zung auch ta­rif­zuständi­ge Ge­werk­schaft nach § 4a Abs. 5 Satz 2 TVG ei­nen An­spruch dar­auf, dem Ar­beit­ge­ber ih­re Vor­stel­lun­gen münd­lich vor­zu­tra­gen. Die­ses Vor­trags­recht ist selbständig ein­klag­bar (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 15).
196 Die Be­kannt­ga­be­pflicht und das der be­trof­fe­nen Ge­werk­schaft ein­geräum­te Vor­trags­recht bei den Ta­rif­ver­hand­lun­gen mit ei­ner an­de­ren Ge­werk­schaft die­nen ih­rer Be­tei­li­gung und si­chern so ver­fah­rens­recht­lich ih­re Rech­te aus Art. 9 Abs. 3 GG, die durch die mögli­che Ver­drängung nach § 4a Abs. 2 TVG be­droht sind. Zu­dem ge­ben sie im Vor­feld von Ta­rif­ver­hand­lun­gen Ge­le­gen­heit, Ta­rif­for­de­run­gen auf­ein­an­der ab­zu­stim­men und da­mit Ta­rif­kol­li­sio­nen au­to­nom zu ver­mei­den (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 15). Die­se Ver­fah­rens­po­si­tio­nen dürfen nicht le­dig­lich als bloße For­ma­litäten oder schlich­te Ob­lie­gen­hei­ten be­han­delt wer­den. Bei­de sind viel­mehr als ech­te Rechts­pflich­ten zu ver­ste­hen. Weil die­se Ver­fah­ren hier zum Schutz der Grund­rech­te bei­tra­gen und weil die vom Ge­setz­ge­ber an­ge­streb­te Ko­or­di­na­ti­on und Kol­li­si­ons­ver­mei­dung durch die Ge­werk­schaf­ten nur dann sinn­voll er­fol­gen kann, wenn an­de­re ta­rif­zuständi­ge Ge­werk­schaf­ten tatsächlich im Vor­feld be­tei­ligt wer­den, darf ei­ne Ver­let­zung der Ver­fah­rens­rech­te, die in die­sem Zu­sam­men­hang ver­fas­sungs­recht­li­che Be­deu­tung er­lan­gen, nicht sank­ti­ons­los blei­ben. Nur so lässt sich ih­re hier ver­fas­sungs­recht­lich ge­bo­te­ne Wirk­sam­keit si­chern. Die an­ge­grif­fe­nen Be­stim­mun­gen des § 4a Abs. 5 TVG sind des­halb so aus­zu­le­gen und an­zu­wen­den, dass der Tat­be­stand ei­ner nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ver­drängen­den Ta­rif­kol­li­si­on nur erfüllt ist, wenn die Pflich­ten zur Be­kannt­ga­be von Ta­rif­ver­hand­lun­gen und zur Anhörung nicht ver­letzt wor­den sind. So­weit es in der Be­gründung des Ge­setz­ent­wurfs heißt, die An­wen­dung des Grund­sat­zes der Ta­rif­ein­heit ste­he nicht un­ter dem Vor­be­halt der Anhörung (BT­Drucks 18/4062, S. 15), darf dar­aus kein ge­gen­tei­li­ger Schluss ge­zo­gen wer­den. Wel­che An­for­de­run­gen an ei­ne wirk­sa­me Anhörung und Be­kannt­ga­be nach § 4a Abs. 5 TVG zu stel­len sind, ist von den Fach­ge­rich­ten zu kon­kre­ti­sie­ren.
197 (g) Die Be­las­tun­gen, die mit dem Be­schluss­ver­fah­ren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG durch ei­ne et­wai­ge Of­fen­le­gung der Mit­glie­derstärke für die Ge­werk­schaf­ten ein­her­ge­hen können, sind im Er­geb­nis zu­mut­bar.
198 Die ge­richt­li­che Fest­stel­lung der Mehr­heits­verhält­nis­se im Be­schluss­ver­fah­ren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG birgt die Ge­fahr, dass die Mit­glie­derstärke der Ge­werk­schaf­ten im Be­trieb ge­genüber dem Ar­beit­ge­ber of­fen ge­legt wird. Dies ist mit Rück­sicht auf die in Art. 9 Abs. 3 GG geschütz­te Pa­rität zwi­schen Ge­werk­schaf­ten und Ar­beit­ge­ber (oben C III 1 a und C III 3 a cc Rn. 131 und 146 f.) nach Möglich­keit zu ver­mei­den. Denn die Un­ge­wiss­heit über die für die tatsächli­che Durch­set­zungs­kraft der Ge­werk­schaft we­sent­li­che Mit­glie­derstärke (vgl. BVerfGE 93, 352 <358>) in ei­ner kon­kre­ten Ver­hand­lungs­si­tua­ti­on ist von be­son­de­rer Be­deu­tung dafür, des­sen Ver­hand­lungs­be­reit­schaft zu fördern und zu ei­nem an­ge­mes­se­nen In­ter­es­sen­aus­gleich zu ge­lan­gen (vgl. BAG, Ur­teil vom 18. No­vem­ber 2014 - 1 AZR 257/13 -, ju­ris, Rn. 30).
199 Die Fach­ge­rich­te ha­ben dem Rech­nung zu tra­gen. Sie müssen un­ter Nut­zung der pro­zess­recht­li­chen Möglich­kei­ten ei­ne Of­fen­le­gung der Mit­glie­der­zah­len so­weit möglich ver­mei­den. Mit dem in das Ar­beits­ge­richts­ge­setz ein­gefügten § 58 Abs. 3 ArbGG eröff­net der Ge­setz­ge­ber je­den­falls die Möglich­keit, die na­ment­li­che Nen­nung der Ge­werk­schafts­mit­glie­der im Be­schluss­ver­fah­ren zu ver­hin­dern (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 16). No­ta­ri­ell kann auch be­schei­nigt wer­den, wer die Mehr­heit im Be­trieb or­ga­ni­siert, um so die Of­fen­le­gung der kon­kre­ten Kampfstärke ei­ner Ge­werk­schaft zu ver­hin­dern. Hier­auf ist im Be­schluss­ver­fah­ren hin­zu­wir­ken. Wenn dies nicht in al­len Fällen ge­lingt, ist das mit Blick auf das hier vom Ge­setz­ge­ber ver­folg­te Ziel ins­ge­samt zu­mut­bar.
200 (4) Die mit der Ver­drängungs­wir­kung des kol­li­die­ren­den Mehr­heits­ta­rif­ver­trags nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ver­bun­de­nen Be­ein­träch­ti­gun­gen sind trotz des ho­hen Ge­wichts der mit dem Ta­rif­ein­heits­ge­setz ver­folg­ten Zie­le und auch un­ter Berück­sich­ti­gung der ver­fas­sungs­recht­lich ge­for­der­ten Aus­le­gungs- und Hand­ha­bungs­maßga­ben in­so­weit un­verhält­nismäßig, als die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen kei­ne Schutz­vor­keh­run­gen ge­gen ei­ne ein­sei­ti­ge Ver­nachlässi­gung der An­gehöri­gen ein­zel­ner Be­rufs­grup­pen oder Bran­chen durch die je­wei­li­ge Mehr­heits­ge­werk­schaft vor­se­hen.
201 (a) Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer, die in klei­nen Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten or­ga­ni­siert sind, tra­gen auf­grund des Ge­set­zes - wenn auch nicht als ein­zi­ge - das Ri­si­ko, dass der von ih­rer Ge­werk­schaft ver­han­del­te Ta­rif­ver­trag nicht zur An­wen­dung kommt. Die­se Be­las­tung wird im Grund­satz da­durch ge­mil­dert, dass die Ge­werk­schaft den Mehr­heits­ta­rif­ver­trag nach­zeich­nen kann, aus dem sich dann auch für die in der Min­der­heits­ge­werk­schaft or­ga­ni­sier­ten Beschäftig­ten ta­rif­li­che Ar­beits­be­din­gun­gen er­ge­ben. Es feh­len je­doch struk­tu­rel­le Vor­keh­run­gen, die si­chern, dass die In­ter­es­sen die­ser Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer hin­rei­chend Berück­sich­ti­gung fin­den. Oh­ne sol­che Si­che­run­gen ist nicht aus­zu­sch­ließen, dass der im Be­trieb an­wend­ba­re Mehr­heits­ta­rif­ver­trag auch im Fall der Nach­zeich­nung die Ar­beits­be­din­gun­gen und In­ter­es­sen der An­gehöri­gen ein­zel­ner Be­rufs­grup­pen oder Bran­chen, de­ren Ta­rif­ver­trag ver­drängt wird, man­gels wirk­sa­mer Ver­tre­tung die­ser Grup­pe in der Mehr­heits­ge­werk­schaft in un­zu­mut­ba­rer Wei­se über­geht.
202 (aa) Der grund­recht­lich in Art. 9 Abs. 3 GG ga­ran­tier­ten Ko­ali­ti­ons­frei­heit und der Ta­rif­au­to­no­mie liegt die An­nah­me zu­grun­de, dass ge­rech­te Ar­beits­be­din­gun­gen und Löhne grundsätz­lich nicht vom Staat vor­ge­ge­ben wer­den können, son­dern der Aus­hand­lung durch die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en ob­lie­gen. Die­ses Sys­tem geht von ei­ner Rich­tig­keits­ver­mu­tung frei aus­ge­han­del­ter Ta­rif­verträge aus, so­fern im Grund­satz die Pa­rität der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en gewähr­leis­tet ist (oben C III 3 a cc und dd Rn. 145 f. und 148).
203 Die vor­lie­gend an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen die­nen dem Funk­tio­nie­ren die­ses Sys­tems, denn sie zie­len auf die Si­che­rung der struk­tu­rel­len Vor­aus­set­zun­gen von Ta­rif­ver­hand­lun­gen im Verhält­nis der Ge­werk­schaf­ten un­ter­ein­an­der. Sie sol­len ver­hin­dern, dass durch die iso­lier­te Aus­nut­zung ei­ner Schlüssel­po­si­ti­on ei­ne fai­re Aus­hand­lung von Ar­beits- und Wirt­schafts­be­din­gun­gen nicht mehr gewähr­leis­tet ist. Die Rich­tig­keits­ver­mu­tung frei aus­ge­han­del­ter oder erkämpf­ter Ta­rif­verträge setzt auch vor­aus, dass auf Sei­ten der Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer grundsätz­lich al­le Be­rufs­grup­pen die Chan­ce ha­ben, ih­re In­ter­es­sen wirk­sam zu ver­tre­ten. Die Ver­drängung ei­nes Ta­rif­ver­trags nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG führt je­doch da­zu, dass in ei­nem Be­trieb für ei­ne Be­rufs­grup­pe nur der von der Mehr­heits­ge­werk­schaft aus­ge­han­del­te Ta­rif­ver­trag Gel­tung behält. Da­her be­darf es Vor­keh­run­gen, die struk­tu­rell dar­auf hin­wir­ken, dass die In­ter­es­sen der von der Ver­drängung be­trof­fe­nen Be­rufs­grup­pe im Ta­rif­ver­trag der Mehr­heits­ge­werk­schaft wirk­sam berück­sich­tigt wer­den. Nur dann kann hier die die­sem Ta­rif­ver­trag in­ne­woh­nen­de Rich­tig­keits­ver­mu­tung im Rah­men des Nach­zeich­nungs­rechts zur Gel­tung kom­men.
204 (bb) An sol­chen Re­ge­lun­gen fehlt es. Der Ge­setz­ge­ber hat kei­ne Vor­keh­run­gen ge­trof­fen, die klei­ne­re Be­rufs­grup­pen in ei­nem Be­trieb da­vor schützen, der An­wen­dung ei­nes Ta­rif­ver­trags aus­ge­setzt zu wer­den, der un­ter Be­din­gun­gen aus­ge­han­delt wur­de, in de­nen ih­re In­ter­es­sen struk­tu­rell nicht zur Gel­tung kom­men konn­ten. So kann sich nach § 4a Abs. 2 TVG et­wa auch der Ta­rif­ver­trag ei­ner Bran­chen­ge­werk­schaft durch­set­zen, in der die Be­rufs­grup­pe, de­ren Ta­rif­ver­trag im Be­trieb ver­drängt wird, nur mar­gi­nal oder über­haupt nicht ver­tre­ten ist. Dass auch für die­se Ar­beit­neh­mer­grup­pe ein im Sin­ne der ta­rif­ver­trag­li­chen Rich­tig­keits­ver­mu­tung an­ge­mes­se­nes Ge­samt­er­geb­nis aus­ge­han­delt wäre, kann dann nicht mehr oh­ne Wei­te­res an­ge­nom­men wer­den. Das Ziel des Ge­setz­ge­bers, ei­nen fai­ren Aus­gleich zu fördern, wird nicht er­reicht, wenn ein­zel­ne Be­rufs­grup­pen über­g­an­gen würden. Ei­ne Ver­drängung des Ta­rif­ver­trags, den die­se ab­ge­schlos­sen ha­ben, wäre dann man­gels hin­rei­chen­der Aus­gleichsmöglich­keit bei der Nach­zeich­nung mit dem Schutz der Ko­ali­ti­ons­frei­heit aus Art. 9 Abs. 3 GG nicht ver­ein­bar.
205 (b) Der Ge­setz­ge­ber ist ge­hal­ten, hier Ab­hil­fe zu schaf­fen. Er hat hier­bei ei­nen wei­ten Ge­stal­tungs­spiel­raum für un­ter­schied­li­che Lösungsmöglich­kei­ten.
206 4. Aus den in der Aus­le­gung des Grund­ge­set­zes zu berück­sich­ti­gen­den völker­recht­li­chen Nor­men (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 82, 106 <120>; 111, 307 <316 f.>; 120, 180 <200 f.>; 128, 326 <366 ff.>; 137, 273 <320 ff. Rn. 127 ff.>; 138, 296 <355 ff. Rn. 148 ff.>; stRspr) er­ge­ben sich ent­ge­gen des Vor­brin­gens der Ver­fas­sungs­be­schwer­den kei­ne wei­ter­ge­hen­den An­for­de­run­gen an die Ver­fas­sungsmäßig­keit der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen. Das gilt mit Blick auf die Ga­ran­tie der Ko­ali­ti­ons­frei­heit in den für Deutsch­land ver­bind­li­chen Art. 22 des In­ter­na­tio­na­len Pakts über bürger­li­che und po­li­ti­sche Rech­te (IPb­pR) und Art. 8 Abs. 1a des In­ter­na­tio­na­len Pakts über wirt­schaft­li­che, so­zia­le und kul­tu­rel­le Rech­te (IPw­skR; wie Art. 23 der All­ge­mei­nen Erklärung der Men­schen­rech­te - AEMR) und für die Übe­r­ein­kom­men der In­ter­na­tio­na­len Ar­beits­or­ga­ni­sa­ti­on (IAO), wie auch für die Eu­ropäische Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on und ih­re Zu­satz­pro­to­kol­le und die Eu­ropäische So­zi­al­char­ta. Der dar­aus er­wach­sen­de Schutz reicht über das nach Art. 9 Abs. 3 GG Ga­ran­tier­te nicht hin­aus.
207 a) Ins­be­son­de­re ga­ran­tiert Art. 11 Abs. 1 Halb­satz 2 EM­RK wie Art. 9 Abs. 3 GG das Recht, zum Schutz der In­ter­es­sen Ge­werk­schaf­ten zu gründen und ih­nen bei­zu­tre­ten. Das um­fasst die in­di­vi­du­el­le und die kol­lek­ti­ve Ko­ali­ti­ons­frei­heit auch ei­ner Ge­werk­schaft und ver­bie­tet die Vor­ga­be ge­werk­schaft­li­cher Mo­no­po­le (vgl. EGMR (GK), Søren­sen and Ras­mus­sen v. Den­mark, Ent­schei­dung vom 11. Ja­nu­ar 2006, Nr. 52562/99 und 52620/99, §§ 64 ff.). Die Kon­ven­ti­ons­staa­ten ha­ben die Pflicht, Ge­werk­schaf­ten das Ein­tre­ten für die In­ter­es­sen ih­rer Mit­glie­der zu ermögli­chen (vgl. EGMR, Matel­ly v. Fran­ce, Ent­schei­dung vom 2. Ok­to­ber 2014, Nr. 10609/10, § 55); grund­le­gen­des Ele­ment der Ko­ali­ti­ons­frei­heit ist auch nach der EM­RK das Recht, Ta­rif­ver­hand­lun­gen zu führen (vgl. EGMR (GK), De­mir and Bay­ka­ra v. Tur­key, Ent­schei­dung vom 12. No­vem­ber 2008, Nr. 34503/97, §§ 147 ff., 154) und das Recht, dass ein ge­schlos­se­ner Kol­lek­tiv­ver­trag auch zur An­wen­dung kommt (a.a.O., § 157).
208 Wer­den die­se Rech­te wie hier be­ein­träch­tigt, muss das ge­setz­lich vor­ge­se­hen sein, ei­nen in Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EM­RK ge­nann­ten Zweck ver­fol­gen und als in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ord­nung not­wen­dig er­schei­nen. Die Ko­ali­ti­ons­frei­heit der EM­RK gilt als so­zia­les Recht, wes­halb dem Ge­setz­ge­ber ein Be­ur­tei­lungs­spiel­raum zu­er­kannt wird (vgl. EGMR, Stan­kov and the United Mace­do­ni­an Or­ga­ni­sa­ti­on Ilin­den v. Bul­ga­ria, Ent­schei­dung vom 2. Ok­to­ber 2001, Nr. 29221/95 und 29225/95, § 87; (GK), De­mir and Bay­ka­ra v. Tur­key, Ent­schei­dung vom 12. No­vem­ber 2008, Nr. 34503/97, § 119). Es be­steht kein An­spruch ei­ner Ge­werk­schaft auf spe­zi­el­le Maßnah­men (vgl. EGMR (GK), Sin­di­ca­tul „Păsto­rul cel Bun“ v. Ro­ma­nia, Ent­schei­dung vom 9. Ju­li 2013, Nr. 2330/09, § 134). Viel­mehr hat der EGMR ei­ne schwe­di­sche Re­ge­lung ak­zep­tiert, wo­nach der Ar­beit­ge­ber Ta­rif­ver­hand­lun­gen nur mit der re­präsen­ta­tivs­ten Ge­werk­schaft führen muss (vgl. EGMR, Swe­dish En­gi­ne Dri­vers´ Uni­on v. Swe­den, Ent­schei­dung vom 6. Fe­bru­ar 1976, Nr. 5614/72, §§ 46 f.). Des­glei­chen hat er ei­ne kroa­ti­sche Re­ge­lung un­be­an­stan­det ge­las­sen, die dem Ar­beit­ge­ber zur Her­stel­lung von Pa­rität die Möglich­keit gab, Ver­hand­lun­gen nur mit ei­nem Gre­mi­um zu führen, in dem al­le Ge­werk­schaf­ten ver­tre­ten sind (vgl. EGMR, Hr­vat­ski li­ječnički sin­di­kat v. Croa­tia, Ent­schei­dung vom 27. No­vem­ber 2014, Nr. 36701/09, §§ 32, 57, 59). Die­se Recht­spre­chung geht nicht über die grund­recht­li­chen An­for­de­run­gen hin­aus.
209

b) Das gilt auch für die in Deutsch­land gel­ten­den ein­schlägi­gen Übe­r­ein­kom­men der In­ter­na­tio­na­len Ar­beits­or­ga­ni­sa­ti­on (IAO). Das Übe­r­ein­kom­men Nr. 87 vom 9. Ju­li 1948 über die Ver­ei­ni­gungs­frei­heit und den Schutz des Ver­ei­ni­gungs­rechts (Ge­setz vom 20. De­zem­ber 1956, BGBl II S. 2072; vgl. auch EGMR, As­so­cia­ted So­cie­ty of Lo­co­mo­ti­ve En­gi­neers & Fire­men (AS­LEF) v. the United King­dom, Ent­schei­dung vom 27. Fe­bru­ar 2007, Nr. 11002/05, § 38; (GK), De­mir and Bay­ka­ra v. Tur­key, Ent­schei­dung vom 12. No­vem­ber 2008, Nr. 34503/97, § 70; En­er­ji Yapı-Yol Sen v. Tur­key, Ent­schei­dung vom 21. April 2009, Nr. 68959/01, § 24) und das Übe­r­ein­kom­men Nr. 98 über die An­wen­dung der Grundsätze des Ver­ei­ni­gungs­rech­tes und des Rech­tes zu Kol­lek­tiv­ver­hand­lun­gen vom 1. Ju­li 1949 (ra­ti­fi­ziert mit Ge­setz vom 23. De­zem­ber 1955, BGBl II S. 1122; zur Be­ach­tung durch die Ar­beits­ge­rich­te BVerfGE 96, 152 <170>; fer­ner BVerfGE 98, 169 <206>; 109, 64 <89>; sie­he auch BAG, Ur­teil vom 20. No­vem­ber 2012 - 1 AZR 179/11 -, ju­ris, Rn. 133; Ur­teil vom 20. No­vem­ber 2012 - 1 AZR 611/11 -, ju­ris, Rn. 76) ge­hen hier über die grund­recht­li­che Gewähr­leis­tung nicht hin­aus. Nach der Spruch­pra­xis der Über­wa­chungs­gre­mi­en der IAO dürfen die Staa­ten be­stimm­te Ge­werk­schaf­ten oder de­ren Mit­glie­der nicht be­son­ders un­terstützen oder fördern, um nicht mit­tel­bar die Ent­schei­dungs­frei­heit der Beschäftig­ten zu be­ein­flus­sen, wel­cher Ge­werk­schaft sie bei­tre­ten (CFA, Ca­se No 981 <Bel­gi­um>, Re­port No 208, Ju­ni 1981, Norm­lex, Rn. 102; Ca­se No 2139 <Ja­pan>, Re­port No 328, Ju­ni 2002, Norm­lex, Rn. 445). Un­ver­ein­bar mit dem Ab­kom­men sind auch Re­ge­lun­gen, wo­nach in ein­zel­nen Bran­chen oder Be­ru­fen nur ei­ne Ge­werk­schaft exis­tie­ren darf (CFA, Ca­se No 956 <New Ze­a­land>, Re­port No 204, No­vem­ber 1980, Norm­lex, Rn. 177; Ca­se No 266 <Por­tu­gal>, Re­port No 65, 1962, Norm­lex, Rn. 61). Als Ver­s­toß ge­gen die IAO-Nor­men wäre es auch an­zu­se­hen, wenn Ge­werk­schafts­gründun­gen un­ter Ver­weis auf das Be­ste­hen ei­ner an­de­ren Ge­werk­schaft ab­ge­lehnt würden (CFA, Ca­se No 103 <United King­dom>, Re­port No 15, 1955, Norm­lex, Rn. 212). Über Art. 9 Abs. 3 GG hin­aus­ge­hen­de An­for­de­run­gen er­ge­ben sich dar­aus nicht.

IV.

210 So­weit mit der Ver­fas­sungs­be­schwer­de zu 1 BvR 2883/15 die Ver­ein­bar­keit des Ta­rif­ein­heits­ge­set­zes mit Art. 2 Abs. 1 in Ver­bin­dung mit Art. 20 Abs. 3 GG gerügt wird, weil mit den Re­ge­lun­gen zum Be­schluss­ver­fah­ren in § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG kein für die Pro­blem­bewälti­gung adäqua­tes Ge­richts­ver­fah­ren ge­schaf­fen wur­de und ei­ne Klärung der Mehr­heits­verhält­nis­se im In­di­vi­du­al­ver­fah­ren nicht rea­lis­tisch sei, er­ge­ben sich dar­aus hier kei­ne über die Si­che­rung der Rech­te aus Art. 9 Abs. 3 GG hin­aus­rei­chen­den An­for­de­run­gen.
211

1. Die Rechts­schutz­gewährung durch die Ge­rich­te be­darf im­mer der Aus­ge­stal­tung durch ei­ne Ver­fah­rens­ord­nung, die auch Re­ge­lun­gen ent­hal­ten kann, die für ein Rechts­schutz­be­geh­ren be­son­de­re for­mel­le Vor­aus­set­zun­gen auf­stel­len und sich da­durch für die Recht­su­chen­den ein­schränkend aus­wir­ken (vgl. BVerfGE 10, 264 <267 f.>; 60, 253 <268 f.>; 77, 275 <284>). Die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen müssen mit den Be­lan­gen ei­ner rechts­staat­li­chen Ver­fah­rens­ord­nung ver­ein­bar sein, dürfen die ein­zel­nen Recht­su­chen­den nicht un­verhält­nismäßig be­las­ten (vgl. BVerfGE 10, 264 <267 f.>; 77, 275 <284>; 88, 118 <123 f.>) und müssen Rechts­schutz in­ner­halb an­ge­mes­se­ner Zeit ermögli­chen (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; 60, 253 <269>; 93, 1 <13>).

212 2. Hier dient das Be­schluss­ver­fah­ren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG der Klärung des Um­gangs mit ei­ner Ta­rif­kol­li­si­on im Be­trieb. Das Ar­beits­ge­richt wird tätig, wenn es von den Par­tei­en ei­nes Ta­rif­ver­trags an­ge­ru­fen wird. Dass die Dau­er die­ses Be­schluss­ver­fah­rens über die Lauf­zeit des in Streit ste­hen­den Ta­rif­ver­trags hin­aus­ge­hen kann, ist ver­fas­sungs­recht­lich nicht zu be­an­stan­den. Auch be­gründet es kei­ne Ver­let­zung von Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG, dass die Fest­stel­lung der Mehr­heits­verhält­nis­se pro­zess­recht­li­chen Maßga­ben un­ter­liegt und des­halb nicht in je­dem Fall die tatsächli­chen Verhält­nis­se er­mit­telt wer­den können. Die Ar­beits­ge­rich­te ha­ben in­so­weit nach den pro­zes­sua­len Grundsätzen der Dar­le­gungs- und Fest­stel­lungs­last zu ent­schei­den.
213 a) Der Ge­setz­ge­ber hat - ab­ge­se­hen von dem all­ge­mein für ar­beits­ge­richt­li­che Ver­fah­ren nach § 9 Abs. 1 ArbGG gel­ten­den Be­schleu­ni­gungs­grund­satz - kei­ne spe­zi­fisch ver­fah­rens­be­schleu­ni­gen­den Vor­schrif­ten nor­miert, wie et­wa bei der Be­set­zung der Ei­ni­gungs­stel­le nach § 100 ArbGG. Im re­gulären In­stan­zen­zug ist da­mit nicht ge­si­chert, dass bei über­schau­ba­ren Lauf­zei­ten die An­wend­bar­keit kol­li­die­ren­der Ta­rif­verträge noch während der Lauf­zeit ei­nes Ta­rif­ver­trags fest­ge­stellt wird. Doch verstößt es nicht ge­gen Ver­fas­sungs­recht, wenn die rechts­kräfti­ge Fest­stel­lung nach § 99 ArbGG erst nach Durchführung des Ver­fah­rens er­folgt. Der Ge­setz­ge­ber zielt dar­auf, im Vor­feld zu ei­ner Ko­ope­ra­ti­on zu mo­ti­vie­ren, die sol­che Kol­li­sio­nen ver­mei­det. Ge­lingt das oder ei­ni­gen sich al­le Be­tei­lig­ten auf ein Ne­ben­ein­an­der kol­li­die­ren­der Ta­rif­verträge, entfällt auch das Ver­drängungs­ri­si­ko. Fin­den sich kei­ne ein­ver­nehm­li­chen Lösun­gen, können die be­tref­fen­den Ge­werk­schaf­ten oder Ar­beit­ge­ber das Be­schluss­ver­fah­ren ein­lei­ten. Even­tu­ell zu Un­recht er­brach­te Leis­tun­gen müssen ge­ge­be­nen­falls rück­ab­ge­wi­ckelt wer­den. So­wohl die Ge­werk­schaf­ten als auch die Ar­beit­ge­ber ha­ben zu­dem selbst Ein­fluss auf die Lauf­zei­ten der Ta­rif­verträge und auch auf ein An­trags­recht im Be­schluss­ver­fah­ren, können al­so den Rechts­schutz be­ein­flus­sen.
214

b) Auch für den In­di­vi­dual­pro­zess er­ge­ben sich aus der Be­schränkung der An­trags­be­fug­nis im Be­schluss­ver­fah­ren zur Klärung ei­ner Ta­rif­kol­li­si­on kei­ne durch­grei­fen­den ver­fas­sungs­recht­li­chen Be­den­ken. Zwar können we­der die Beschäftig­ten selbst noch ein­zel­ne Ar­beit­ge­ber, so­weit die­se nicht selbst Par­tei des Ta­rif­ver­trags sind, das Be­schluss­ver­fah­ren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG zur Klärung der Ta­rif­kol­li­si­on ein­lei­ten. Ist kein sol­ches Be­schluss­ver­fah­ren anhängig, schei­det auch ei­ne Aus­set­zung des In­di­vi­du­al­ver­fah­rens aus, denn der Ge­setz­ge­ber hat sich be­wusst ge­gen ei­ne sol­che Re­ge­lung ent­schie­den (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 16; BT Aus­schuss­druck­sa­che 18 <11> 357 <neu>, S. 46, 63). Das hin­dert die Be­trof­fe­nen aber nicht, sich auf die Wir­kung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG zu be­ru­fen, die ih­nen be­kann­ten, für die An­wend­bar­keit ei­nes Ta­rif­ver­trags re­le­van­ten Umstände zu sub­stan­ti­ie­ren und ent­spre­chen­de Be­weis­anträge zu stel­len. Dass das Er­geb­nis ei­ner ge­richt­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung im Übri­gen von den fach­ge­richt­lich näher aus­zu­ta­rie­ren­den Dar­le­gungs- und Be­weis­las­ten abhängt, ist ver­fas­sungs­recht­lich nicht zu be­an­stan­den.

D.

215

Die teil­wei­se Ver­fas­sungs­wid­rig­keit des § 4a TVG führt nicht zu des­sen Nich­ti­gerklärung, son­dern nur zur Fest­stel­lung sei­ner Un­ver­ein­bar­keit mit dem Grund­ge­setz. Bis zu ei­ner Neu­re­ge­lung darf die Vor­schrift mit der Maßga­be an­ge­wen­det wer­den, dass ei­ne Ver­drängungs­wir­kung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nur in Be­tracht kommt, wenn plau­si­bel dar­ge­legt wer­den kann, dass die Mehr­heits­ge­werk­schaft die In­ter­es­sen der Be­rufs­grup­pen, de­ren Ta­rif­ver­trag ver­drängt wird, ernst­haft und wirk­sam in ih­rem Ta­rif­ver­trag berück­sich­tigt hat. Da­von ist für die Dau­er der Fort­gel­tung der Re­ge­lung in der Über­g­angs­zeit bis zu ei­ner Neu­re­ge­lung durch den Ge­setz­ge­ber ins­be­son­de­re aus­zu­ge­hen, wenn die­se Be­rufs­grup­pen in ei­nem be­stimm­ten Min­dest­maß in der Ge­werk­schaft or­ga­ni­siert sind, de­ren Ta­rif­ver­trag dann An­wen­dung fin­det, oder wenn die­sen Be­rufs­grup­pen in der Sat­zung der Ge­werk­schaft ein hin­rei­chen­der Ein­fluss auf die für sie re­le­van­ten ta­rif­po­li­ti­schen Ver­bands­ent­schei­dun­gen ein­geräumt ist. Dies näher zu be­ur­tei­len, ob­liegt den Fach­ge­rich­ten.

I.

216

Die Fest­stel­lung ei­ner Ver­fas­sungs­wid­rig­keit ge­setz­li­cher Vor­schrif­ten führt grundsätz­lich zu de­ren Nich­tig­keit. Al­ler­dings kann sich das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, wie sich aus § 31 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG so­wie § 79 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG er­gibt, auch dar­auf be­schränken, ei­ne ver­fas­sungs­wid­ri­ge Norm nur für mit der Ver­fas­sung un­ver­ein­bar zu erklären (BVerfGE 109, 190 <235>). Die Un­ver­ein­bar­keits­erklärung kann es mit der An­ord­nung ei­ner Fort­gel­tung der ver­fas­sungs­wid­ri­gen Re­ge­lung ver­bin­den.

II.

217

In­so­weit es an Vor­keh­run­gen fehlt, die ei­ne hin­rei­chen­de Berück­sich­ti­gung der Be­rufs­grup­pen struk­tu­rell si­cher­stel­len, de­ren Ta­rif­ver­trag durch die Re­ge­lung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ver­drängt wird, ist § 4a TVG da­nach für mit der Ver­fas­sung für un­ver­ein­bar zu erklären, die Un­ver­ein­bar­keits­erklärung je­doch mit der An­ord­nung ih­rer Fort­gel­tung bis zu ei­ner vom Ge­setz­ge­ber zu schaf­fen­den Nach­bes­se­rung oder Neu­re­ge­lung zu ver­bin­den. Die Gründe für die teil­wei­se Ver­fas­sungs­wid­rig­keit der an­ge­grif­fe­nen Vor­schrif­ten be­tref­fen nicht den Kern der Re­ge­lung. An­ge­sichts der großen Be­deu­tung struk­tu­rel­ler Rah­men­be­din­gun­gen für die Aus­hand­lung der Ta­rif­verträge, zu de­ren Gewähr­leis­tung der Ge­setz­ge­ber die Re­ge­lung zur Ta­rif­ein­heit als er­for­der­lich an­se­hen durf­te, und weil die ver­fas­sungs­recht­lich durch­grei­fen­den Be­den­ken durch die hier ge­trof­fe­ne An­ord­nung bis zu ei­ner Neu­re­ge­lung auf­ge­fan­gen wer­den können, ist mit Re­spekt ge­genüber dem Ge­setz­ge­ber die - um den von Ver­fas­sungs we­gen er­for­der­li­chen Be­rufs­grup­pen­schutz ergänz­te - vorüber­ge­hen­de Fort­gel­tung eher hin­zu­neh­men als de­ren Nich­ti­gerklärung.

III.

218

Der Ge­setz­ge­ber hat ei­ne Neu­re­ge­lung, die die ver­fas­sungs­recht­li­che Be­an­stan­dung be­sei­tigt, bis spätes­tens zum 31. De­zem­ber 2018 zu schaf­fen.

E.

219 Mit Blick auf die er­heb­li­che sub­jek­ti­ve und ob­jek­ti­ve Be­deu­tung der Ver­fas­sungs­be­schwer­de­ver­fah­ren (BVerfGE 79, 365 <366 ff.>) wird un­ter Berück­sich­ti­gung der in § 14 Abs. 1 RVG ge­nann­ten Umstände nach bil­li­gem Er­mes­sen (§ 37 Abs. 2 Satz 2 Halb­satz 1 RVG) ein Ge­gen­stands­wert von 500.000 Eu­ro fest­ge­setzt. Die Fra­ge der Wett­be­werbs­re­gu­lie­rung im Ge­werk­schafts­la­ger ist für die ge­sam­te Ta­rif­po­li­tik und ei­nen Großteil der Ar­beits­welt von er­heb­li­cher Be­deu­tung und wirft ein­fach- wie auch ver­fas­sungs­recht­lich neue Fra­gen auf. Der durch­aus un­ter­schied­li­che Ge­halt der Be­schwer­de­schrif­ten führt nicht zu Ab­sen­kun­gen, da der Wert für die Be­schwer­deführen­den und die All­ge­mein­heit aus­schlag­ge­bend ist (vgl. BVerfGE 79, 365 <370>).
220

Die Aus­la­gen­ent­schei­dung be­ruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

F.

221 Die Ent­schei­dung ist im Er­geb­nis und zu C III 3 b und D mit 6 : 2 Stim­men und hin­sicht­lich der Er­for­der­lich­keit ei­ner Über­g­angs­re­ge­lung mit ei­ner wei­te­ren Ge­gen­stim­me er­gan­gen.

Kirch­hof
Eich­ber­ger
Schlu­cke­bier
Ma­sing
Pau­lus
Ba­er
Britz
Ott

Ab­wei­chen­de Mei­nung des Rich­ters Pau­lus und der Rich­te­rin Ba­er zum Ur­teil des Ers­ten Se­nats vom 11. Ju­li 2017

- 1 BvR 1571/15 -

- 1 BvR 1588/15 -

- 1 BvR 2883/15 -

- 1 BvR 1043/16 -

- 1 BvR 1477/16 -

 

1 Wir können dem Ur­teil be­dau­er­li­cher­wei­se nur teil­wei­se zu­stim­men. Es un­terschätzt die tatsächli­chen Be­las­tun­gen und Ge­fah­ren, die das Ta­rif­ein­heits­ge­setz für die grund­recht­lich ga­ran­tier­te Frei­heit der Ge­werk­schaf­ten mit sich bringt, sich selbst­be­stimmt ta­rif­po­li­tisch zu en­ga­gie­ren; es überschätzt zu­gleich die Einschätzungs­spielräume, die dem Ge­setz­ge­ber hier wie sonst auch zu­ste­hen, und ver­min­dert da­durch die Kon­troll- und Über­wa­chungs­funk­ti­on des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts. In dem an­zu­er­ken­nen­den Bemühen, ei­nem le­gi­ti­men Ziel des Ge­setz­ge­bers Rech­nung zu tra­gen, der ne­ga­ti­ve Aus­wir­kun­gen ge­werk­schaft­li­chen Wett­be­werbs durch­aus re­geln darf, ver­kennt das Ur­teil in den Wer­tun­gen zur Zu­mut­bar­keit und in der Ent­schei­dung über die Rechts­fol­gen un­se­res Er­ach­tens, dass das Ge­setz deut­lich über das Ziel hin­aus­schießt.
2 Der Se­nat ist sich hin­sicht­lich der An­for­de­run­gen, die sich aus Art. 9 Abs. 3 GG er­ge­ben, ei­nig. Nicht fol­gen können wir dem Ur­teil je­doch in der ver­fas­sungs­recht­li­chen Be­wer­tung des Mit­tels, mit dem der Ge­setz­ge­ber die Ta­rif­au­to­no­mie stärken möch­te. Er hat sich im Ta­rif­ein­heits­ge­setz dafür ent­schie­den, mit der Ver­drängung ei­nes Ta­rif­ver­trags ei­nen An­reiz für ge­werk­schaft­li­che Ko­ope­ra­ti­on im Vor­feld von Ta­rif­ver­hand­lun­gen zu set­zen. Die­ser Ein­griff in die Ta­rif­au­to­no­mie, die im Mit­tel­punkt des Art. 9 Abs. 3 GG steht, und die da­mit ein­her­ge­hen­de viel­fa­che Be­ein­träch­ti­gung der ta­rif­po­li­ti­schen Frei­heit der Ge­werk­schaf­ten im Vor­feld ist grund­recht­lich von er­heb­li­chem Ge­wicht. Vor­keh­run­gen des Ge­setz­ge­bers, um dies den­noch als zu­mut­bar zu recht­fer­ti­gen, sind trotz ih­rer grund­recht­li­chen Be­deu­tung un­klar, un­zu­rei­chend oder feh­len ganz. Zwar ver­folgt das Ge­setz ein le­gi­ti­mes Ziel, so­weit es die struk­tu­rel­len Be­din­gun­gen für fai­re Ta­rif­ver­trags­ver­hand­lun­gen si­chern will, doch ist die Sank­ti­on, mit der das er­reicht wer­den soll, zu scharf.
3

Der Se­nat ist sich auch dar­in ei­nig, dass grund­recht­lich geschütz­te Rechts­po­si­tio­nen vom Ge­setz­ge­ber nicht aus­rei­chend berück­sich­tigt wor­den sind. Nicht fol­gen können wir je­doch der wei­te­ren Ent­schei­dung, dass den­noch ei­ne Fort­gel­tung der de­fi­zitären Re­ge­lun­gen ge­recht­fer­tigt wer­den kann. Erst recht feh­len Gründe für die An­ord­nung ei­ner Über­g­angs­re­ge­lung. Wie das durch­aus kom­ple­xe Pro­blem zu lösen ist, spe­zi­fi­sche Schutz­rech­te in ei­nem Ta­rif­ver­trags­sys­tem zu wah­ren, das mehr­fach un­ter er­heb­li­chem Druck steht, hat nicht der Se­nat zu ent­schei­den, son­dern ist vom Ge­setz­ge­ber zu ge­stal­ten und zu ver­ant­wor­ten. Des­glei­chen können die wei­te­ren grund­recht­li­chen Pro­ble­me des Ta­rif­ein­heits­ge­set­zes, die das Ur­teil auf­zeigt, nicht ein­fach den Fach­ge­rich­ten über­las­sen wer­den; im kol­lek­ti­ven Ar­beits­recht und Ar­beits­kampf­recht sind die­se oh­ne­hin schon mit dem Vor­wurf all­zu weit­rei­chen­der rich­ter­li­cher Rechts­fort­bil­dung kon­fron­tiert, weil der Ge­setz­ge­ber die po­li­ti­schen Kos­ten kon­tro­ver­ser Re­ge­lun­gen seit lan­gem scheut. In dem grund­recht­lich sen­si­blen Be­reich, den Art. 9 Abs. 3 GG mar­kiert, muss der Ge­setz­ge­ber aber selbst - in dem eben wie­der von den Grund­rech­ten ge­steck­ten Rah­men - für Klar­heit sor­gen. Folg­lich wären auch die wei­te­ren im Ur­teil iden­ti­fi­zier­ten ver­fas­sungs­recht­li­chen De­fi­zi­te des Ta­rif­ein­heits­ge­set­zes ent­we­der durch zwin­gen­de ver­fas­sungs­kon­for­me Aus­le­gung oder eben durch Neu­re­ge­lung und da­mit vom Ge­setz­ge­ber zu lösen.

A.

4 Ge­mein­sa­mer Aus­gangs­punkt des Ur­teils und - mit dem Ab­schied von ei­ner Be­schränkung des Art. 9 Abs. 3 GG auf ei­nen Kern­be­reichs­schutz (deut­lich BVerfGE 93, 352 <357>; seit­dem stRspr) - primärer Maßstab für die ver­fas­sungs­recht­li­che Be­ur­tei­lung ta­rif­ver­trags­recht­li­cher Re­ge­lun­gen ist das Frei­heits­recht des Art. 9 Abs. 3 GG. Das Ur­teil be­tont zu Recht die Schutz­ge­hal­te ins­be­son­de­re der Ta­rif­au­to­no­mie und der Wahl der ta­rif­po­li­ti­schen Mit­tel ein­sch­ließlich des Ar­beits­kamp­fes so­wie der frei­en Ent­schei­dung je­der Ta­rif­ver­trags­par­tei über das ei­ge­ne Pro­fil. Das Ur­teil mar­kiert auch er­neut die ge­setz­ge­be­ri­sche Auf­ga­be, die Wahr­neh­mung des Frei­heits­rechts durch Ta­rif­ver­trags­recht zu ermögli­chen. Da­bei han­delt es sich ge­ra­de nicht um ei­ne letzt­lich un­be­grenz­te Aus­ge­stal­tungs­be­fug­nis. Nicht nur ist der Ge­setz­ge­ber zu Re­ge­lun­gen wie auch sonst nur in be­son­ders ge­la­ger­ten Fällen ver­pflich­tet (na­ment­lich BVerfGE 94, 268 <284>). Zu­dem darf sich der Ge­setz­ge­ber bei sei­ner Ent­schei­dung, die Ko­ali­ti­ons­frei­heit ein­zu­schränken, nicht auf schlich­te Befürch­tun­gen stützen; ei­ne Ein­schränkung von Art. 9 Abs. 3 GG ist - wie auch sonst - nur auf der Grund­la­ge tatsäch­li­cher An­halts­punk­te zu recht­fer­ti­gen (Rn. 157). Für ei­ne Sor­ge um das Sys­tem muss es „rea­le Gründe“ ge­ben (vgl. BVerfGE 94, 268 <294 ff., 295> - abw. Mei­nung Kühling).
5 Der Ge­setz­ge­ber darf auf Ero­sio­nen der Ta­rif­bin­dung re­agie­ren. Die Her­stel­lung und Si­che­rung ei­nes funk­ti­onsfähi­gen Sys­tems der Ta­rif­au­to­no­mie ist ein le­gi­ti­mer Re­ge­lungs­zweck, der auch Be­ein­träch­ti­gun­gen der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschütz­ten Rech­te recht­fer­ti­gen kann. Die Vor­stel­lung ei­ner „wi­der­spruchs­frei­en Ord­nung der Ar­beits­be­zie­hun­gen“ (so die Be­gründung zum Ge­setz­ent­wurf BT­Drucks 18/4062, S. 1, 8) gehört ei­ner durch­aus pro­ble­ma­ti­schen Ver­gan­gen­heit an; Art. 9 Abs. 3 GG ist heu­te als Frei­heits­recht mit ei­ner spe­zi­fi­schen so­zia­len Di­men­si­on zu ver­ste­hen. Art. 9 Abs. 3 GG er­teilt auch Hoff­nun­gen auf or­dent­li­che Verhält­nis­se, die letzt­lich auf die Ein­heits­ge­werk­schaft zie­len, ei­ne deut­li­che Ab­sa­ge. Das­sel­be gilt für die vom Ge­setz­ge­ber hin­ge­nom­me­ne Ein­schränkung der Ar­beits­kampf­rech­te durch die Hin­tertür (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 8). Der Ge­setz­ge­ber darf sich auch nicht da­zu her­ge­ben, Ar­beit­ge­ber vor ei­ner Viel­zahl der For­de­run­gen kon­kur­rie­ren­der Ge­werk­schaf­ten zu schützen (so aber die Be­gründung BT­Drucks 18/4062, S. 8; da­ge­gen im Ur­teil Rn. 150). In § 4a Abs. 1 TVG und der Be­gründung des Ge­setz­ent­wurfs an­geführ­te Re­ge­lungs­zwe­cke können Be­ein­träch­ti­gun­gen des Art. 9 Abs. 3 GG al­so nur bei sach­ge­rech­tem, dem Frei­heits­recht und den da­mit ein­her­ge­hen­den Mühen ei­nes Ko­ali­ti­ons­plu­ra­lis­mus Rech­nung tra­gen­den Verständ­nis recht­fer­ti­gen. Das Ur­teil stützt sich auf die Be­haup­tung der Bun­des­re­gie­rung im Ver­fah­ren, das an­ge­grif­fe­ne Ge­setz förde­re die Ko­ope­ra­ti­on zwi­schen Ge­werk­schaf­ten durch ei­nen An­reiz, der zwar als Sank­ti­on scharf ge­fasst, aber doch gut ver­meid­bar sei. Wir hal­ten die­se Einschätzung je­den­falls dann für un­rea­lis­tisch, wenn die Kol­li­si­ons­re­ge­lung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG von Ge­set­zes we­gen oh­ne ein da­zwi­schen ge­schal­te­tes und von den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en ge­stalt­ba­res Be­schluss­ver­fah­ren (vgl. § 99 ArbGG) au­to­ma­tisch (al­so ip­so ju­re ) Ta­rif­verträge ver­drängen könn­te und dies auch dann, wenn kei­ne Ta­rif­ver­trags­par­tei ei­nes kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags dies will.
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Am ge­mein­sa­men Aus­gangs­punkt des Ur­teils in Art. 9 Abs. 3 GG als Frei­heits­recht, wo­nach ge­setz­ge­be­ri­sche Vor­ga­ben zur Ta­rif­po­li­tik, die le­gi­ti­men Zwe­cken die­nen, den An­for­de­run­gen der Verhält­nismäßig­keit genügen müssen, ändert das nichts: Im Schutz­be­reich des Art. 9 Abs. 3 GG darf der Ge­setz­ge­ber nur sol­che Re­ge­lun­gen in Kraft set­zen, die die Frei­heit zu ta­rif­po­li­ti­schem Han­deln in verhält­nismäßiger Wei­se be­schränken. Ge­lingt dies nicht, muss er neu und an­ders re­geln.

B.

7 Das Ur­teil be­ruht je­doch auf Einschätzun­gen der so­zia­len Wirk­lich­keit, an de­nen durch­aus Zwei­fel be­ste­hen.
8 Schon die zur Be­gründung des Ge­set­zes vor­ge­brach­te The­se, der­zeit würden in Fällen der Ta­rif­kol­li­si­on aus­ge­han­del­te Löhne als un­ge­recht emp­fun­den, was den Be­triebs­frie­den störe (BT­Drucks 18/4062, S. 8, 11 f.), ist we­der sub­stan­ti­iert noch mit Blick auf die Ge­gen­ar­gu­men­te in den Stel­lung­nah­men und die nach­ge­wie­sen lang­fris­tig eher mo­de­ra­ten Lohn­stei­ge­run­gen auch bei star­ken Be­rufs­grup­pen (vgl. Schmidt, in: Leh­mann, Deut­sche und eu­ropäische Ta­ri­fland­schaft im Wan­del, 2013, S. 68 <83 f.>: „Rück­stau in der Lohn­ent­wick­lung“; Lesch, ZPol 2016, S. 155 <159>; Schro­eder/Greef, in: In­dus­tri­el­le Be­zie­hun­gen 4/2008, S. 329 <344 f.>; Rhei­nisch-Westfäli­sches In­sti­tut für Wirt­schafts­for­schung <RWI>, Em­pi­ri­sche Ana­ly­se der Aus­wir­kun­gen der Ta­rifp­lu­ra­lität auf das deut­sche Ta­rif­ver­trags­sys­tem und auf die Häufig­keit von Ar­beitskämp­fen, 2011, S. 27, 43: „we­der dra­ma­ti­sche Verände­run­gen zu be­ob­ach­ten noch zu er­war­ten“) be­legt wor­den. Des­glei­chen können Ta­rif­verträge auf­grund ih­rer be­schränk­ten Bin­dungs­kraft von vorn­her­ein nur re­la­tiv wir­ken, nicht aber ab­so­lut be­frie­den oder überg­rei­fend ord­nen.
9 Auch ist nicht zu über­se­hen, dass die Ge­werk­schaf­ten, die sich jetzt ge­gen ei­ne ge­setz­lich mit­tel­bar er­zwun­ge­ne Ko­ope­ra­ti­on weh­ren, ei­ne sol­che nicht et­wa nie ge­wollt ha­ben, son­dern aus ganz be­stimm­ten Gründen be­en­de­ten: Die In­ter­es­sen der je­wei­li­gen Be­rufs­grup­pe gin­gen in Bran­chen­ge­werk­schaf­ten un­ter, Kom­pro­mis­se gin­gen über länge­re Zeiträume auf Kos­ten ei­ner nu­me­ri­schen Min­der­heit oder die be­ruf­li­che Iden­tität wur­de nicht aus­rei­chend ge­wahrt (vgl. u.a. Schro­eder/Kal­las/Greef, Klei­ne Be­rufs­ge­werk­schaf­ten und Be­rufs­verbände im Wan­del, 2008; Mo­no­pol­kom­mis­si­on, Haupt­gut­ach­ten 2010, BT­Drucks 17/2600, u.a. S. 323, Rn. 892; RWI, Em­pi­ri­sche Ana­ly­se der Aus­wir­kun­gen der Ta­rifp­lu­ra­lität auf das deut­sche Ta­rif­ver­trags­sys­tem und auf die Häufig­keit von Ar­beitskämp­fen, 2011, S. 13. f., 24 ff.). Das Ur­teil misst dem in der Be­wer­tung der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen und auch mit der Über­g­angs­re­ge­lung für die Zeit bis zur Neu­re­ge­lung durch den Ge­setz­ge­ber zu we­nig Be­deu­tung bei.
10 Auch an­de­re zur Ver­tei­di­gung des Ge­set­zes vor­ge­brach­te Be­haup­tun­gen ste­hen auf töner­nen Füßen. Ta­rifp­lu­ra­lität ist schon im Aus­gangs­punkt re­gelmäßig kei­ne Fol­ge de­struk­ti­ver Ge­werk­schafts­kon­kur­renz, son­dern Aus­fluss grund­recht­li­cher Frei­heit und ins­be­son­de­re von Ar­beit­ge­bern sehr häufig ge­wollt (vgl. Ja­cobs, NZA 2008, S. 325 <328>). Kol­li­sio­nen sind sel­ten. Die öffent­lich be­kann­te­ren Kon­flik­te zwi­schen meh­re­ren Ge­werk­schaf­ten und Ar­beit­ge­bern sind im Zu­sam­men­hang mit ganz spe­zi­fi­schen Ent­wick­lun­gen zu se­hen; da­zu gehören die Fol­gen der Pri­va­ti­sie­rung von Staats­un­ter­neh­men, tra­dier­te be­rufs­po­li­ti­sche, in Bran­chen­ge­werk­schaf­ten nicht hin­rei­chend auf­ge­fan­ge­ne Iden­titäten oder auch durch Kom­pro­mis­se in den Kri­sen­jah­ren ge­wach­se­ne Dis­kre­pan­zen der Ar­beits­be­din­gun­gen be­stimm­ter Be­ru­fe im Ver­gleich mit dem Aus­land (vgl. Schmidt, in: Leh­mann, Deut­sche und Eu­ropäische Ta­ri­fland­schaft im Wan­del, 2013, S. 68 <83 f.>). Zu­dem gibt es für die Lösung von Kol­li­si­ons­pro­ble­men seit lan­gem klären­de Ver­fah­ren der Verbände (wie nach der Sat­zung des DGB) oder aber Lösun­gen in Ta­rif­verträgen selbst (wie nach der Sch­lich­tung im Grund­satz­fra­gen­ta­rif­ver­trag bei der Bahn). Auch hier greift die Ent­schei­dung des Grund­ge­set­zes, Ta­rif­po­li­tik mit Art. 9 Abs. 3 GG in ers­ter Li­nie den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en selbst zu über­las­sen. Das ist in der Be­wer­tung der Recht­fer­ti­gung ge­setz­ge­be­ri­scher Ein­schränkun­gen ei­ner grund­recht­lich geschütz­ten Frei­heit stärker zu berück­sich­ti­gen.
11 So­weit hin­ter dem Ur­teil die An­nah­me steht, die Sei­te der Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer wer­de durch den nur als mit­tel­bar be­wer­te­ten Zwang zur Ko­ope­ra­ti­on gestärkt, weil nun die star­ken Be­rufs­grup­pen in Schlüssel­po­si­tio­nen zur Ko­ope­ra­ti­on mit an­de­ren Beschäftig­ten ge­zwun­gen würden, kann dies nur oberflächlich be­ru­hi­gen. Es ist nicht zu über­se­hen, dass die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen auf ei­nen ein­sei­ti­gen po­li­ti­schen Kom­pro­miss zwi­schen den Dach­or­ga­ni­sa­tio­nen Deut­scher Ge­werk­schafts­bund und Bun­des­ver­ei­ni­gung der Deut­schen Ar­beit­ge­ber­verbände zurück­ge­hen (im Ur­teil Rn. 9); dar­an wa­ren all die Ge­werk­schaf­ten, die nun Ver­fas­sungs­be­schwer­de er­ho­ben ha­ben, ge­ra­de nicht be­tei­ligt. Dass nun so­wohl Bran­chen- als auch Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten im Ver­fah­ren weit­hin übe­rein­stim­men­de Be­den­ken ge­gen das Ta­rif­ein­heits­ge­setz geäußert ha­ben, be­legt ein­drucks­voll, dass von Sei­ten der Be­trof­fe­nen kein ge­setz­ge­be­ri­scher Hand­lungs­be­darf ge­se­hen wird.
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Nicht zu über­se­hen ist nach dem Vor­trag in den Ver­fas­sungs­be­schwer­den und der münd­li­chen Ver­hand­lung auch, dass je­den­falls bei ei­ner Gel­tung der Kol­li­si­ons­re­gel oh­ne klären­den ar­beits­ge­richt­li­chen Be­schluss im Vor­feld der Ta­rif­ver­hand­lun­gen und Ver­trags­schlüsse nicht et­wa fried­li­che Ko­ope­ra­ti­on, son­dern viel­mehr „Häuserkämp­fe“ um die be­trieb­li­che Mehr­heit zu befürch­ten sind (zu wahr­schein­li­chen Fol­gen Dei­nert, NZA 2009, S. 1176 <1181>; Grei­ner, RdA 2015, S. 36 <43>: „Brand­be­schleu­ni­ger“; Preis, FA 2014, S. 354 <356> und jM 2015, S. 369 <373>; Be­p­ler, RdA 2015, S. 194 <195>; Fran­zen, in: ErfK, 17. Aufl. 2017, § 4a TVG Rn. 15). Zu berück­sich­ti­gen ist da­bei auch, dass der Ge­setz­ge­ber nicht nur scharf sank­tio­niert, wenn Ko­ope­ra­ti­on im Vor­feld nicht ge­lingt, son­dern mit dem be­trieb­li­chen Mehr­heits­prin­zip und der Nach­zeich­nungs­op­ti­on auch struk­tu­rell ganz ein­sei­tig vor­geht: Ver­drängt wird, wer ei­ne ty­pi­scher­wei­se klei­ne Be­rufs­grup­pe or­ga­ni­siert; ei­ne Nach­zeich­nung läuft auf ei­ne „Un­ter­wer­fung“ un­ter frem­de Verträge oh­ne je­des ei­ge­ne ta­rif­po­li­ti­sche Pro­fil hin­aus und hebt so die ta­rif­po­li­ti­sche Frei­heit auf, die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt ist. Hier sind die Er­fah­run­gen des Schei­terns eins­ti­ger ta­rif­po­li­ti­scher Ko­ope­ra­ti­on und die Gefähr­dung noch funk­tio­nie­ren­der Ko­ope­ra­ti­on in jünge­rer Zeit un­ter Ver­weis auf das Ta­rif­ein­heits­ge­setz zu berück­sich­ti­gen. Die im Ver­fah­ren ge­schil­der­ten Fälle, in de­nen Ar­beit­ge­ber schon jetzt ver­wei­gert ha­ben, über­haupt Ta­rif­ver­hand­lun­gen auf­zu­neh­men, so­wie die of­fen­sicht­li­che Still­hal­te­po­li­tik bis zu ei­ner Ent­schei­dung des Se­nats (vgl. Preis, jM 2015, S. 369 <372>), ha­ben un­se­res Er­ach­tens im Ur­teil zu we­nig Be­ach­tung ge­fun­den. Tre­ten die im Ver­fah­ren auf­ge­zeig­ten Fol­gen al­ler­dings in Zu­kunft ein, die ak­tu­ell die Be­wer­tung der Zu­mut­bar­keit im Ur­teil nicht ent­schei­dend prägen, wäre das Ge­setz ver­fas­sungs­recht­lich neu zu be­wer­ten (vgl. BVerfGE 92, 365 <396>).

C.

13 Der ein­ge­schränk­te Blick auf die ta­rif­po­li­ti­sche Rea­lität wirkt sich auf die ver­fas­sungs­recht­li­che Be­wer­tung aus. Wir stim­men dem Ur­teil zwar in der Aus­le­gung des Art. 9 Abs. 3 GG und den da­bei im Ein­klang mit der bis­he­ri­gen Recht­spre­chung ent­wi­ckel­ten Maßstäben in­so­weit zu, als die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen als un­ver­ein­bar mit den grund­recht­li­chen An­for­de­run­gen zu be­wer­ten sind, weil mit ih­nen un­zu­mut­ba­re Be­ein­träch­ti­gun­gen der in Art. 9 Abs. 3 GG geschütz­ten Rech­te der be­trof­fe­nen Ge­werk­schaf­ten und ih­rer Mit­glie­der ein­her­ge­hen. Un­se­res Er­ach­tens be­trifft dies aber nicht nur den feh­len­den Be­rufs­grup­pen­schutz in ei­nem ver­drängen­den Ta­rif­ver­trag, der nach­ge­zeich­net wer­den kann (Rn. 217). Die Zwei­fel dar­an, dass das Ta­rif­ein­heits­ge­setz ver­fas­sungs­recht­lich zu recht­fer­ti­gen ist, ge­hen deut­lich darüber hin­aus. Denn die auch von der Ent­schei­dung vor­ge­se­he­nen Möglich­kei­ten, die mit den Re­ge­lun­gen ein­her­ge­hen­de Be­las­tung zu re­la­ti­vie­ren (Rn. 174) und zu be­schränken (Rn. 189), glei­chen die grund­recht­li­chen Be­ein­träch­ti­gun­gen nicht wirk­sam aus, so sehr das Bemühen des Se­nats an­zu­er­ken­nen ist, für ei­ne ge­wis­se Ent­las­tung zu sor­gen.
14 Es ist schon frag­lich, ob die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen über­haupt ge­eig­net sind, das Ziel der Funk­ti­onsfähig­keit des Ta­rif­ver­trags­sys­tems zu er­rei­chen. Die im Ver­fah­ren mehr­fach an­schau­lich dar­ge­leg­te Wahr­schein­lich­keit, dass der Ge­setz­ge­ber mit dem Kri­te­ri­um der nu­me­ri­schen Mehr­heit von Mit­glie­dern ei­ner Ge­werk­schaft im Be­trieb ganz im Ge­gen­teil hef­ti­ge­re Kon­kur­ren­zen und Sta­tuskämp­fe in ein­zel­nen Be­trie­ben pro­vo­ziert, er­scheint uns hoch. Die Bin­dung an ei­ne Mehr­heit im Be­trieb ist auch ei­ne ho­he Hürde für neue Bran­chen­ge­werk­schaf­ten, über­haupt die Ta­riffähig­keit zu er­lan­gen. Wenn „ei­ne Sei­te al­le Trümp­fe in der Hand hat“, fehlt schließlich je­der An­reiz zur Ko­ope­ra­ti­on (vgl. Grei­ner, RdA 2015, S. 36 f.).
15 Auch hin­sicht­lich der Er­for­der­lich­keit der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen zur Er­rei­chung des Ziels struk­tu­rell fai­rer Ta­rif­ver­trags­ver­hand­lun­gen be­ste­hen er­heb­li­che Zwei­fel. So hat die Ände­rung in der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (im Ur­teil Rn. 7) nicht da­zu geführt, dass die Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie seit­dem be­ein­träch­tigt wur­de. Tatsächlich wur­de schon vor 2010 kei­nes­wegs durchgängig ei­ne Ta­rif­ein­heit im Be­trieb durch­ge­setzt. Die vor­han­de­nen Da­ten zu den Fol­gen der Recht­spre­chungsände­rung greift das Ur­teil be­dau­er­li­cher­wei­se nicht auf. In­so­weit ha­ben auch Befürwor­ter des Ta­rif­ein­heits­ge­set­zes kon­sta­tiert, das „ganz große Cha­os“ sei aus­ge­blie­ben (Krönke, DÖV 2015, S. 788 <791>). Ent­ge­gen der auch in der Be­gründung des Ge­setz­ent­wurfs auf­ge­grif­fe­nen Be­haup­tung spe­zi­fi­scher Loh­nun­ge­rech­tig­kei­ten und ent­spre­chen­der Nei­d­ef­fek­te, die so­gar den Be­triebs­frie­den gefähr­de­ten (BT­Drucks 18/4062, S. 8), gibt es tatsächlich zwar punk­tu­ell ho­he Ge­halts­for­de­run­gen, aber durch­aus dann ab­neh­men­de und oft eher mo­de­ra­te Ab­schlüsse und kei­ne ex­trem an­stei­gen­de Ge­halts­ent­wick­lung ein­zel­ner Be­rufs­grup­pen (vgl. Lesch, ZPol 2016, S. 155 ff.; auch RWI, Em­pi­ri­sche Ana­ly­se der Aus­wir­kun­gen der Ta­rifp­lu­ra­lität, 2011, S. 26 f.; Schro­eder, ifo Schnell­dienst 10/2012, S. 3; Kel­ler, Ko­ope­ra­ti­on oder Kon­flikt?, 2015, S. 23; Lesch/Hell­mich, IW po­li­cy pa­per 1/2015, S. 7 ff.). Sch­ließlich hätte mit ei­ner Ver­drängung nur nach ei­nem Be­schluss­ver­fah­ren (dann aber mit Rück­wir­kung, al­so ex tunc) ein mil­de­res, als An­reiz zur Ko­ope­ra­ti­on der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en aber min­des­tens eben­so wirk­sa­mes Mit­tel zur Verfügung ge­stan­den.
16 Tatsächlich ist seit der Ände­rung der Recht­spre­chung 2010 kein nen­nens­wer­ter An­stieg der Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schafts­gründun­gen zu er­ken­nen (vgl. RWI, Em­pi­ri­sche Ana­ly­se der Aus­wir­kun­gen der Ta­rifp­lu­ra­lität, 2011, S. 24 ff.; Bispinck, Zur Rol­le der Be­rufs- und Spar­ten­ge­werk­schaf­ten in der Ta­rif­po­li­tik, Vor­trag 2015). Die vom Ge­setz­ge­ber oh­ne­hin nicht di­rekt adres­sier­te Streikhäufig­keit und -in­ten­sität hat ins­ge­samt nicht zu­ge­nom­men (dif­fe­ren­ziert Lesch/Hell­mich, IW po­li­cy pa­per 1/2015, S. 10 ff.). Fehlt es da­nach nicht schon an der Er­for­der­lich­keit der ge­setz­ge­be­ri­schen Be­schränkung grund­recht­lich geschütz­ter Frei­heit, spricht dies je­den­falls dafür, dass auf die Kol­li­si­ons­re­ge­lung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG bis zu ei­ner Neu­re­ge­lung der be­an­stan­de­ten Tei­le durch­aus ver­zich­tet wer­den kann. Da­her ist ei­ne Fort­gel­tungs­an­ord­nung nach den bis­her gel­ten­den Maßstäben nicht zu recht­fer­ti­gen.
17 Die an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen sind auch nicht nur in dem ei­nen As­pekt des Be­rufs­grup­pen­schut­zes im an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trag, son­dern ins­be­son­de­re in der durch das Ur­teil noch ermöglich­ten Aus­le­gung ei­ner Ver­drängung ei­nes Ta­rif­ver­trags oh­ne ar­beits­ge­richt­li­chen Be­schluss grund­recht­lich un­zu­mut­bar. Der Ein­griff in die mit der Ko­ali­ti­ons­frei­heit nach Art. 9 Abs. 3 GG geschütz­te Ta­rif­au­to­no­mie, der in der Ver­drängung ei­nes ge­schlos­se­nen Ta­rif­ver­trags und dem Ver­lust ent­spre­chen­der Leis­tun­gen liegt, und die mas­si­ven ein­schränken­den Wir­kun­gen ei­ner sol­chen Ver­drängung im ge­sam­ten Spek­trum grund­recht­lich geschütz­ten ta­rif­po­li­ti­schen Han­delns ge­hen auch mit Blick auf die le­gi­ti­men Zie­le des Ge­setz­ge­bers zu weit, je­den­falls wenn er von Ge­set­zes we­gen und nicht auf­grund des An­trags ei­ner Ta­rif­ver­trags­par­tei ein­tritt. Zu Recht geht das Ur­teil da­von aus, dass auch die Möglich­keit be­steht, § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nicht so aus­zu­le­gen, dass die Ver­drängung ei­nes kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags ip­so ju­re ein­tritt, son­dern die­sen Ver­lust an den ex tunc wir­ken­den Be­schluss des Ar­beits­ge­richts im Ver­fah­ren nach § 99 ArbGG zu bin­den (Rn. 175 f.; vgl. BVerfGE 140, 211 <213 f. Rn. 4>; auch Preis, in: FA 2014, S. 354 <357>). Das Ur­teil überlässt die Aus­le­gung des Ge­set­zes in­so­weit den Ar­beits­ge­rich­ten. Un­se­res Er­ach­tens ist ei­ne Aus­le­gung, wo­nach dem Be­schluss­ver­fah­ren klären­de Ge­stal­tungs­wir­kung zu­kommt, ver­fas­sungs­recht­lich zwin­gend. Die Bin­dung der Ver­drängung ei­nes Ta­rif­ver­trags an ein Be­schluss­ver­fah­ren schafft Rechts­si­cher­heit und ver­mei­det un­kal­ku­lier­ba­re und das Ta­rif­ver­trags­sys­tem zusätz­lich be­las­ten­de Un­si­cher­hei­ten. Die­se tref­fen sonst ein­zel­ne Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer. Bei ei­ner Gel­tung ip­so ju­re sind auch di­ver­gie­ren­de Ent­schei­dun­gen in in­di­vi­du­al­recht­li­chen Strei­tig­kei­ten möglich. Oh­ne kla­res Be­schluss­ver­fah­ren be­steht zu­dem ein erhöhter An­reiz für „Häuserkämp­fe“ zur Wer­bung von Mehr­hei­ten in ein­zel­nen Be­trie­ben im Vor­feld von Ta­rif­ab­schlüssen. Dem­ge­genüber ent­spricht die Bin­dung ei­ner Auflösung von Ta­rif­kol­li­sio­nen an ein Be­schluss­ver­fah­ren dem mehr­fach erklärten Ziel des Ge­setz­ge­bers, die in Art. 9 Abs. 3 GG geschütz­te Dis­po­si­ti­ons­frei­heit der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en möglichst zu er­hal­ten (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 1, 12). Im Ver­fah­ren hat auch die Bun­des­re­gie­rung be­tont, das Ta­rif­ein­heits­ge­setz sei nur An­reiz­steue­rung, wol­le im Vor­feld wir­ken und die ta­rif­po­li­ti­sche Frei­heit der Ge­werk­schaf­ten weit­ge­hend schützen. Dem­ent­spre­chend wird ei­ne Ta­rifp­lu­ra­lität in § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG aus­drück­lich ak­zep­tiert.
18 Wei­ter geht das Ur­teil völlig zu Recht da­von aus, dass es mit Art. 9 Abs. 3 GG un­ver­ein­bar wäre, wenn die Kol­li­si­ons­re­ge­lung auch zum Ver­lust lang­fris­tig an­ge­leg­ter, die Le­bens­pla­nung der Beschäftig­ten berühren­der Ansprüche aus ei­nem Ta­rif­ver­trag führen würde (Rn. 187 f.). Der Ge­setz­ge­ber hat das nicht berück­sich­tigt. Un­se­res Er­ach­tens ist die Re­ge­lung da­her auch in­so­fern nicht mit dem Grund­ge­setz ver­ein­bar. Den Ge­rich­ten zu übe­r­ant­wor­ten, ob und wie dies zu ret­ten ist, und ih­nen na­he­zu­le­gen, sonst das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt letzt­lich noch­mals mit der Fra­ge zu be­fas­sen, ob der Ge­setz­ge­ber hier nicht han­deln muss, ist zwar dem Un­wis­sen darüber ge­schul­det, wie das Ta­rif­ein­heits­ge­setz in der Pra­xis wir­ken wird. Ist aber er­kenn­bar, dass hier grund­recht­lich klar geschütz­te Be­lan­ge ein­fach igno­riert wor­den sind, liegt es in der Ver­ant­wor­tung des Ge­setz­ge­bers, sich für ei­ne von vie­len denk­ba­ren Lösun­gen noch da­zu in sehr un­ter­schied­li­chen Re­ge­lungs­kon­tex­ten - von der be­trieb­li­chen Al­ters­si­che­rung über die In­sol­venz­si­che­rung bis zur Ar­beits­platz­ga­ran­tie, den Al­ters­teil­zei­ten oder Ar­beits­zeit­kon­ten - zu ent­schei­den. Ob und in­wie­weit er da­bei we­gen der Unüber­sicht­lich­keit und Viel­falt der Ma­te­ri­en zu ei­ner Ge­ne­ral­klau­sel Zu­flucht neh­men müss­te, muss in ei­nem al­le Ar­gu­men­te und Be­trof­fe­ne berück­sich­ti­gen­den Ge­setz­ge­bungs­ver­fah­ren ent­schie­den wer­den.
19 Sch­ließlich können wir dem Ur­teil auch nicht fol­gen, so­weit es auf der von der Bun­des­re­gie­rung ver­tre­te­nen An­nah­me be­ruht, die Nach­zeich­nung ei­nes Ta­rif­ver­trags ei­ner an­de­ren Ge­werk­schaft hal­te den Ver­lust des ei­ge­nen Ta­rif­ver­trags in Gren­zen (Rn. 194). Da­hin­ter steht ei­ne gefähr­li­che Ten­denz zu ei­ner ver­ein­heit­li­chen­den Vor­stel­lung von Ar­beit­neh­mer­inter­es­sen; die Ausübung des grund­le­gen­den Frei­heits­rechts des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG wird hier zu­guns­ten von Vor­stel­lun­gen ob­jek­ti­ver Rich­tig­keit zurück­ge­stellt. Das er­scheint an­ge­sichts der heu­ti­gen Struk­tu­ren von Er­werbs­ar­beit nicht nur völlig un­rea­lis­tisch und gibt die Ta­rif­bin­dung preis. In der Sa­che pri­vi­le­giert die Vor­stel­lung, es kom­me nur auf die Bin­dung an, nicht aber auf den kon­kret aus­ge­han­del­ten Ver­trag, die großen Bran­chen­ge­werk­schaf­ten. Dies wi­der­spricht dem Grund­ge­dan­ken des Art. 9 Abs. 3 GG, der auf das selbst­be­stimm­te ta­rif­po­li­ti­sche En­ga­ge­ment von An­gehöri­gen jed­we­den Be­ru­fes setzt. Das Frei­heits­recht des Art. 9 Abs. 3 GG schützt auch die Un­ter­schied­lich­keit der In­ter­es­sen im Ko­ali­ti­ons­plu­ra­lis­mus und recht­fer­tigt kei­nen „Akt der Un­ter­wer­fung“ im Zu­ge „kol­lek­ti­ven Bet­telns“ (vgl. Gaul, Ar­bRB 2015, S. 15 <17>; Be­p­ler, in: Boecken/Düwell/Dil­ler/Ha­nau, Ge­sam­tes Ar­beits­recht, 1. Aufl. 2016, § 4a TVG Rn. 97). Das Ur­teil un­terschätzt in­so­weit die ge­setz­ge­be­ri­sche Ent­schei­dung, die An­wen­dung ei­nes Ta­rif­ver­trags an schlicht quan­ti­ta­ti­ven Mehr­heits­verhält­nis­sen im Be­trieb zu ori­en­tie­ren. Das fördert nicht nur den für das Ta­rif­ver­trags­sys­tem und auch für fai­re Wett­be­werbs­be­din­gun­gen durch­aus pro­ble­ma­ti­schen Be­triebs­be­zug. Ein quan­ti­ta­ti­ver Re­präsen­ta­ti­ons­mo­dus wi­der­spricht vor al­lem dem Cha­rak­ter der ta­rif­po­li­ti­schen Or­ga­ni­sa­ti­ons- und Hand­lungs­frei­heit des Art. 9 Abs. 3 GG. Viel­mehr ist Plu­ra­lität not­wen­di­ge Fol­ge und ge­ra­de­zu Kenn­zei­chen die­ses frei­heit­li­chen Sys­tems (vgl. Die­te­rich, in: GS für Ul­rich Za­chert, 2010, S. 532 <541>).
20

Sch­ließlich eröff­net das Ur­teil die Möglich­keit, dass im Be­schluss­ver­fah­ren nach § 99 ArbGG die Mehr­heits­verhält­nis­se der Ge­werk­schaf­ten in ei­nem Be­trieb of­fen­ge­legt wer­den. Das Ur­teil be­tont die Pflicht der Fach­ge­rich­te, dies nach Möglich­keit zu ver­mei­den, ak­zep­tiert aber auch, wenn das nicht möglich sein soll­te (Rn. 199). So­lan­ge der Ge­setz­ge­ber hier kei­ne Vor­keh­run­gen trifft, die mit der Of­fen­le­gung ein­her­ge­hen­de Ver­schie­bung der Kampf­pa­rität (vgl. Bay­reu­ther, NZA 2013, S. 1395 f.; Ebertz, RiA 2015, S. 152 <159>; da­zu auch Lin­sen­mai­er, in: ErfK, 17. Aufl. 2017, Art. 9 GG Rn. 41) zu ver­hin­dern, ist die­se je­doch nicht zu­mut­bar. Die Ta­rifp­lu­ra­lität, die der Ge­setz­ge­ber in § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG grundsätz­lich ak­zep­tiert, ist dann hin­zu­neh­men (vgl. Tre­ber, in: Hens­s­ler/ Wil­lem­sen/Kalb, Ar­beits­recht Kom­men­tar, 7. Aufl. 2016, § 99 ArbGG Rn. 4, 6).

D.

21 Der Se­nat ist sich zwar ei­nig, dass der Ge­setz­ge­ber de­struk­ti­ven Wett­be­werb re­geln kann. Er ist sich auch ei­nig, dass ei­ne Re­ge­lung, die kei­ner­lei Rück­sicht auf die spe­zi­fi­schen In­ter­es­sen und Bedürf­nis­se der­je­ni­gen nimmt, de­ren Ta­rif­verträge in ei­nem Be­trieb ver­drängt wer­den, nicht mit dem Grund­ge­setz ver­ein­bar ist. Nicht fol­gen können wir dem Ur­teil aber in der Ent­schei­dung über die Fol­gen die­ser ver­fas­sungs­recht­li­chen Wer­tung.
22 Ist ein nach un­se­rer Über­zeu­gung we­sent­li­cher As­pekt der Aus­ge­stal­tung an­ge­grif­fe­ner Nor­men ver­fas­sungs­wid­rig, hat der Ge­setz­ge­ber die Nich­tig­keit als Re­gel­fol­ge vor­ge­se­hen; § 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG. Das ist ge­ra­de in dem von uns ge­teil­ten Bemühen, die Spielräume des Ge­setz­ge­bers zu ach­ten, zwar hart, aber ein­deu­tig; es gilt un­se­res Er­ach­tens auch hier. „Fürsorg­lich­keit ge­genüber dem Ge­setz­ge­ber soll­te sich das Ver­fas­sungs­ge­richt ver­sa­gen“ (vgl. BVerfGE 93, 121 <152> - abw. Mei­nung Böckenförde). Die hier an­ge­ord­ne­te Fort­gel­tung ver­fas­sungs­wid­ri­ger Nor­men ist we­der bis zum Aus­gleich ei­ner Un­gleich­heit zwin­gend (vgl. BVerfGE 133, 59 <99>; stRspr) noch zum Schutz über­ra­gen­der Güter des Ge­mein­wohls nach Abwägung ge­bo­ten (vgl. BVerfGE 136, 9 <59>; 141, 220 <351 Rn. 355> m.w.N.), noch ist der dann ein­tre­ten­de Zu­stand von der ver­fas­sungsmäßigen Ord­nung wei­ter ent­fernt (vgl. BVerfGE 132, 372 <394> m.w.N.; 137, 108 <171 f.>; stRspr) als die Si­tua­ti­on seit 2010. Die Re­pa­ra­tur ei­nes Ge­set­zes, das sich als teil­wei­se ver­fas­sungs­wid­rig er­weist, weil Grund­rech­te un­zu­mut­bar be­ein­träch­tigt wer­den, gehört nicht zu den Auf­ga­ben des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts. Wie ei­ne Re­ge­lung aus­ge­stal­tet wer­den muss, um die da­mit ein­her­ge­hen­den Ein­schränkun­gen der Rech­te aus Art. 9 Abs. 3 GG zu­mut­bar wer­den zu las­sen, hat der Ge­setz­ge­ber zu ent­schei­den. Ge­nau dafür steht ihm ein Einschätzungs­spiel­raum zu. Die dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt auf­ge­ge­be­ne Kon­trol­le der Ein­hal­tung grund­recht­li­cher An­for­de­run­gen an Ge­set­ze, die die in Art. 9 Abs. 3 GG ga­ran­tier­te Ko­ali­ti­ons­frei­heit auf die­se Wei­se ein­schränken, hätte da­her zu der auch für die Pra­xis kla­ren Ent­schei­dung führen müssen, das Ta­rif­ein­heits­ge­setz je­den­falls in­so­weit für ver­fas­sungs­wid­rig und nich­tig zu erklären, als Ei­nig­keit be­steht, dass die Ver­drängung un­zu­mut­bar ist. Bis zu ei­ner Nach­bes­se­rung durch den Ge­setz­ge­ber hätte § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG in­so­weit nicht zur An­wen­dung kom­men dürfen. Gründe, um da­von ab­zu­wei­chen, sind nicht er­kenn­bar.
23 Das Ur­teil an­er­kennt zu Recht die Möglich­keit, das Ta­rif­ein­heits­ge­setz grund­rechts­scho­nend re­strik­tiv aus­zu­le­gen. Um den Be­trof­fe­nen die grund­recht­lich ge­bo­te­nen weit­ge­hen­den Hand­lungs­spielräume zu er­hal­ten, er­scheint ins­be­son­de­re die Bin­dung der Ver­drängung ei­nes Ta­rif­ver­trags an ein von den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en und nicht nur ein­zel­nen ih­rer Mit­glie­der her­bei­geführ­tes ar­beits­ge­richt­li­ches Be­schluss­ver­fah­ren ver­fas­sungs­recht­lich zwin­gend. Wo der Ge­setz­ge­ber die Wei­chen für ei­ne zu­mut­ba­re Ein­schränkung der Ko­ali­ti­ons­frei­heit nicht ge­stellt hat, ist er zu­dem selbst ge­fragt. Das Ur­teil hätte nicht mühe­voll fach­recht­li­che Aus­le­gungs­op­tio­nen auf­zei­gen müssen, um den Wünschen des Ge­setz­ge­bers möglichst weit­ge­hend fol­gen zu können. Es hätte zu­guns­ten des Grund­rechts­schut­zes ge­ra­de klei­ner Ge­werk­schaf­ten statt­des­sen die Kon­troll­auf­ga­be des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts auch ge­gen star­ke po­li­ti­sche Mehr­hei­ten wahr­neh­men und ent­schei­den müssen, dass der Ge­setz­ge­ber mit dem Ta­rif­ein­heits­ge­setz ein zu schar­fes Schwert gezückt hat.
24 Die in­di­vi­du­el­le und kol­lek­ti­ve Wahr­neh­mung von Frei­heits­rech­ten ist zu­wei­len an­stren­gend, ge­ra­de auch für nicht un­mit­tel­bar in die Aus­ein­an­der­set­zung ver­strick­te Drit­te. Es ist Auf­ga­be des Ge­setz­ge­bers, ih­re Wahr­neh­mung in ei­nen recht­li­chen Rah­men zu stel­len, und Auf­ga­be des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, die Frei­heits­ausübung vor pri­va­tem (Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG) wie un­verhält­nismäßigem ge­setz­ge­be­ri­schem Zu­griff zu schützen. Im Bemühen, selbst ei­nen in­ter­es­sen­ge­rech­ten Aus­gleich her­zu­stel­len, ver­langt der Se­nat von den Fach­ge­rich­ten die Über­prüfung der sach­li­chen An­ge­mes­sen­heit der er­ziel­ten Er­geb­nis­se für ein­zel­ne Be­rufs­grup­pen. Art. 9 Abs. 3 GG hin­ge­gen ver­traut der ei­gen­ver­ant­wort­lich wahr­ge­nom­me­nen Frei­heit.

Pau­lus
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