HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

EuGH, Ur­teil vom 18.10.2017, C-409/16 - Kal­li­ri

   
Schlagworte: Diskriminierung, Diskriminierungsverbote - Geschlecht, Gleichbehandlungsgrundsatz
   
Gericht: Europäischer Gerichtshof
Aktenzeichen: C-409/16
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 18.10.2017
   
Leitsätze: Die Bestimmungen der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen in der durch die Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, wonach für die Zulassung von Bewerbern für das Auswahlverfahren für den Zugang zur Polizeischule dieses Mitgliedstaats unabhängig von ihrem Geschlecht eine Mindestkörpergröße von 1,70 m erforderlich ist, wenn diese Regelung eine viel höhere Zahl von Personen weiblichen Geschlechts als männlichen Geschlechts benachteiligt und für die Erreichung des rechtmäßigen Ziels, das sie verfolgt, nicht geeignet und erforderlich ist, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Vorinstanzen:
   

UR­TEIL DES GERICH­TSHOFS (Ers­te Kam­mer)

18. Ok­to­ber 2017(*)

„Vor­la­ge zur Vor­ab­ent­schei­dung - So­zi­al­po­li­tik - Richt­li­nie 76/207/EWG - Gleich­be­hand­lung von Männern und Frau­en in Ar­beits- und Beschäfti­gungs­fra­gen - Dis­kri­mi­nie­rung we­gen des Ge­schlechts - Aus­wahl­ver­fah­ren für den Zu­gang zur Po­li­zei­schu­le ei­nes Mit­glied­staats - Re­ge­lung die­ses Mit­glied­staats, die für al­le Be­wer­ber für die Zu­las­sung zu die­sem Aus­wahl­ver­fah­ren ei­ne Min­destkörper­größe vor­schreibt“

In der Rechts­sa­che C-409/16

be­tref­fend ein Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen nach Art. 267 AEUV, ein­ge­reicht vom Sym­vou­lio tis Epik­ra­tei­as (Staats­rat, Grie­chen­land) mit Ent­schei­dung vom 15. Ju­li 2016, beim Ge­richts­hof ein­ge­gan­gen am 22. Ju­li 2016, in dem Ver­fah­ren

Ypo­ur­gos Eso­te­ri­kon,

Ypo­ur­gos Eth­ni­kis paidei­as kai Thris­kev­ma­ton

ge­gen

Ma­ria-Ele­ni Kal­li­ri

erlässt

DER GERICH­TSHOF (Ers­te Kam­mer)

un­ter Mit­wir­kung der Kam­mer­präsi­den­tin R. Sil­va de La­pu­er­ta (Be­richt­er­stat­te­rin) so­wie der Rich­ter C. G. Fern­lund, J.-C. Bo­ni­chot, S. Ro­din und E. Re­gan,

Ge­ne­ral­an­walt: P. Men­goz­zi,

Kanz­ler: A. Ca­lot Es­co­bar,

auf­grund des schrift­li­chen Ver­fah­rens,

un­ter Berück­sich­ti­gung der Erklärun­gen

- von Frau Kal­li­ri, ver­tre­ten durch P. Ag­gelak­is, di­ki­go­ros,

- der grie­chi­schen Re­gie­rung, ver­tre­ten durch K. Geor­gia­dis, D. Ka­to­po­dis und E. Zi­si als Be­vollmäch­tig­te,

- der Eu­ropäischen Kom­mis­si­on, ver­tre­ten durch M. Pa­ta­kia und C. Va­le­ro als Be­vollmäch­tig­te,

auf­grund des nach Anhörung des Ge­ne­ral­an­walts er­gan­ge­nen Be­schlus­ses, oh­ne Schluss­anträge über die Rechts­sa­che zu ent­schei­den,

fol­gen­des

Ur­teil

1 Das Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen be­trifft die Aus­le­gung der Richt­li­nie 76/207/EWG des Ra­tes vom 9. Fe­bru­ar 1976 zur Ver­wirk­li­chung des Grund­sat­zes der Gleich­be­hand­lung von Männern und Frau­en hin­sicht­lich des Zu­gangs zur Beschäfti­gung, zur Be­rufs­bil­dung und zum be­ruf­li­chen Auf­stieg so­wie in Be­zug auf die Ar­beits­be­din­gun­gen (ABl. 1976, L 39, S. 40) in der durch die Richt­li­nie 2002/73/EG des Eu­ropäischen Par­la­ments und des Ra­tes vom 23. Sep­tem­ber 2002 (ABl. 2002, L 269, S. 15) geänder­ten Fas­sung (im Fol­gen­den: Richt­li­nie 76/207) und der Richt­li­nie 2006/54/EG des Eu­ropäischen Par­la­ments und des Ra­tes vom 5. Ju­li 2006 zur Ver­wirk­li­chung des Grund­sat­zes der Chan­cen­gleich­heit und Gleich­be­hand­lung von Männern und Frau­en in Ar­beits- und Beschäfti­gungs­fra­gen (ABl. 2006, L 204, S. 23).
2

Die­ses Er­su­chen er­geht im Rah­men ei­nes Rechts­streits zwi­schen dem Ypo­ur­gos Eso­te­ri­kon (In­nen­mi­nis­ter, Grie­chen­land) und dem Ypo­ur­gos Eth­ni­kis paidei­as kai Thris­kev­ma­ton (Mi­nis­ter für na­tio­na­les Er­zie­hungs­we­sen und Re­li­gi­ons­an­ge­le­gen­hei­ten) ei­ner­seits und Frau Ma­ria-Ele­ni Kal­li­ri an­de­rer­seits über Frau Kal­li­ris Kla­ge auf Auf­he­bung der Ver­wal­tungs­ak­te, die auf der Grund­la­ge ei­ner na­tio­na­len Re­ge­lung er­las­sen wur­den, wo­nach die Zu­las­sung von Be­wer­bern zum Aus­wahl­ver­fah­ren für den Zu­gang zu den Schu­len der grie­chi­schen Po­li­zei von ei­ner Min­dest­größe abhängig ist.

Recht­li­cher Rah­men

Uni­ons­recht

3 Art. 1 Abs. 1 der Richt­li­nie 76/207 lau­tet:

„Die­se Richt­li­nie hat zum Ziel, dass in den Mit­glied­staa­ten der Grund­satz der Gleich­be­hand­lung von Männern und Frau­en hin­sicht­lich des Zu­gangs zur Beschäfti­gung, ein­sch­ließlich des Auf­stiegs, und des Zu­gangs zur Be­rufs­bil­dung so­wie in Be­zug auf die Ar­beits­be­din­gun­gen und in Be­zug auf die so­zia­le Si­cher­heit un­ter den in Ab­satz 2 vor­ge­se­he­nen Be­din­gun­gen ver­wirk­licht wird. Die­ser Grund­satz wird im Fol­gen­den als ‚Grund­satz der Gleich­be­hand­lung‘ be­zeich­net.“

4 Art. 2 die­ser Richt­li­nie be­stimmt:

„(1) Der Grund­satz der Gleich­be­hand­lung im Sin­ne der nach­ste­hen­den Be­stim­mun­gen be­inhal­tet, dass kei­ne un­mit­tel­ba­re oder mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund des Ge­schlechts - ins­be­son­de­re un­ter Be­zug­nah­me auf den Ehe- oder Fa­mi­li­en­stand - er­fol­gen darf.

(2) Im Sin­ne die­ser Richt­li­nie be­zeich­net der Aus­druck

- ‚un­mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung‘: wenn ei­ne Per­son auf­grund ih­res Ge­schlechts in ei­ner ver­gleich­ba­ren Si­tua­ti­on ei­ne we­ni­ger güns­ti­ge Be­hand­lung erfährt, als ei­ne an­de­re Per­son erfährt, er­fah­ren hat oder er­fah­ren würde;

- ‚mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung‘: wenn dem An­schein nach neu­tra­le Vor­schrif­ten, Kri­te­ri­en oder Ver­fah­ren Per­so­nen, die ei­nem Ge­schlecht an­gehören, in be­son­de­rer Wei­se ge­genüber Per­so­nen des an­de­ren Ge­schlechts be­nach­tei­li­gen können, es sei denn, die be­tref­fen­den Vor­schrif­ten, Kri­te­ri­en oder Ver­fah­ren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sach­lich ge­recht­fer­tigt und die Mit­tel sind zur Er­rei­chung die­ses Ziels an­ge­mes­sen und er­for­der­lich;

… “

5 Art. 3 Abs. 1 die­ser Richt­li­nie sieht vor:

„Die An­wen­dung des Grund­sat­zes der Gleich­be­hand­lung be­deu­tet, dass es im öffent­li­chen und pri­va­ten Be­reich ein­sch­ließlich öffent­li­cher Stel­len in Be­zug auf fol­gen­de Punk­te kei­ner­lei un­mit­tel­ba­re oder mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund des Ge­schlechts ge­ben darf:

a) die Be­din­gun­gen - ein­sch­ließlich Aus­wahl­kri­te­ri­en und Ein­stel­lungs­be­din­gun­gen - für den Zu­gang zu un­selbständi­ger und selbständi­ger Er­werbstätig­keit, un­abhängig von Tätig­keits­feld und be­ruf­li­cher Po­si­ti­on, ein­sch­ließlich des be­ruf­li­chen Auf­stiegs;

…“

Grie­chi­sches Recht

6 Nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. a des Ge­set­zes 2226/1994 über Zu­las­sung, Aus­bil­dung und wei­terführen­de Aus­bil­dung an den Schu­len der Po­li­zei­aka­de­mie und in der Un­ter­of­fi­ziers­ab­tei­lung der Feu­er­wehr­aka­de­mie (FEK Α’ 122) in der durch Art. 12 Abs. 1 des Ge­set­zes 2713/1999 (FEK Α’ 89) und dann durch Art. 20 des Ge­set­zes 3103/2003 (FEK A’ 23) geänder­ten Fas­sung wer­den zu die­sen Schu­len Männer und Frau­en zu­ge­las­sen. Nach die­ser Be­stim­mung sind die von den Be­wer­bern zu erfüllen­den An­for­de­run­gen und die Vor­aus­wahl­prüfun­gen, de­nen sie sich un­ter­zie­hen müssen, für bei­de Ge­schlech­ter gleich.
7

Art. 2 Abs. 1 Buchst. f des Präsi­di­al­de­krets 4/1995 über die Zu­las­sung zu den Schu­len für Of­fi­zie­re und Po­li­zis­ten gemäß dem Sys­tem all­ge­mei­ner Prüfun­gen (FEK A’ 1) in der durch Art. 1 Abs. 1 des Präsi­di­al­de­krets 90/2003 (FEK A’ 82) geänder­ten Fas­sung sieht vor, dass die zi­vi­len Be­wer­ber - Männer und Frau­en - für die Schu­len für Of­fi­zie­re und Po­li­zis­ten der Po­li­zei­aka­de­mie oh­ne Schu­he ei­ne Min­dest­größe von 1,70 m ha­ben müssen.

Aus­gangs­rechts­streit und Vor­la­ge­fra­ge
8 Mit Ent­schei­dung des Lei­ters der grie­chi­schen Po­li­zei wur­de gemäß den Be­stim­mun­gen des Präsi­di­al­de­krets 4/1995 in der durch das Präsi­di­al­de­kret 90/2003 geänder­ten Fas­sung ein Aus­wahl­ver­fah­ren für die Ein­schrei­bung in die Schu­len für Of­fi­zie­re und Po­li­zis­ten der grie­chi­schen Po­li­zei für das aka­de­mi­sche Jahr 2007/2008 be­kannt ge­ge­ben.
9 Nach Punkt II.6 die­ser Be­kannt­ma­chung muss­ten die Be­wer­ber für die­ses Aus­wahl­ver­fah­ren oh­ne Schu­he min­des­tens 1,70 m groß sein.
10 Frau Kal­li­ri be­warb sich bei der Po­li­zei­sta­ti­on Vracha­ti (Grie­chen­land) für die­ses Aus­wahl­ver­fah­ren und leg­te die er­for­der­li­chen Un­ter­la­gen vor, die ihr mit der Be­gründung zurück­ge­ge­ben wur­den, dass sie die nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. f des Präsi­di­al­de­krets 4/1995 in der durch Art. 1 Abs. 1 des Präsi­di­al­de­krets 90/2003 geänder­ten Fas­sung er­for­der­li­che Min­dest­größe von 1,70 m nicht er­rei­che, da sie nur 1,68 m groß sei.
11 Ba­sie­rend auf die­ser Rück­ga­be­hand­lung der Po­li­zei­sta­ti­on von Vracha­ti wur­de Frau Kal­li­ri die Teil­nah­me an dem frag­li­chen Aus­wahl­ver­fah­ren von der Ver­wal­tung ver­wei­gert.
12 Frau Kal­li­ri focht die­se Wei­ge­rung beim Dioi­ki­ti­ko Efe­teio Athi­non (Ver­wal­tungs­be­ru­fungs­ge­richt Athen, Grie­chen­land) an, das ih­rer Kla­ge statt­gab und fest­stell­te, dass Art. 2 Abs. 1 Buchst. f des Präsi­di­al­de­krets 4/1995 in der durch Art. 1 Abs. 1 des Präsi­di­al­de­krets 90/2003 geänder­ten Fas­sung den ver­fas­sungs­recht­li­chen Grund­satz der Gleich­heit der Ge­schlech­ter ver­let­ze, und die­se Be­stim­mun­gen für nich­tig erklärte.
13 Der In­nen­mi­nis­ter und der Mi­nis­ter für na­tio­na­les Er­zie­hungs­we­sen und Re­li­gi­ons­an­ge­le­gen­hei­ten leg­ten ge­gen die­se Ent­schei­dung des Dioi­ki­ti­ko Efe­teio Athi­non (Ver­wal­tungs­be­ru­fungs­ge­richt Athen) Be­ru­fung beim vor­le­gen­den Ge­richt ein.
14 Vor die­sem Hin­ter­grund hat der Sym­vou­lio tis Epik­ra­tei­as (Staats­rat, Grie­chen­land) das Ver­fah­ren aus­ge­setzt und dem Ge­richts­hof fol­gen­de Fra­ge zur Vor­ab­ent­schei­dung vor­ge­legt:

Ist Art. 1 Abs. 1 des Präsi­di­al­de­krets 90/2003, durch den Art. 2 Abs. 1 des Präsi­di­al­de­krets 4/1995 geändert wur­de und wo­nach zi­vi­le Be­wer­ber für das Aus­wahl­ver­fah­ren für den Zu­gang zu den Schu­len für Of­fi­zie­re und Po­li­zis­ten der Po­li­zei­aka­de­mie - ne­ben an­de­ren Ei­gen­schaf­ten - „ei­ne Köper­größe (Männer und Frau­en) von min­des­tens 1,70 m ha­ben müssen“, mit den Richt­li­ni­en 76/207, 2002/73 und 2006/54 ver­ein­bar, die je­de mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund des Ge­schlechts hin­sicht­lich des Zu­gangs zur Beschäfti­gung, zur Be­rufs­bil­dung und zum be­ruf­li­chen Auf­stieg so­wie in Be­zug auf die Ar­beits­be­din­gun­gen im öffent­li­chen Sek­tor ver­bie­ten (es sei denn, die­se im Er­geb­nis un­glei­che Be­hand­lung ist Fak­to­ren zu­zu­schrei­ben, die ob­jek­tiv ge­recht­fer­tigt sind und nichts mit ei­ner Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund des Ge­schlechts zu tun ha­ben, und geht nicht über das hin­aus, was ge­eig­net und er­for­der­lich ist, um dem mit der Maßnah­me ver­folg­ten Ziel zu die­nen)?

Zur Vor­la­ge­fra­ge

15 Mit sei­ner Fra­ge möch­te das vor­le­gen­de Ge­richt wis­sen, ob die Be­stim­mun­gen der Richt­li­ni­en 76/207 und 2006/54 da­hin aus­zu­le­gen sind, dass sie ei­ner Re­ge­lung ei­nes Mit­glied­staats wie der im Aus­gangs­ver­fah­ren strei­ti­gen ent­ge­gen­ste­hen, wo­nach für die Zu­las­sung von Be­wer­bern für das Aus­wahl­ver­fah­ren für den Zu­gang zur Po­li­zei­schu­le die­ses Mit­glied­staats un­abhängig von ih­rem Ge­schlecht ei­ne Min­destkörper­größe von 1,70 m er­for­der­lich ist.
16 Es ist zunächst zu er­mit­teln, ob der Aus­gangs­rechts­streit in den Gel­tungs­be­reich die­ser Be­stim­mun­gen fällt.
17 Da­zu ist fest­zu­stel­len, dass die­ser Rechts­streit Ver­wal­tungs­ak­te be­trifft, die im Jahr 2007 er­las­sen wor­den sind, nach­dem Frau Kal­li­ri ei­nen An­trag auf Zu­las­sung zum Aus­wahl­ver­fah­ren für den Zu­gang zu den Schu­len für Of­fi­zie­re und Po­li­zis­ten der grie­chi­schen Po­li­zei für das aka­de­mi­sche Jahr 2007/2008 ge­stellt hat­te.
18 Nach Art. 33 Abs. 1 der Richt­li­nie 2006/54 ist die Frist für ih­re Um­set­zung am 15. Au­gust 2008 ab­ge­lau­fen.
19 Außer­dem ist die Richt­li­nie 76/207 durch Art. 34 Abs. 1 der Richt­li­nie 2006/54 mit Wir­kung vom 15. Au­gust 2009 auf­ge­ho­ben wor­den.
20 Al­so sind auf den Sach­ver­halt des Aus­gangs­rechts­streits nicht die Be­stim­mun­gen der Richt­li­nie 2006/54, son­dern die­je­ni­gen der Richt­li­nie 76/207 zeit­lich an­wend­bar.
21 Die Richt­li­nie 76/207 hat nach ih­rem Art. 1 Abs. 1 zum Ziel, dass in den Mit­glied­staa­ten der Grund­satz der Gleich­be­hand­lung von Männern und Frau­en hin­sicht­lich des Zu­gangs zur Beschäfti­gung, ein­sch­ließlich des Auf­stiegs, und des Zu­gangs zur Be­rufs­bil­dung ver­wirk­licht wird.
22

Art. 3 Abs. 1 Buchst. a die­ser Richt­li­nie ver­bie­tet je­de un­mit­tel­ba­re oder mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund des Ge­schlechts im öffent­li­chen und pri­va­ten Be­reich ein­sch­ließlich öffent­li­cher Stel­len in Be­zug auf die Be­din­gun­gen – ein­sch­ließlich Aus­wahl­kri­te­ri­en und Ein­stel­lungs­be­din­gun­gen - für den Zu­gang zu un­selbständi­ger oder selbständi­ger Er­werbstätig­keit.

23 Dem­nach gilt die Richt­li­nie 76/207 für ei­ne Per­son, die ei­ne Beschäfti­gung sucht, und zwar auch in Be­zug auf die Aus­wahl­kri­te­ri­en und Ein­stel­lungs­be­din­gun­gen für die­se Beschäfti­gung (vgl. ent­spre­chend Ur­teil vom 28. Ju­li 2016, Krat­zer, C-423/15, EU:C:2016:604, Rn. 34).
24 Das ist bei ei­ner Per­son der Fall, die sich wie Frau Kal­li­ri für die Teil­nah­me an ei­nem Aus­wahl­ver­fah­ren für den Zu­gang zu ei­ner Po­li­zei­schu­le ei­nes Mit­glied­staats be­wirbt.
25 Die im Aus­gangs­ver­fah­ren strei­ti­ge Re­ge­lung berührt aber da­durch, dass sie vor­sieht, dass Per­so­nen, die we­ni­ger als 1,70 m groß sind, nicht zum Aus­wahl­ver­fah­ren für den Zu­gang zur grie­chi­schen Po­li­zei­schu­le zu­ge­las­sen wer­den können, die Ein­stel­lungs­be­din­gun­gen die­ser Ar­beit­neh­mer und ist dem­nach als ei­ne Re­ge­lung des Zu­gangs zur Beschäfti­gung im öffent­li­chen Be­reich im Sin­ne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richt­li­nie 76/207 an­zu­se­hen (vgl. ent­spre­chend Ur­tei­le vom 13. No­vem­ber 2014, Vi­tal Pérez, C-416/13, EU:C:2014:2371, Rn. 30, und vom 15. No­vem­ber 2016, Sa­l­a­b­er­ria So­ron­do, C-258/15, EU:C:2016:873, Rn. 25).
26 Folg­lich fällt ein Rechts­streit wie der beim vor­le­gen­den Ge­richt anhängi­ge in den sach­li­chen Gel­tungs­be­reich der Richt­li­nie 76/207.
27 Es ist da­her zu prüfen, ob die im Aus­gangs­ver­fah­ren frag­li­che Re­ge­lung zu ei­ner durch die­se Richt­li­nie ver­bo­te­nen Dis­kri­mi­nie­rung führt.
28 Da­zu ist fest­zu­stel­len, dass nach die­ser Re­ge­lung al­le Per­so­nen, die sich für das Aus­wahl­ver­fah­ren für den Zu­gang zur Po­li­zei­schu­le be­wer­ben, un­abhängig von ih­rem Ge­schlecht gleich be­han­delt wer­den.
29 Folg­lich führt die­se Re­ge­lung kei­ne un­mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung im Sin­ne von Art. 2 Abs. 2 ers­ter Ge­dan­ken­strich der Richt­li­nie 76/207 ein.
30 Al­ler­dings kann ei­ne sol­che Re­ge­lung ei­ne mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung im Sin­ne von Art. 2 Abs. 2 zwei­ter Ge­dan­ken­strich dar­stel­len.
31 Nach ständi­ger Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs liegt ei­ne mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung vor, wenn ei­ne na­tio­na­le Maßnah­me zwar neu­tral for­mu­liert ist, in ih­rer An­wen­dung aber ei­ne sehr viel höhe­re Zahl von Frau­en als von Männern be­nach­tei­ligt (vgl. u. a. Ur­tei­le vom 2. Ok­to­ber 1997, Kor­ding, C-100/95, EU:C:1997:453, Rn. 16, und vom 20. Ju­ni 2013, Riežnie­ce, C-7/12, EU:C:2013:410, Rn. 39).
32 Im vor­lie­gen­den Fall hat das vor­le­gen­de Ge­richt im Vor­la­ge­be­schluss selbst fest­ge­stellt, dass ei­ne höhe­re Zahl von Frau­en als von Männern we­ni­ger als 1,70 m groß ist, so dass Frau­en nach die­ser Re­ge­lung im Ver­gleich zu Männern in Be­zug auf die Zu­las­sung zum Aus­wahl­ver­fah­ren für den Zu­gang zur Schu­le für Of­fi­zie­re und Po­li­zis­ten der grie­chi­schen Po­li­zei sehr deut­lich be­nach­tei­ligt wer­den. Dar­aus folgt, dass die im Aus­gangs­ver­fah­ren in Re­de ste­hen­de Re­ge­lung zu ei­ner mit­tel­ba­ren Dis­kri­mi­nie­rung führt.
33 Aus Art. 2 Abs. 2 zwei­ter Ge­dan­ken­strich der Richt­li­nie 76/207 er­gibt sich je­doch, dass ei­ne sol­che Re­ge­lung kei­ne durch die­se Richt­li­nie ver­bo­te­ne mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung dar­stellt, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sach­lich ge­recht­fer­tigt ist und die Mit­tel zur Er­rei­chung die­ses Ziels an­ge­mes­sen und er­for­der­lich sind.
34 Auch wenn es Sa­che des vor­le­gen­den Ge­richts ist, fest­zu­stel­len, ob ei­ne sol­che Recht­fer­ti­gung be­steht, so ist doch der Ge­richts­hof, der dem vor­le­gen­den Ge­richt in sach­dien­li­cher Wei­se zu ant­wor­ten hat, dafür zuständig, die­sem Hin­wei­se zu ge­ben, die ihm die Ent­schei­dung ermögli­chen (vgl. in die­sem Sin­ne Ur­teil vom 10. März 2005, Ni­ko­lou­di, C-196/02, EU:C:2005:141, Rn. 48 und 49).
35 Im vor­lie­gen­den Fall trägt die grie­chi­sche Re­gie­rung vor, dass es Ziel der im Aus­gangs­ver­fah­ren frag­li­chen Re­ge­lung sei, die wirk­sa­me Erfüllung der Auf­ga­be der grie­chi­schen Po­li­zei zu ermögli­chen, und dass der Be­sitz ge­wis­ser be­son­de­rer phy­si­scher Eig­nun­gen, wie ei­ne Min­destkörper­größe, ei­ne er­for­der­li­che und an­ge­mes­se­ne Be­din­gung für die Er­rei­chung die­ses Ziels sei.
36 Wie der Ge­richts­hof be­reits fest­ge­stellt hat, stellt das Bemühen, die Ein­satz­be­reit­schaft und das ord­nungs­gemäße Funk­tio­nie­ren der Po­li­zei zu gewähr­leis­ten, ein rechtmäßiges Ziel dar (vgl. in Be­zug auf Art. 4 Abs. 1 der Richt­li­nie 2000/78/EG des Ra­tes vom 27. No­vem­ber 2000 zur Fest­le­gung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens für die Ver­wirk­li­chung der Gleich­be­hand­lung in Beschäfti­gung und Be­ruf [ABl. 2000, L 303, S. 16], de­ren Struk­tur, Be­stim­mun­gen und Ziel mit den­je­ni­gen der Richt­li­nie 76/207 weit­ge­hend ver­gleich­bar sind, Ur­tei­le vom 13. No­vem­ber 2014, Vi­tal Pérez, C-416/13, EU:C:2014:2371, Rn. 44, und vom 15. No­vem­ber 2016, Sa­l­a­b­er­ria So­ron­do, C-258/15, EU:C:2016:873, Rn. 38).
37 Al­ler­dings ist zu prüfen, ob ein Min­dest­größen­er­forder­nis wie das nach der im Aus­gangs­ver­fah­ren strei­ti­gen Re­ge­lung vor­ge­se­he­ne ge­eig­net ist, die Er­rei­chung des mit die­ser Re­ge­lung an­ge­streb­ten Ziels zu gewähr­leis­ten, und nicht über das hierfür Er­for­der­li­che hin­aus­geht.
38 Zwar kann die Ausübung von Tätig­kei­ten der Po­li­zei wie der Schutz von Per­so­nen und Sa­chen, die Fest­nah­me und In­ge­wahrs­am­nah­me von Straftätern so­wie der präven­ti­ve Strei­fen­dienst die An­wen­dung körper­li­cher Ge­walt er­for­dern und be­son­de­re körper­li­che Fähig­kei­ten er­for­der­lich ma­chen, den­noch er­for­dern be­stimm­te Po­li­zei­auf­ga­ben wie der Bei­stand für den Bürger und die Ver­kehrs­re­ge­lung of­fen­kun­dig kei­nen ho­hen körper­li­chen Ein­satz (vgl. in die­sem Sin­ne Ur­teil vom 13. No­vem­ber 2014, Vi­tal Pérez, C-416/13, EU:C:2014:2371, Rn. 39 und 40).
39 Selbst wenn im Übri­gen an­ge­nom­men wer­den soll­te, dass al­le von der grie­chi­schen Po­li­zei aus­geübten Auf­ga­ben ei­ne be­son­de­re körper­li­che Eig­nung er­for­dern, ist nicht er­sicht­lich, dass ei­ne sol­che Eig­nung zwangsläufig mit dem Be­sitz ei­ner Min­destkörper­größe ver­bun­den ist und dass klei­ne­re Per­so­nen darüber von Na­tur aus nicht verfügen.
40 In die­sem Zu­sam­men­hang kann ins­be­son­de­re der Um­stand her­an­ge­zo­gen wer­den, dass die grie­chi­sche Re­ge­lung bis zum Jahr 2003 für die Zu­las­sung zum Aus­wahl­ver­fah­ren für den Zu­gang zu den Schu­len für Of­fi­zie­re und Po­li­zis­ten der grie­chi­schen Po­li­zei für Männer und für Frau­en ver­schie­de­ne Min­dest­größen vor­ge­se­hen hat, da die er­for­der­li­che Min­dest­größe für Frau­en mit 1,65 m fest­ge­setzt war, während für Männer 1,70 m vor­ge­schrie­ben wa­ren.
41 Eben­falls maßgeb­lich ist, dass - wie Frau Kal­li­ri vorträgt - in Be­zug auf die grie­chi­schen Streit­kräfte, die grie­chi­sche Ha­fen­po­li­zei und die grie­chi­sche Küsten­wa­che für Männer und für Frau­en ver­schie­de­ne Min­dest­größen vor­ge­schrie­ben sind, und dass die Min­dest­größe für Frau­en 1,60 m beträgt.
42 Das von der im Aus­gangs­ver­fah­ren strei­ti­gen Re­ge­lung ver­folg­te Ziel könn­te je­den­falls mit Maßnah­men er­reicht wer­den, die für Per­so­nen weib­li­chen Ge­schlechts we­ni­ger nach­tei­lig sind, wie ei­ne Vor­aus­wahl der Be­wer­ber für das Aus­wahl­ver­fah­ren für den Zu­gang zu den Schu­len für Of­fi­zie­re und Po­li­zis­ten, die auf spe­zi­fi­schen Prüfun­gen zur Über­prüfung ih­rer körper­li­chen Fähig­kei­ten be­ruht.
43 Dar­aus folgt, dass die­se Re­ge­lung vor­be­halt­lich der dem vor­le­gen­den Ge­richt ob­lie­gen­den Prüfun­gen nicht ge­recht­fer­tigt ist.
44

Un­ter die­sen Umständen ist auf die Vor­la­ge­fra­ge zu ant­wor­ten, dass die Be­stim­mun­gen der Richt­li­nie 76/207 da­hin aus­zu­le­gen sind, dass sie der Re­ge­lung ei­nes Mit­glied­staats wie der im Aus­gangs­ver­fah­ren strei­ti­gen ent­ge­gen­ste­hen, wo­nach für die Zu­las­sung von Be­wer­bern für das Aus­wahl­ver­fah­ren für den Zu­gang zur Po­li­zei­schu­le die­ses Mit­glied­staats un­abhängig von ih­rem Ge­schlecht ei­ne Min­destkörper­größe von 1,70 m er­for­der­lich ist, wenn die­se Re­ge­lung ei­ne viel höhe­re Zahl von Per­so­nen weib­li­chen Ge­schlechts als männ­li­chen Ge­schlechts be­nach­tei­ligt und für die Er­rei­chung des rechtmäßigen Ziels, das sie ver­folgt, nicht ge­eig­net und er­for­der­lich ist, was zu prüfen Sa­che des vor­le­gen­den Ge­richts ist.

Kos­ten

45

Für die Par­tei­en des Aus­gangs­ver­fah­rens ist das Ver­fah­ren ein Zwi­schen­streit in dem bei dem vor­le­gen­den Ge­richt anhängi­gen Rechts­streit; die Kos­ten­ent­schei­dung ist da­her Sa­che die­ses Ge­richts. Die Aus­la­gen an­de­rer Be­tei­lig­ter für die Ab­ga­be von Erklärun­gen vor dem Ge­richts­hof sind nicht er­stat­tungsfähig.

Aus die­sen Gründen hat der Ge­richts­hof (Ers­te Kam­mer) für Recht er­kannt:

Die Be­stim­mun­gen der Richt­li­nie 76/207/EWG des Ra­tes vom 9. Fe­bru­ar 1976 zur Ver­wirk­li­chung des Grund­sat­zes der Gleich­be­hand­lung von Männern und Frau­en hin­sicht­lich des Zu­gangs zur Beschäfti­gung, zur Be­rufs­bil­dung und zum be­ruf­li­chen Auf­stieg so­wie in Be­zug auf die Ar­beits­be­din­gun­gen in der durch die Richt­li­nie 2002/73/EG des Eu­ropäischen Par­la­ments und des Ra­tes vom 23. Sep­tem­ber 2002 geänder­ten Fas­sung sind da­hin aus­zu­le­gen, dass sie der Re­ge­lung ei­nes Mit­glied­staats wie der im Aus­gangs­ver­fah­ren strei­ti­gen ent­ge­gen­ste­hen, wo­nach für die Zu­las­sung von Be­wer­bern für das Aus­wahl­ver­fah­ren für den Zu­gang zur Po­li­zei­schu­le die­ses Mit­glied­staats un­abhängig von ih­rem Ge­schlecht ei­ne Min­destkörper­größe von 1,70 m er­for­der­lich ist, wenn die­se Re­ge­lung ei­ne viel höhe­re Zahl von Per­so­nen weib­li­chen Ge­schlechts als männ­li­chen Ge­schlechts be­nach­tei­ligt und für die Er­rei­chung des rechtmäßigen Ziels, das sie ver­folgt, nicht ge­eig­net und er­for­der­lich ist, was zu prüfen Sa­che des vor­le­gen­den Ge­richts ist.

Un­ter­schrif­ten

Ver­fah­rens­spra­che: Grie­chisch.

Quel­le: Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on (EuGH), http://cu­ria.eu­ro­pa.eu

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