HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

EGMR, Ur­teil vom 21.07.2011, 28274/08

   
Schlagworte: Heinisch, Whistleblowing, Anzeige gegen Arbeitgeber
   
Gericht: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Aktenzeichen: 28274/08
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 21.07.2011
   
Leitsätze:
Vorinstanzen:
   

Eu­ropäischer Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te

An­ony­mi­sier­te nicht­amt­li­che Über­set­zung aus dem Eng­li­schen

FÜNF­TE SEK­TION

RECH­TSSA­CHE Hei­nisch ./. DEU­TSCH­LAND

(In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 28274/08)

UR­TEIL

STRASSBURG

21. Ju­li 2011

Die­ses Ur­teil wird nach Maßga­be von Ar­ti­kel 44 Abs. 2 der Kon­ven­ti­on endgültig. Es wird ge­ge­be­nen­falls noch re­dak­tio­nell übe­r­ar­bei­tet.

In der Rechts­sa­che Hei­nisch ./. Deutsch­land

hat der Eu­ropäische Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te (Fünf­te Sek­ti­on) als Kam­mer mit den Rich­te­rin­nen und Rich­tern

De­an Spiel­mann, Präsi­dent,
Ka­rel Jung­wiert,
Boštjan M. Zu­pančič,
Mark Vil­li­ger,
Isa­bel­le Ber­ro-Lefèvre,
Ann Power
und An­ge­li­ka Nußber­ger,
so­wie Clau­dia Wes­ter­diek, Sek­ti­ons­kanz­le­rin,

nach nicht öffent­li­cher Be­ra­tung am 21. Ju­ni 2011

das fol­gen­de Ur­teil er­las­sen, das am sel­ben Tag an­ge­nom­men wur­de.

VER­FAH­REN

1

Der Rechts­sa­che lag ei­ne In­di­vi­du­al­be­schwer­de (Nr. 28274/08) ge­gen die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land zu­grun­de, die ei­ne deut­sche Staats­an­gehöri­ge, Frau H. („die Be­schwer­deführe­rin“), am 9. Ju­ni 2008 nach Ar­ti­kel 34 der Kon­ven­ti­on zum Schutz der Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten („die Kon­ven­ti­on“) beim Ge­richts­hof ein­ge­reicht hat­te.

2

Die Be­schwer­deführe­rin wur­de von Herrn H., Rechts­an­walt in Ber­lin, ver­tre­ten. Die deut­sche Re­gie­rung („die Re­gie­rung“) wur­de durch ih­re Ver­fah­rens­be­vollmäch­tig­te, Frau Mi­nis­te­ri­al­di­ri­gen­tin A. Witt­ling-Vo­gel vom Bun­des­mi­nis­te­ri­um der Jus­tiz, ver­tre­ten.
3 Die Be­schwer­deführe­rin rügte ins­be­son­de­re, dass die frist­lo­se Kündi­gung ih­rer Beschäfti­gung als Al­ten­pfle­ge­rin, die da­mit be­gründet wor­den sei, dass sie ge­gen ih­re Ar­beit­ge­be­rin ei­ne Straf­an­zei­ge we­gen Mängeln in der in­sti­tu­tio­nel­len Pfle­ge er­stat­tet ha­be, und die Wei­ge­rung der in­ner­staat­li­chen Ge­rich­te in dem an­sch­ließen­den Kündi­gungs­schutz­ver­fah­ren, ih­re Wei­ter­beschäfti­gung an­zu­ord­nen, ihr Recht auf freie Mei­nungsäußerung ver­letzt hätten.
4 Am 15. De­zem­ber 2009 ent­schied der Präsi­dent der Fünf­ten Sek­ti­on, der Re­gie­rung die Be­schwer­de zur Kennt­nis zu brin­gen. Es wur­de fer­ner be­schlos­sen, über die Zulässig­keit und die Be­gründet­heit der Be­schwer­de gleich­zei­tig zu ent­schei­den (Ar­ti­kel 29 Abs. 1).
5 Die Be­schwer­deführe­rin und die Re­gie­rung nah­men zur Zulässig­keit und zur Be­gründet­heit der Be­schwer­de Stel­lung. Darüber hin­aus ging ei­ne Stel­lung­nah­me der Dritt­be­tei­lig­ten V. ein, ei­ner Ge­werk­schaft, die An­ge­stell­te aus dem Dienst­leis­tungs­sek­tor, u. a. von Pfle­ge­diens­ten, ver­tritt und die vom Präsi­den­ten zur Teil­nah­me am schrift­li­chen Ver­fah­ren ermäch­tigt wor­den war (Ar­ti­kel 36 Abs. 2 der Kon­ven­ti­on und Ar­ti­kel 44 Abs. 3 der Ver­fah­rens­ord­nung); sie wur­de von ih­rem Vor­sit­zen­den B. und ih­rem stell­ver­tre­ten­den Vor­sit­zen­den H. ver­tre­ten. Die Par­tei­en er­wi­der­ten auf die­se Stel­lung­nah­me der Dritt­be­tei­lig­ten (Ar­ti­kel 44 Abs. 6 der Ver­fah­rens­ord­nung).

SACH­VER­HALT

I. DIE UM­STÄNDE DER RECH­TSSA­CHE

6 Die 19... ge­bo­re­ne Be­schwer­deführe­rin ist in B. wohn­haft. Sie war vom 16. Sep­tem­ber 2000 bis zu ih­rer Ent­las­sung am 9. Fe­bru­ar 2005 als Al­ten­pfle­ge­rin bei der auf Ge­sund­heits­pfle­ge, Ger­ia­trie und Al­ten­hil­fe spe­zia­li­sier­ten X. beschäftigt, die sich im Mehr­heits­be­sitz des Lan­des Ber­lin be­fin­det.

A. Die Vor­komm­nis­se, die der Kündi­gung der Be­schwer­deführe­rin vor­aus­gin­gen

7 Ab Ja­nu­ar 2002 war die Be­schwer­deführe­rin in ei­nem von X. be­trie­be­nen Al­ten­pfle­ge­heim tätig, des­sen Be­woh­ner teil­wei­se bettläge­rig, des­ori­en­tiert und ins­ge­samt auf be­son­de­re Un­terstützung an­ge­wie­sen wa­ren. 2002 stell­te der me­di­zi­ni­sche Dienst der Kran­ken­kas­sen (im Fol­gen­den „MDK“) er­heb­li­che, auf die ge­rin­ge Per­so­nal­aus­stat­tung zurück­zuführen­de Mängel bei der dort ge­leis­te­ten Pfle­ge fest.
8 Vom 24. Ja­nu­ar 2003 bis zum 19. Ok­to­ber 2004 wie­sen die Be­schwer­deführe­rin und ih­re Kol­le­gen die Geschäfts­lei­tung re­gelmäßig dar­auf hin, dass sie auf­grund des Per­so­nal­man­gels über­las­tet sei­en und in­fol­ge­des­sen Schwie­rig­kei­ten hätten, ih­ren Pflich­ten nach­zu­kom­men. Sie be­nann­ten die kon­kre­ten Mängel bei der ge­leis­te­ten Pfle­ge und erwähn­ten auch, dass die Leis­tun­gen nicht ord­nungs­gemäß do­ku­men­tiert würden. In ei­ner Über­las­tungs­an­zei­ge vom 18. Mai 2003 erwähn­te die Be­schwer­deführe­rin darüber hin­aus, dass sie nicht mehr in der La­ge sei, die Ver­ant­wor­tung für die aus dem Per­so­nal­man­gel re­sul­tie­ren­den Pfle­gemängel zu tra­gen. Ab dem 19. Mai 2003 er­krank­te die Be­schwer­deführe­rin zu­dem wie­der­holt und war teil­wei­se ar­beits­unfähig. Aus­weis­lich ei­ner ärzt­li­chen Be­schei­ni­gung war dies auf Über­las­tung zurück­zuführen.
9 Im No­vem­ber 2003 stell­te der MDK nach ei­ner wei­te­ren Prüfung schwer­wie­gen­de Mängel bei der ge­leis­te­ten Pfle­ge fest, und zwar u. a. un­zu­rei­chen­de per­so­nel­le Aus­stat­tung, un­zu­rei­chen­de Stan­dards und un­genügen­de Pfle­ge so­wie man­gel­haf­te Do­ku­men­ta­ti­on der Pfle­ge; er droh­te des­halb die Kündi­gung des Ver­sor­gungs­ver­trags mit der Ar­beit­ge­be­rin der Be­schwer­deführe­rin an. An­sch­ließend fan­den Um­struk­tu­rie­run­gen statt.
10 Nach wei­te­ren Hin­wei­sen an ih­re Vor­ge­setz­ten, ins­be­son­de­re im Ok­to­ber 2004, in de­nen sie die Si­tua­ti­on schil­der­te, er­krank­te die Be­schwer­deführe­rin er­neut und wand­te sich schließlich an ei­nen Rechts­an­walt.
11 Mit Schrei­ben vom 9. No­vem­ber 2004 wand­te sich der Rechts­an­walt der Be­schwer­deführe­rin an die Geschäfts­lei­tung von X. Er wies dar­auf hin, dass auf­grund des Per­so­nal­man­gels ei­ne aus­rei­chen­de hy­gie­ni­sche Grund­ver­sor­gung nicht mehr gewähr­leis­tet wer­den könne. Er for­der­te die Geschäfts­lei­tung auch auf dar­zu­le­gen, wie straf­recht­li­che Fol­gen – auch für das Per­so­nal – ver­mie­den und ei­ne aus­rei­chen­de Ver­sor­gung der Heim­be­woh­ner si­cher­ge­stellt wer­den könn­ten. Er wies die Geschäfts­lei­tung dar­auf hin, dass nur auf die­sem We­ge die Ein­lei­tung ei­nes staats­an­walt­schaft­li­chen Er­mitt­lungs­ver­fah­rens oder ei­ne öffent­li­che Dis­kus­si­on über die Si­tua­ti­on mit all ih­ren ne­ga­ti­ven Fol­gen ver­mie­den wer­den könn­ten. Er setz­te der Geschäfts­lei­tung ei­ne Frist bis zum 22. No­vem­ber 2004, um dar­auf zu ant­wor­ten.
12 Am 18. No­vem­ber 2004 führ­te der MDK ei­ne er­neu­te un­an­ge­mel­de­te Prüfung der Ein­rich­tung durch. Später war zwi­schen den Par­tei­en strit­tig, ob der MDK tatsächlich fest­ge­stellt hat­te, dass die Per­so­nal­si­tua­ti­on zwar an­ge­spannt, je­doch nicht kri­tisch sei.
13 Am 22. No­vem­ber 2004 wies die Geschäfts­lei­tung die Vorwürfe der Be­schwer­deführe­rin zurück.
14 Am 7. De­zem­ber 2004 er­stat­te­te der Rechts­an­walt der Be­schwer­deführe­rin we­gen be­son­ders schwe­ren Be­trugs Straf­an­zei­ge ge­gen X. und for­der­te die Staats­an­walt­schaft da­zu auf, die Umstände des Falls un­ter al­len in Be­tracht kom­men­den recht­li­chen Ge­sichts­punk­ten zu prüfen. Er leg­te dar, dass die Straf­an­zei­ge auch das Ziel ver­fol­ge, straf­recht­li­che Fol­gen für die Be­schwer­deführe­rin zu ver­mei­den, die X. viel­fach auf Missstände auf­merk­sam ge­macht ha­be, oh­ne dass dies zu ei­ner Ver­bes­se­rung der Pfle­ge geführt ha­be. Er trug vor, dass ih­re Ar­beit­ge­be­rin auf­grund des Per­so­nal­man­gels und der un­zu­rei­chen­den Stan­dards wis­sent­lich nicht die in ih­rer Wer­bung an­gekündig­te qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ge Pfle­ge bie­te, so­mit die be­zahl­ten Leis­tun­gen nicht er­brin­ge und die Be­woh­ner gefähr­de. Er be­haup­te­te auch, dass X. sys­te­ma­tisch ver­su­che, die be­ste­hen­den Pro­ble­me zu ver­tu­schen, und die Mit­ar­bei­ter an­hal­te, Be­rich­te über die er­brach­ten Leis­tun­gen zu fälschen. In der An­zei­ge wur­de auf den Be­richt des MDK im An­schluss an des­sen Be­such im Jahr 2003 ver­wie­sen und dar­auf hin­ge­wie­sen, dass die Be­schwer­deführe­rin be­reit sei, die schlech­ten Be­din­gun­gen in dem Pfle­ge­heim zu bestäti­gen. Die An­zei­ge be­inhal­te­te fer­ner die von der Be­schwer­deführe­rin ge­stell­ten Über­las­tungs­an­zei­gen und ver­wies auf ein im Rah­men ei­ner Mit­ar­bei­ter­ver­samm­lung er­stell­tes Pro­to­koll, in dem den Mit­ar­bei­tern von X. ge­ra­ten wur­de, mit den Be­woh­nern und de­ren Ver­wand­ten nicht über Per­so­nal- und Zeit­man­gel zu spre­chen, um dis­zi­pli­nar­recht­li­che Kon­se­quen­zen zu ver­mei­den. Die Straf­an­zei­ge be­inhal­te­te außer­dem fol­gen­de Pas­sa­ge:

„Die X. GmbH, die fi­nan­zi­ell an­ge­schla­gen ist und um ih­ren Zu­stand weiß, hat ... An­gehöri­ge ... getäuscht. Den ... auf­ge­brach­ten Kos­ten steht kei­ne auch nur annähernd adäqua­te Ge­gen­leis­tung ge­genüber. Die X. GmbH be­rei­chert sich so­mit ... und nimmt ... die me­di­zi­ni­sche und hy­gie­ni­sche Un­ter­ver­sor­gung der Be­woh­ner in Kauf. ... Hier­an zeigt sich, ... wie die­se sys­te­ma­tisch und un­ter Einschüchte­rung ih­rer Mit­ar­bei­ter ver­sucht, die be­ste­hen­den Pro­ble­me zu ver­tu­schen. Die Pfle­ge­kräfte wer­den an­ge­hal­ten, Leis­tun­gen zu do­ku­men­tie­ren, wel­che so gar nicht er­bracht wor­den sind. ...auch in an­de­ren Ein­rich­tun­gen [be­ste­hen] ähn­li­che Pro­ble­me ..., so dass ein Scha­den in Mil­lio­nenhöhe in Re­de steht.“

15 Am 10. De­zem­ber 2004 wand­te sich der Rechts­an­walt der Be­schwer­deführe­rin auch an den Ver­wal­tungs­rat ih­rer Ar­beit­ge­be­rin und erklärte, dass in dem Pfle­ge­heim Per­so­nal­man­gel und un­zu­rei­chen­de hy­gie­ni­sche Verhält­nis­se herrsch­ten.
16 Am 5. Ja­nu­ar 2005 stell­te die Staats­an­walt­schaft Ber­lin das Er­mitt­lungs­ver­fah­ren ge­gen X. nach § 170 Abs. 2 St­PO (sie­he „Ein­schlägi­ges in­ner­staat­li­ches Recht und ein­schlägi­ge in­ner­staat­li­che Pra­xis“) ein.
17 Mit Schrei­ben vom 19. Ja­nu­ar 2005 kündig­te das Pfle­ge­heim der Be­schwer­deführe­rin aus krank­heits­be­ding­ten Gründen mit Wir­kung zum 31. März 2005. Da­ge­gen er­hob die Be­schwer­deführe­rin Kündi­gungs­schutz­kla­ge vor dem Ar­beits­ge­richt Ber­lin (35 Ca 3077/05).
18 Im An­schluss nahm die Be­schwer­deführe­rin Kon­takt zu Freun­den und ih­rer Ge­werk­schaft, der V., auf. Am 27. Ja­nu­ar 2005 ga­ben sie ein Flug­blatt mit fol­gen­der Über­schrift her­aus:

„X. will Kol­le­gen/In­nen einschüchtern!!

Nicht mit uns!

So­for­ti­ge Rück­nah­me der ... Kündi­gung der Kol­le­gin B. bei X.

Ein­la­dung zur Gründung ei­nes über­par­tei­li­chen So­li­da­ritäts­krei­ses“

In dem Flug­blatt stand auch, die Be­schwer­deführe­rin ha­be Straf­an­zei­ge er­stat­tet, die je­doch nicht zur Ein­lei­tung straf­recht­li­cher Er­mitt­lun­gen geführt ha­be, und dass sie krank­heits­be­dingt ent­las­sen wor­den sei. Außer­dem stand Fol­gen­des dar­in:

„Weh­ren wir uns end­lich ... Der Wahn­sinn, dass pri­va­te Be­trei­ber ge­mein­sam mit dem Ber­li­ner SPD/PDS-Se­nat aus rei­ner Pro­fit­gier un­ser al­ler Ar­beits­kraft zerstören... X. nutzt das so­zia­le En­ga­ge­ment sei­nes Per­so­nals scham­los aus. ... [H]ier geht es um weit mehr als um ei­ne Kündi­gung! Dies ist ei­ne po­li­ti­sche Dis­zi­pli­nie­rung, um [Beschäftig­te] ... mund­tot zu ma­chen ...“

19 Am 31. Ja­nu­ar 2005 fax­te die Be­schwer­deführe­rin ein Flug­blatt an die Ein­rich­tung, wo die­ses ver­teilt wur­de. Erst zu die­sem Zeit­punkt wur­de X. auf die Straf­an­zei­ge der Be­schwer­deführe­rin auf­merk­sam.
20 Am 1. Fe­bru­ar 2005 gab die Ar­beit­ge­be­rin der Be­schwer­deführe­rin Ge­le­gen­heit, sich zu dem Flug­blatt zu äußern, was sie je­doch ab­lehn­te. Am 4. Fe­bru­ar 2005 setz­te X. den Be­triebs­rat von ih­rer Ab­sicht in Kennt­nis, der Be­schwer­deführe­rin frist­los zu kündi­gen. Am 8. Fe­bru­ar 2005 erklärte der Be­triebs­rat, dass er der Kündi­gung der Be­schwer­deführe­rin nicht zu­stim­men wer­de.
21 Am 9. Fe­bru­ar 2005 kündig­te die Ar­beit­ge­be­rin der Be­schwer­deführe­rin we­gen des Ver­dachts, die Er­stel­lung und Ver­brei­tung des Flug­blatts in­iti­iert zu ha­ben, frist­los, hilfs­wei­se zum 31. März 2005.
22 Im An­schluss dar­an wur­de ein neu­es Flug­blatt her­aus­ge­ge­ben, in dem über die Kündi­gung be­rich­tet wur­de; außer­dem wur­de in ei­ner Fern­seh­sen­dung so­wie in zwei Ar­ti­keln, die in ver­schie­de­nen Zei­tun­gen er­schie­nen, darüber be­rich­tet.
23 Am 21. Fe­bru­ar 2005 nahm die Staats­an­walt­schaft Ber­lin das Er­mitt­lungs­ver­fah­ren ge­gen X. auf An­trag der Be­schwer­deführe­rin wie­der auf.
24 Am 25. Fe­bru­ar 2005 reich­te die Be­schwer­deführe­rin beim Ar­beits­ge­richt Ber­lin Kla­ge ge­gen ih­re frist­lo­se Kündi­gung vom 9. Fe­bru­ar 2005 ein (39 Ca 4775/05).
25 Am 25. April 2005 kündig­te die frühe­re Ar­beit­ge­be­rin der Be­schwer­deführe­rin er­neut. Die Kla­ge der Be­schwer­deführe­rin vom 25. Fe­bru­ar 2005 wur­de so­dann ent­spre­chend er­wei­tert.
26 Am 12. Mai 2005 wur­de die Be­schwer­deführe­rin von der Staats­an­walt­schaft als Zeu­gin in dem Er­mitt­lungs­ver­fah­ren ge­gen X. ver­nom­men. Am 26. Mai 2005 wur­de das Er­mitt­lungs­ver­fah­ren er­neut nach § 170 Abs. 2 St­PO ein­ge­stellt.

B. Zi­vil­ver­fah­ren nach der frist­lo­sen Kündi­gung der Be­schwer­deführe­rin

27 Mit Ur­teil vom 3. Au­gust 2005 (39 Ca 4775/05) stell­te das Ar­beits­ge­richt Ber­lin fest, dass das Ar­beits­verhält­nis nicht durch die Kündi­gung vom 9. Fe­bru­ar 2005 auf­gelöst wor­den sei, weil sie we­der nach § 626 Abs. 1 BGB, noch nach § 1 Abs. 1 KSchG (sie­he „Ein­schlägi­ges in­ner­staat­li­ches Recht und ein­schlägi­ge in­ner­staat­li­che Pra­xis“) ge­recht­fer­tigt sei. Es stell­te in­so­weit fest, dass das Flug­blatt – des­sen In­halt der Be­schwer­deführe­rin zu­zu­rech­nen sei, da sie es oh­ne wei­te­re Erklärung an ih­re Ar­beit­ge­be­rin über­mit­telt ha­be – von ih­rem Grund­recht auf Mei­nungs­frei­heit ge­deckt sei und ih­re ar­beits­ver­trag­li­chen Pflich­ten nicht ver­let­ze. Es sei zwar po­le­misch, ba­sie­re aber auf ob­jek­ti­ven Gründen und der Be­triebs­frie­den in dem Pfle­ge­heim sei nicht be­ein­träch­tigt wor­den.
28 Nach ei­ner Ver­hand­lung am 28. März 2006 hob das Lan­des­ar­beits­ge­richt Ber­lin, mit Ur­teil vom sel­ben Da­tum, das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts auf und stell­te fest, dass die Kündi­gung vom 9. Fe­bru­ar 2005 wirk­sam ge­we­sen sei, da mit der Straf­an­zei­ge der Be­schwer­deführe­rin der er­for­der­li­che „wich­ti­ge Grund“ für die frist­lo­se Kündi­gung nach § 626 Abs. 1 BGB vor­ge­le­gen ha­be und ei­ne Fort­set­zung des Dienst­verhält­nis­ses un­zu­mut­bar ge­we­sen sei. Es stell­te fest, die Be­schwer­deführe­rin ha­be ih­re Straf­an­zei­ge leicht­fer­tig auf Tat­sa­chen ge­gründet, die sie im Pro­zess nicht ha­be dar­le­gen können, weil ins­be­son­de­re ih­re bloße Be­zug­nah­me auf den Per­so­nal­man­gel nicht aus­rei­che, um ei­nen Ab­rech­nungs­be­trug an­zu­zei­gen, und weil die Be­schwer­deführe­rin die be­haup­te­te An­wei­sung zur Fälschung von Be­rich­ten fer­ner nicht kon­kre­ti­siert ha­be – was sich auch aus dem Um­stand er­ge­be, dass die Staats­an­walt­schaft kei­ner­lei Er­mitt­lun­gen ein­ge­lei­tet ha­be. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt stell­te fer­ner fest, dass die Straf­an­zei­ge ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on auf die Wei­ge­rung sei­tens X. dar­stel­le, den von ihr be­haup­te­ten Per­so­nal­man­gel als be­ste­hend an­zu­er­ken­nen, denn die Be­schwer­deführe­rin ha­be bezüglich des be­haup­te­ten Ab­rech­nungs­be­trugs ei­ne in­ner­be­trieb­li­che Klärung nie ver­sucht und ha­be darüber hin­aus be­ab­sich­tigt, durch das Her­vor­ru­fen ei­ner öffent­li­chen Dis­kus­si­on un­zulässi­gen Druck auf ih­re Ar­beit­ge­be­rin aus­zuüben. Es wies auch dar­auf hin, dass das Pfle­ge­heim un­ter der Auf­sicht des MDK ste­he, der am 18. No­vem­ber 2004, kurz be­vor die Be­schwer­deführe­rin Straf­an­zei­ge ge­stellt ha­be, ei­ne wei­te­re Prüfung in der Ein­rich­tung durch­geführt ha­be. Sie hätte das Er­geb­nis die­ses Be­suchs ab­war­ten können, wes­halb ih­re Straf­an­zei­ge unnötig ge­we­sen sei. Das Ge­richt nahm auch auf die vom Bun­des­ar­beits­ge­richt in des­sen ein­schlägi­ger Recht­spre­chung nie­der­ge­leg­ten Grundsätze (sie­he „Ein­schlägi­ges in­ner­staat­li­ches Recht und ein­schlägi­ge in­ner­staat­li­che Pra­xis“) Be­zug und kam zu dem Schluss, dass die Be­schwer­deführe­rin nicht im Rah­men ih­rer Ver­fas­sungs­rech­te ge­han­delt und ih­re Loya­litäts­pflicht ge­genüber ih­rer Ar­beit­ge­be­rin ver­letzt ha­be.
29 Am 6. Ju­ni 2007 wies das Bun­des­ar­beits­ge­richt die Be­schwer­de der Be­schwer­deführe­rin ge­gen die Nicht­zu­las­sung der Re­vi­si­on zurück.
30 Mit Be­schluss vom 6. De­zem­ber 2007, wel­cher der Be­schwer­deführe­rin am 12. De­zem­ber 2007 zu­ge­stellt wur­de, lehn­te es das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt oh­ne An­ga­be von Gründen ab, ih­re Ver­fas­sungs­be­schwer­de zur Ent­schei­dung an­zu­neh­men.

II. EINSCHLÄGI­GES IN­NERSTAAT­LICHES RECHT UND VÖLKER­RECHT SO­WIE EINSCHLÄGI­GE IN­NERSTAAT­LICHE UND VÖLKER­RECHT­LICHE PRA­XIS

A. Ein­schlägi­ges in­ner­staat­li­ches Recht und ein­schlägi­ge in­ner­staat­li­che Pra­xis

1. Kündi­gung ei­nes Ar­beit­neh­mers we­gen ei­ner Straf­an­zei­ge ge­gen den Ar­beit­ge­ber

31 Ab­ge­se­hen von spe­zi­el­len Be­stim­mun­gen für Be­am­te bezüglich der Mel­dung von Kor­rup­ti­ons­ver­dachtsfällen enthält das deut­sche Recht kei­ne all­ge­mei­nen Be­stim­mun­gen für die Of­fen­le­gung von Missständen in Un­ter­neh­men oder Ein­rich­tun­gen durch ei­nen Ar­beit­neh­mer (so­ge­nann­tes Whist­leb­lo­wing), bei­spiels­wei­se bei rechts­wid­ri­gem Ver­hal­ten sei­tens des Ar­beit­ge­bers, und die Dis­kus­sio­nen über ent­spre­chen­de Ge­set­zes­entwürfe ha­ben noch nicht zu Er­geb­nis­sen geführt.

(a) Die ein­schlägi­gen Be­stim­mun­gen des Bürger­li­chen Ge­setz­buchs und des Kündi­gungs­schutz­ge­set­zes

32 Da es kei­ne sol­chen spe­zi­el­len Be­stim­mun­gen gibt, kann die außer­or­dent­li­che Kündi­gung ei­nes Ar­beit­neh­mers we­gen Er­stat­tung ei­ner Straf­an­zei­ge ge­gen den Ar­beit­ge­ber auf § 626 Abs. 1 BGB ge­gründet wer­den, der vor­sieht, dass ein Dienst­verhält­nis von je­dem Ver­trags­teil aus „wich­ti­gem Grund“ oh­ne Ein­hal­tung ei­ner Kündi­gungs­frist gekündigt wer­den kann. Hier­zu müssen Tat­sa­chen vor­lie­gen, auf Grund de­rer dem Kündi­gen­den un­ter Berück­sich­ti­gung al­ler Umstände des Ein­zel­falls und un­ter Abwägung der In­ter­es­sen bei­der Ver­trags­tei­le die Fort­set­zung des Dienst­verhält­nis­ses bis zum Ab­lauf der Kündi­gungs­frist oder bis zu der ver­ein­bar­ten Be­en­di­gung des Dienst­verhält­nis­ses nicht zu­ge­mu­tet wer­den kann.
33 Nach § 1 Abs. 1 KSchG ist die Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses durch den Ar­beit­ge­ber rechts­un­wirk­sam, wenn sie so­zi­al un­ge­recht­fer­tigt ist. Laut § 1 Abs. 2 KSchG ist die Kündi­gung so­zi­al un­ge­recht­fer­tigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Per­son oder in dem Ver­hal­ten des Ar­beit­neh­mers lie­gen, oder durch drin­gen­de be­trieb­li­che Er­for­der­nis­se, die ei­ner Wei­ter­beschäfti­gung des Ar­beit­neh­mers in die­sem Be­trieb ent­ge­gen­ste­hen, be­dingt ist.

(b) Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts und des Bun­des­ar­beits­ge­richts

34 In ei­ner Ent­schei­dung vom 2. Ju­li 2001 (1 BvR 2049/00) be­fass­te sich das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt mit ei­nem Fall, bei dem ein Ar­beit­neh­mer auf An­for­de­rung der Staats­an­walt­schaft in ei­nem Er­mitt­lungs­ver­fah­ren, das von Amts we­gen ge­gen sei­ne Ar­beit­ge­be­rin ein­ge­lei­tet wor­den war, als Zeu­ge aus­sag­te und Un­ter­la­gen überg­ab. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt stell­te fest, dass die Ausübung der Staatsbürger­pflicht, in ei­nem Straf­ver­fah­ren aus­zu­sa­gen, an sich nicht zu zi­vil­recht­li­chen Nach­tei­len führen dürfe. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt wies fer­ner in ei­nem ob­iter dic­tum dar­auf hin, dass selbst für den Fall, dass ein Ar­beit­neh­mer sei­nen Ar­beit­ge­ber von sich aus bei der Staats­an­walt­schaft an­zei­ge, ei­ne sol­che Ausübung der staatsbürger­li­chen Rech­te aus rechts­staat­li­chen Gründen im Re­gel­fall kei­ne frist­lo­se Kündi­gung ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses recht­fer­ti­gen könne, so­weit der An­ge­stell­te nicht wis­sent­lich oder leicht­fer­tig fal­sche An­ga­ben ge­macht ha­be.
35 Im Lich­te der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts ging das Bun­des­ar­beits­ge­richt in ei­nem Ur­teil vom 3. Ju­li 2003 (2 AZR 235/02) näher auf das Verhält­nis zwi­schen der Loya­litäts­pflicht ei­nes Ar­beit­neh­mers ge­genüber sei­nem Ar­beit­ge­ber und der Ausübung sei­ner ver­fas­sungs­recht­lich ga­ran­tier­ten Rech­te ein. Es wies dar­auf hin, dass ein Ar­beit­neh­mer mit der Er­stat­tung ei­ner Straf­an­zei­ge ei­ne nicht nur von der Rechts­ord­nung er­laub­te und ge­bil­lig­te, son­dern auch von Ver­fas­sungs we­gen ge­for­der­te Möglich­keit der Rechts­ver­fol­gung wahr­neh­me. Ein Ar­beit­neh­mer, der in gu­tem Glau­ben von die­sem Recht Ge­brauch ma­che, dürfe da­her kei­ne Nach­tei­le da­durch er­lei­den, dass sich sei­ne Be­haup­tung im an­sch­ließen­den Ver­fah­ren als un­rich­tig oder nicht aufklärbar er­weist. Das Ge­richt ver­trat je­doch die Auf­fas­sung, dass sich ei­ne von ei­nem Ar­beit­neh­mer er­stat­te­te [Straf-]An­zei­ge un­ter Berück­sich­ti­gung der Loya­litäts­pflicht des Ar­beit­neh­mers nicht als ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on auf ein Ver­hal­ten des Ar­beit­ge­bers dar­stel­len dürfe. Als In­di­zi­en für ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on des an­zei­gen­den Ar­beit­neh­mers könn­ten so­wohl die Be­rech­ti­gung der An­zei­ge als auch die Mo­ti­va­ti­on des An­zei­gen­den oder ein feh­len­der in­ner­be­trieb­li­cher Hin­weis auf die an­ge­zeig­ten Missstände spre­chen. In die­sem Zu­sam­men­hang sei­en die Gründe, die den Ar­beit­neh­mer da­zu be­wo­gen hätten, die An­zei­ge zu er­stat­ten, von be­son­de­rer Be­deu­tung. Er­fol­ge die Er­stat­tung der An­zei­ge aus­sch­ließlich, um den Ar­beit­ge­ber zu schädi­gen bzw. „fer­tig zu ma­chen“, könne − un­ter Berück­sich­ti­gung des der An­zei­ge zu­grun­de lie­gen­den Vor­wurfs − ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on vor­lie­gen. Was die Möglich­keit ei­ner vor­he­ri­gen in­ner­be­trieb­li­chen Klärung an­ge­he, müsse nach An­sicht des Ge­richts im Ein­zel­fall be­stimmt wer­den, ob dem Ar­beit­neh­mer ei­ne sol­che Her­an­ge­hens­wei­se oh­ne wei­te­res zu­mut­bar sei. Sie sei un­zu­mut­bar, wenn der Ar­beit­neh­mer Kennt­nis von Straf­ta­ten er­hal­te, durch de­ren Nicht­an­zei­ge er sich selbst ei­ner Straf­ver­fol­gung aus­set­zen würde, oder die schwer­wie­gend oder vom Ar­beit­ge­ber selbst be­gan­ge­nen sei­en. Wei­ter sei ei­ne vor­he­ri­ge in­ner­be­trieb­li­che Klärung auch dann nicht er­for­der­lich, wenn Ab­hil­fe be­rech­tig­ter­wei­se nicht zu er­war­ten sei. Falls der Ar­beit­ge­ber nicht für Ab­hil­fe sor­ge, ob­wohl der Ar­beit­neh­mer ihn zu­vor auf die ge­set­zes­wid­ri­ge Pra­xis im Un­ter­neh­men hin­ge­wie­sen ha­be, be­ste­he auch kei­ne wei­te­re ver­trag­li­che Loya­litäts­pflicht mehr.

2. Straf­pro­zess­ord­nung

36 § 170 St­PO sieht für den Aus­gang des Er­mitt­lungs­ver­fah­rens fol­gen­de Möglich­kei­ten vor:

„(1) Bie­ten die Er­mitt­lun­gen genügen­den An­lass zur Er­he­bung der öffent­li­chen Kla­ge, so er­hebt die Staats­an­walt­schaft sie durch Ein­rei­chung ei­ner An­kla­ge­schrift bei dem zuständi­gen Ge­richt.

(2) An­dern­falls stellt die Staats­an­walt­schaft das Ver­fah­ren ein. Hier­von setzt sie den Be­schul­dig­ten in Kennt­nis, wenn er als sol­cher ver­nom­men wor­den ist oder ein Haft­be­fehl ge­gen ihn er­las­sen war; das­sel­be gilt, wenn er um ei­nen Be­scheid ge­be­ten hat oder wenn ein be­son­de­res In­ter­es­se an der Be­kannt­ga­be er­sicht­lich ist.“

B. Das ein­schlägi­ge Völker­recht und die ein­schlägi­ge völker­recht­li­che Pra­xis

37 In ih­rer Ent­schließung 1729 (2010) über „den Schutz von In­for­man­ten“ un­ter­strich die Par­la­men­ta­ri­sche Ver­samm­lung des Eu­ro­pa­rats die Be­deu­tung des „Whist­leb­lo­wing“ (bei dem be­trof­fe­ne Per­so­nen Alarm schla­gen, um ein Fehl­ver­hal­ten zu be­en­den, das an­de­re Per­so­nen gefähr­det) als Möglich­keit zur Stärkung der Ver­ant­wort­lich­keit und des Kamp­fes ge­gen Kor­rup­ti­on und Miss­ma­nage­ment im öffent­li­chen und pri­va­ten Sek­tor. Sie for­der­te al­le Mit­glied­staa­ten da­zu auf, ih­re ge­setz­li­chen Be­stim­mun­gen über den Schutz von „Whist­leb­lo­wern“ un­ter Berück­sich­ti­gung der fol­gen­den Grundsätze zu über­prüfen:

6.1.1. Die De­fi­ni­ti­on geschütz­ter Enthüllun­gen um­fasst al­le in gu­tem Glau­ben geäußer­ten War­nun­gen vor ver­schie­de­nen Ar­ten rechts­wid­ri­ger Hand­lun­gen, u. a. sämt­li­che schwe­ren Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, die das Le­ben, die Ge­sund­heit, die Frei­heit oder sons­ti­ge be­rech­tig­te In­ter­es­sen Ein­zel­ner als Sub­jek­te der öffent­li­chen Ver­wal­tung oder als Steu­er­zah­ler, An­teils­eig­ner, Ar­beit­neh­mer oder Kun­den von Pri­vat­un­ter­neh­men be­ein­träch­ti­gen oder be­dro­hen;

6.1.2. die ge­setz­li­chen Be­stim­mun­gen soll­ten da­her für Whist­leb­lo­wer im öffent­li­chen und im pri­va­ten Sek­tor gel­ten ..., und

6.1.3. sie soll­ten re­le­van­te Fra­gen aus fol­gen­den Rechts­be­rei­chen ko­di­fi­zie­ren:

6.1.3.1. Ar­beits­recht − ins­be­son­de­re der Schutz vor un­ge­recht­fer­tig­ten Kündi­gun­gen und an­de­ren Ar­ten ar­beits­be­zo­ge­ner Ver­gel­tungs­maßnah­men; ...

6.2.2. Die ge­setz­li­chen Be­stim­mun­gen soll­ten ei­ne Per­son, die in gu­tem Glau­ben be­ste­hen­de in­ner­be­trieb­li­che Whist­leb­lo­wing-Kanäle nutzt, vor Ver­gel­tungs­maßnah­men je­der Art (un­ge­recht­fer­tig­te Kündi­gung, Schi­ka­nie­rung oder an­de­re stra­fen­de oder dis­kri­mi­nie­ren­de Be­hand­lung) schützen.

6.2.3. Gibt es kei­ne in­ner­be­trieb­li­chen Kanäle, ha­ben die­se nicht funk­tio­niert, oder kann, auf­grund der Art des vom Whist­leb­lo­wer auf­ge­wor­fe­nen Pro­blems, nicht vernünf­ti­ger­wei­se da­von aus­ge­gan­gen wer­den, dass sie funk­tio­nie­ren, soll­te das ex­ter­ne Whist­leb­lo­wing, auch über die Me­di­en, eben­falls geschützt wer­den.

6.2.4. Es wird bei je­dem Whist­leb­lo­wer da­von aus­ge­gan­gen, dass er in gu­tem Glau­ben ge­han­delt hat, so­weit er vernünf­ti­ge Gründe für die An­nah­me hat­te, dass die of­fen­ge­leg­ten In­for­ma­tio­nen wahr wa­ren, selbst wenn sich später her­aus­stellt, dass dies nicht der Fall war, und vor­aus­ge­setzt, dass er kei­ne rechts­wid­ri­gen oder un­ethi­schen Zie­le ver­folgt hat.

Auf die oben ge­nann­ten Leit­li­ni­en wur­de auch in der Ent­schließung 1916 (2010) der Par­la­men­ta­ri­schen Ver­samm­lung Be­zug ge­nom­men.

38 Ar­ti­kel 24 der re­vi­dier­ten Eu­ropäischen So­zi­al­char­ta lau­tet wie folgt:

„Um die wirk­sa­me Ausübung des Rechts auf Schutz bei Kündi­gung zu gewähr­leis­ten, ver­pflich­ten sich die Ver­trags­par­tei­en: ...

a) das Recht der Ar­beit­neh­mer, nicht oh­ne ei­nen trif­ti­gen Grund gekündigt zu wer­den, der mit ih­rer Fähig­keit oder ih­rem Ver­hal­ten zu­sam­menhängt oder auf den Er­for­der­nis­sen der Tätig­keit des Un­ter­neh­mens, des Be­triebs oder des Diens­tes be­ruht;

...

an­zu­er­ken­nen.“

Im An­hang zu Ar­ti­kel 24 heißt es:

„3. Für die Zwe­cke die­ses Ar­ti­kels gel­ten ins­be­son­de­re nicht als trif­ti­ge Gründe für ei­ne Kündi­gung: ...

c) die Tat­sa­che, dass je­mand we­gen ei­ner be­haup­te­ten Ver­let­zung von Rechts­vor­schrif­ten ei­ne Kla­ge ge­gen den Ar­beit­ge­ber ein­reicht, an ei­nem Ver­fah­ren ge­gen ihn be­tei­ligt ist oder die zuständi­gen Ver­wal­tungs­behörden an­ruft; ...“

Ar­ti­kel 24 der re­vi­dier­ten Eu­ropäischen So­zi­al­char­ta wur­de von 24 Mit­glied­staa­ten des Eu­ro­pa­rats ra­ti­fi­ziert. Deutsch­land hat die re­vi­dier­te Eu­ropäische So­zi­al­char­ta un­ter­zeich­net, aber noch nicht ra­ti­fi­ziert.

39 Ar­ti­kel 5 des Übe­r­ein­kom­mens der In­ter­na­tio­na­len Ar­beits­or­ga­ni­sa­ti­on über die Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses durch den Ar­beit­ge­ber (IAO-Übe­r­ein­kom­men Nr. 158 vom 22. Ju­ni 1982) sieht vor:

„Für die Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses gel­ten ins­be­son­de­re nicht als trif­ti­ge Gründe: ...

c) der Um­stand, dass je­mand we­gen ei­ner be­haup­te­ten Ver­let­zung von Ge­set­zes­vor­schrif­ten ge­gen den Ar­beit­ge­ber ei­ne Kla­ge ein­ge­bracht oder sich an ei­nem Ver­fah­ren ge­gen ihn be­tei­ligt oder die zuständi­gen Ver­wal­tungs­behörden an­ge­ru­fen hat;...“

Deutsch­land hat das IAO-Übe­r­ein­kom­men Nr. 158 nicht ra­ti­fi­ziert.

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Ei­ne Rei­he an­de­rer völker­recht­li­cher Übe­r­einkünf­te be­fas­sen sich mit dem Schutz von Whist­leb­lo­wern in be­stimm­ten Si­tua­tio­nen, ins­be­son­de­re im Zu­sam­men­hang mit der Bekämp­fung von Kor­rup­ti­on, z.B. das Straf­rechts- und das Zi­vil­rechtsübe­r­ein­kom­men des Eu­ro­pa­ra­tes über Kor­rup­ti­on oder das Übe­r­ein­kom­men der Ver­ein­ten Na­tio­nen ge­gen Kor­rup­ti­on.

RECHT­LICHE WÜRDI­GUNG

I. BE­HAUP­TE­TE VER­LET­ZUNG VON AR­TIKEL 10 DER KON­VEN­TION

41 Die Be­schwer­deführe­rin rügte, dass ih­re frist­lo­se Kündi­gung we­gen der Er­stat­tung ei­ner Straf­an­zei­ge ge­gen ih­re Ar­beit­ge­be­rin und die Wei­ge­rung der in­ner­staat­li­chen Ge­rich­te in dem an­sch­ließen­den Kündi­gungs­schutz­ver­fah­ren, ih­re Wei­ter­beschäfti­gung an­zu­ord­nen, ihr in Ar­ti­kel 10 der Kon­ven­ti­on ver­an­ker­tes Recht auf freie Mei­nungsäußerung ver­letz­ten; die­ser lau­tet wie folgt:

„(1) Je­de Per­son hat das Recht auf freie Mei­nungsäußerung. Die­ses Recht schließt die Mei­nungs­frei­heit und die Frei­heit ein, In­for­ma­tio­nen und Ide­en oh­ne behörd­li­che Ein­grif­fe und oh­ne Rück­sicht auf Staats­gren­zen zu emp­fan­gen und wei­ter­zu­ge­ben. Die­ser Ar­ti­kel hin­dert die Staa­ten nicht, für Hörfunk-, Fern­seh- oder Ki­no­un­ter­neh­men ei­ne Ge­neh­mi­gung vor­zu­schrei­ben.

(2) Die Ausübung die­ser Frei­hei­ten ist mit Pflich­ten und Ver­ant­wor­tung ver­bun­den; sie kann da­her Form­vor­schrif­ten, Be­din­gun­gen, Ein­schränkun­gen oder Straf­dro­hun­gen un­ter­wor­fen wer­den, die ge­setz­lich vor­ge­se­hen und in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft not­wen­dig sind für die na­tio­na­le Si­cher­heit, die ter­ri­to­ria­le Un­ver­sehrt­heit oder die öffent­li­che Si­cher­heit, zur Auf­recht­er­hal­tung der Ord­nung oder zur Verhütung von Straf­ta­ten, zum Schutz der Ge­sund­heit oder der Mo­ral, zum Schutz des gu­ten Ru­fes oder der Rech­te an­de­rer, zur Ver­hin­de­rung der Ver­brei­tung ver­trau­li­cher In­for­ma­tio­nen oder zur Wah­rung der Au­to­rität und der Un­par­tei­lich­keit der Recht­spre­chung.“

A. Zulässig­keit

42 Der Ge­richts­hof stellt fest, dass die­se Rüge nicht im Sin­ne von Ar­ti­kel 35 Abs. 3 Buch­sta­be a der Kon­ven­ti­on of­fen­sicht­lich un­be­gründet ist. Sie ist auch nicht aus an­de­ren Gründen un­zulässig. Folg­lich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Be­gründet­heit

1. Gab es ei­nen Ein­griff?

43 Der Ge­richts­hof stellt zunächst fest, dass zwi­schen den Par­tei­en nicht strit­tig war, dass es sich bei der von der Be­schwer­deführe­rin er­stat­te­ten Straf­an­zei­ge um Whist­leb­lo­wing im Hin­blick auf das be­haup­te­te rechts­wid­ri­ge Ver­hal­ten der Ar­beit­ge­be­rin han­del­te, das un­ter Ar­ti­kel 10 der Kon­ven­ti­on fällt. Es war fer­ner un­strei­tig, dass die dar­aus fol­gen­de Kündi­gung der Be­schwer­deführe­rin und die ent­spre­chen­den Ent­schei­dun­gen der in­ner­staat­li­chen Ge­rich­te ei­nen Ein­griff in das Recht der Be­schwer­deführe­rin auf freie Mei­nungsäußerung dar­stell­ten.
44

Der Ge­richts­hof ruft in die­sem Zu­sam­men­hang in Er­in­ne­rung, dass er in meh­re­ren Fällen, bei de­nen es um die freie Mei­nungsäußerung von Be­am­ten oder An­ge­stell­ten des öffent­li­chen Diens­tes ging, fest­ge­stellt hat, dass Ar­ti­kel 10 für das Ar­beits­le­ben all­ge­mein gilt (sie­he z.B. Ku­desh­ki­na ./. Russ­land, In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 29492/05, Rd­nr. 85, 26. Fe­bru­ar 2009, und V. ./. Deutsch­land, 26. Sep­tem­ber 1995, Rd­nr. 53, Se­rie A Band 323). Er hat fer­ner be­fun­den, dass Ar­ti­kel 10 der Kon­ven­ti­on auch an­wend­bar ist, wenn das Verhält­nis zwi­schen Ar­beit­ge­ber und Ar­beit­neh­mer, wie im vor­lie­gen­den Fall, pri­vat­recht­lich ge­re­gelt ist, und dass der Staat auch im Verhält­nis von ein­zel­nen Per­so­nen un­ter­ein­an­der ei­ne po­si­ti­ve Ver­pflich­tung zum Schutz des Rechts auf freie Mei­nungsäußerung hat (sie­he Fu­en­tes Bo­bo ./. Spa­ni­en, In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 39293/98, Rd­nr. 38, 29. Fe­bru­ar 2000).

45 Der Ge­richts­hof ist da­her der Auf­fas­sung, dass die von den deut­schen Ge­rich­ten bestätig­te Kündi­gung der Be­schwer­deführe­rin auf­grund ih­rer Straf­an­zei­ge ge­gen ih­re Ar­beit­ge­be­rin ei­nen Ein­griff in ihr in Ar­ti­kel 10 Abs. 1 der Kon­ven­ti­on ga­ran­tier­tes Recht auf freie Mei­nungsäußerung dar­stell­te.
46 Ein sol­cher Ein­griff verstößt ge­gen Ar­ti­kel 10, wenn er nicht „ge­setz­lich vor­ge­se­hen“ ist, ein le­gi­ti­mes Ziel nach Ab­satz 2 ver­folgt und „in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft“ zur Er­rei­chung die­ses Ziels oder die­ser Zie­le „not­wen­dig“ ist.

2. War der Ein­griff „ge­setz­lich vor­ge­se­hen“ und hat er ein le­gi­ti­mes Ziel ver­folgt?

47

Die Be­schwer­deführe­rin räum­te zwar ein, dass die frist­lo­se Kündi­gung ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses nach § 626 Abs. 1 BGB das le­gi­ti­me Ziel ver­fol­gen könne, das An­se­hen oder die Rech­te an­de­rer, und so­mit auch die geschäft­li­che Re­pu­ta­ti­on und die In­ter­es­sen von X., zu schützen, brach­te aber vor, dass die ge­nann­te Vor­schrift kei­ne Kri­te­ri­en für ei­ne rechtmäßige Ent­las­sung für den Fall vor­se­he, dass ein Ar­beit­neh­mer Whist­leb­lo­wing be­trei­be. Die dies­bezügli­chen Ent­schei­dun­gen des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts vom 2. Ju­li 2001 und des Bun­des­ar­beits­ge­richts vom 3. Ju­li 2003 (sie­he „Ein­schlägi­ges in­ner­staat­li­ches Recht und ein­schlägi­ge in­ner­staat­li­che Pra­xis“) stell­ten in die­sem Zu­sam­men­hang kei­ne um­fas­sen­de und ge­fes­tig­te Recht­spre­chung dar. Die Be­din­gun­gen für ei­ne frist­lo­se Kündi­gung we­gen der Er­stat­tung ei­ner Straf­an­zei­ge durch den Ar­beit­neh­mer ge­gen sei­nen Ar­bei­ter­ge­ber sei­en nicht hin­rei­chend vor­her­seh­bar und der dar­aus fol­gen­de Ein­griff in das Recht der Be­schwer­deführe­rin auf freie Mei­nungsäußerung sei dem­nach nicht im Sin­ne von Ar­ti­kel 10 Abs. 2 „ge­setz­lich vor­ge­se­hen“ ge­we­sen.
48 Der Ge­richts­hof stellt in die­sem Zu­sam­men­hang fest, dass § 626 Abs. 1 BGB je­dem Ver­trags­teil die frist­lo­se Kündi­gung ei­nes Ar­beits­ver­trags ge­stat­tet, wenn dem Kündi­gen­den die Fort­set­zung des Dienst­verhält­nis­ses aus ei­nem „wich­ti­gen Grund“ nicht zu­ge­mu­tet wer­den kann. Er stellt fer­ner fest, dass ei­ne Straf­an­zei­ge ge­gen ei­nen Ar­beit­ge­ber laut den Ent­schei­dun­gen der in­ner­staat­li­chen Ge­rich­te in der vor­lie­gen­den Rechts­sa­che und laut den von den Par­tei­en an­geführ­ten Lei­tent­schei­dun­gen des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts und des Bun­des­ar­beits­ge­richts ei­ne Kündi­gung nach die­ser Be­stim­mung recht­fer­ti­gen könne, wenn sie ei­ne „er­heb­li­che Ver­let­zung“ der Loya­litäts­pflicht des Ar­beit­neh­mers dar­stellt. Auch wenn die in­ner­staat­li­chen Ge­rich­te im Lich­te der Umstände ei­nes je­den Ein­zel­falls prüfen müssen, ob die Loya­litäts­pflicht ei­nes Ar­beit­neh­mers er­heb­lich ver­letzt wur­de, ist der Ge­richts­hof der Auf­fas­sung, dass es für ei­nen Ar­beit­neh­mer den­noch vor­her­seh­bar ist, dass ei­ne Straf­an­zei­ge ge­gen sei­nen Ar­beit­ge­ber grundsätz­lich ei­nen wich­ti­gen Grund für ei­ne Kündi­gung nach der ge­nann­ten Be­stim­mung dar­stel­len kann. Der Ge­richts­hof weist in die­sem Zu­sam­men­hang er­neut dar­auf hin, dass von den in­ner­staat­li­chen Rechts­vor­schrif­ten nicht er­war­tet wer­den kann, dass sie je­de Even­tua­lität re­geln, und die Tat­sa­che, dass es mehr als ei­ne Fall­kon­stel­la­ti­on für ei­ne Rechts­vor­schrift gibt, für sich ge­nom­men nicht be­deu­tet, dass die­se das durch den Be­griff „ge­setz­lich vor­ge­se­hen“ im­pli­zier­te Er­for­der­nis nicht erfüllt (sie­he V. ./. Deutsch­land, 26. Sep­tem­ber 1995, Rd­nr. 48, Se­rie A Band 323).
49 Der Ge­richts­hof teilt da­her die Auf­fas­sung der Re­gie­rung, dass der Ein­griff in das Recht der Be­schwer­deführe­rin auf freie Mei­nungsäußerung „ge­setz­lich vor­ge­se­hen“ war. Er stellt fer­ner fest, dass zwi­schen den Par­tei­en un­strei­tig war, dass der Ein­griff das le­gi­ti­me Ziel ver­folg­te, das An­se­hen und die Rech­te an­de­rer, nämlich das geschäft­li­che An­se­hen und die In­ter­es­sen von X., zu schützen (sie­he Steel und Mor­ris ./. Ver­ei­nig­tes König­reich, In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 68416/01, Rd­nr. 94, ECHR 2005‑II).
50 Der Ge­richts­hof muss da­her prüfen, ob der Ein­griff „in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft not­wen­dig“ war, und ins­be­son­de­re, ob zwi­schen dem Ein­griff und dem ver­folg­ten Ziel ein an­ge­mes­se­nes Verhält­nis be­stand.

3. War der Ein­griff in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft not­wen­dig?

(a) Die Stel­lung­nah­men der Par­tei­en

(i) Die Re­gie­rung

51 Die Re­gie­rung brach­te vor, der Ein­griff in das Recht der Be­schwer­deführe­rin auf freie Mei­nungsäußerung in der vor­lie­gen­den Rechts­sa­che sei nach Ar­ti­kel 10 Abs. 2 ge­recht­fer­tigt ge­we­sen, da ih­re frist­lo­se Kündi­gung ein not­wen­di­ges und an­ge­mes­se­nes Mit­tel ge­we­sen sei, um das An­se­hen und die Rech­te ih­rer Ar­beit­ge­be­rin zu schützen.
52 Bei ih­rer Be­wer­tung der Si­tua­ti­on hätten die in­ner­staat­li­chen Ge­rich­te un­ter an­de­rem berück­sich­tigt, dass die Be­schwer­deführe­rin ih­re Be­haup­tung, die Do­ku­men­ta­ti­on der er­brach­ten Pfle­ge­leis­tun­gen sei gefälscht wor­den, nicht zunächst in­ner­be­trieb­lich bei ih­rer Ar­beit­ge­be­rin vor­ge­bracht ha­be. In den Über­las­tungs­an­zei­gen und in dem Schrei­ben ih­res An­walts an die Geschäfts­lei­tung von X. vom 9. No­vem­ber 2004 ha­be sie we­der auf ei­ne sol­che Pra­xis hin­ge­wie­sen, noch den Vor­wurf des Be­trugs ge­gen ih­re Ar­beit­ge­be­rin er­ho­ben. Die Be­trugs­vorwürfe ha­be sie erst­mals in ih­rer Straf­an­zei­ge vom 7. De­zem­ber 2004 er­ho­ben.
53 Zu­dem sei­en die in­ner­staat­li­chen Ge­rich­te zu dem Er­geb­nis ge­kom­men, dass die Be­schwer­deführe­rin ih­re Straf­an­zei­ge leicht­fer­tig auf Tat­sa­chen ge­gründet ha­be, die im an­sch­ließen­den Ver­fah­ren nicht hätten dar­ge­legt wer­den können. Ih­rer Straf­an­zei­ge hätten hin­rei­chend kon­kre­te An­halts­punk­te ge­fehlt, die es er­laubt hätten, ih­re Be­haup­tun­gen zu über­prüfen, wes­halb die zuständi­ge Staats­an­walt­schaft das Ver­fah­ren man­gels An­fangs­ver­dacht ein­ge­stellt ha­be. Als die Staats­an­walt­schaft nach der Wie­der­auf­nah­me des Er­mitt­lungs­ver­fah­rens auf An­trag der Be­schwer­deführe­rin die­se als Zeu­gin ver­nom­men ha­be, ha­be sie sich ge­wei­gert, ih­re An­ga­ben zu kon­kre­ti­sie­ren oder Zeu­gen zu be­nen­nen. Dar­auf­hin sei das Er­mitt­lungs­ver­fah­ren er­neut ein­ge­stellt wor­den. Auch in dem Kündi­gungs­schutz­ver­fah­ren vor den Ar­beits­ge­rich­ten ha­be die Be­schwer­deführe­rin kei­ne nähe­ren An­ga­ben ge­macht, um ih­re Be­haup­tung zu be­le­gen, Pfle­ge­kräfte sei­en an­ge­hal­ten wor­den, Leis­tun­gen zu do­ku­men­tie­ren, die so nicht er­bracht wor­den sei­en. We­gen der Pau­scha­lität des geäußer­ten Ver­dachts und der Wei­ge­rung der Be­schwer­deführe­rin, ih­re Be­haup­tun­gen zu un­ter­mau­ern, hätten die­se letzt­lich nicht auf ih­ren Wahr­heits­ge­halt über­prüft wer­den können und die in­ner­staat­li­chen Ge­rich­te hätten die Au­then­ti­zität der Be­haup­tun­gen der Be­schwer­deführe­rin dem­nach er­mes­sens­feh­ler­frei in Fra­ge stel­len können.
54 Die Re­gie­rung brach­te schließlich vor, dass die Be­schwer­deführe­rin nicht in gu­tem Glau­ben und im öffent­li­chen In­ter­es­se an der Auf­de­ckung ei­ner Straf­tat ge­han­delt ha­be, als sie Straf­an­zei­ge ge­gen ih­re Ar­beit­ge­be­rin er­ho­ben ha­be. Viel­mehr ha­be sie mit ih­rer Straf­an­zei­ge den an­geb­li­chen Per­so­nal­man­gel an­pran­gern und ih­re Ar­beit­ge­be­rin durch Be­tei­li­gung der Öffent­lich­keit zusätz­lich un­ter Druck set­zen wol­len. Der Be­schwer­deführe­rin sei be­kannt ge­we­sen, dass X. der Heim­auf­sicht des Lan­des Ber­lin und der Kon­trol­le durch ei­ne un­abhängi­ge Kon­troll­in­stanz, den MDK, un­ter­le­gen ha­be und dass ei­ne Straf­an­zei­ge we­gen ei­nes an­geb­li­chen Per­so­nal­man­gels und dar­aus fol­gend ei­ner Be­ein­träch­ti­gung der Pfle­ge­qua­lität unnötig ge­we­sen sei. Ins­be­son­de­re hätte sie vor Er­stat­tung ei­ner Straf­an­zei­ge die Er­geb­nis­se der Un­ter­su­chung des MDK vom 18. No­vem­ber 2004 ab­war­ten können. Die Be­weg­gründe für ihr Han­deln sei­en auch aus der po­le­mi­schen Art und Wei­se er­sicht­lich, wie die Straf­an­zei­ge ab­ge­fasst ge­we­sen sei, so­wie aus der Tat­sa­che, dass sie nach ih­rer Kündi­gung Flugblätter ver­teilt ha­be, in de­nen sie sich über die an­geb­li­che Geld­gier ih­rer Ar­beit­ge­be­rin be­klagt ha­be. Auch das Schrei­ben ih­res Be­vollmäch­tig­ten an die X.-Geschäfts­lei­tung vom 9. No­vem­ber 2004, in dem die­ser an­gekündigt ha­be, dass ei­ne Straf­an­zei­ge und ei­ne „si­cher nicht ge­neh­me öffent­li­che Dis­kus­si­on“ nur ver­mie­den wer­den könne, wenn die Ar­beit­ge­be­rin dem Per­so­nal­man­gel ab­hel­fe, deu­te dar­auf hin, dass sie Druck auf ih­re Ar­beit­ge­be­rin ha­be ausüben wol­len.
55 Die Re­gie­rung stell­te fest, dass die in­ner­staat­li­chen Ge­rich­te die Umstände der in Re­de ste­hen­den Rechts­sa­che ge­prüft hätten und un­ter Berück­sich­ti­gung der oben ge­nann­ten Ar­gu­men­te ei­ne ge­rech­te Abwägung zwi­schen dem In­ter­es­se der All­ge­mein­heit, über De­fi­zi­te in dem sen­si­blen Be­reich der Al­ten­pfle­ge in­for­miert zu wer­den, ei­ner­seits, und dem Schutz des Ver­trau­ens der All­ge­mein­heit in der­ar­ti­ge Dienst­leis­tun­gen so­wie dem Schutz der wirt­schaft­li­chen In­ter­es­sen und des Er­folgs der Dienst­leis­tungs­un­ter­neh­men an­de­rer­seits vor­ge­nom­men hätten und zu dem Schluss ge­kom­men sei­en, dass Letz­te­rer in der vor­lie­gen­den Rechts­sa­che über­wie­ge. Sie brach­te fer­ner vor, die in­ner­staat­li­chen Ge­rich­te hätten zwi­schen der Mei­nungs­frei­heit der Be­schwer­deführe­rin und ih­rer Loya­litäts­pflicht ge­genüber ih­rer Ar­beit­ge­be­rin ab­ge­wo­gen und da­bei Kri­te­ri­en an­ge­wen­det, die de­nen ent­spro­chen hätten, die der Ge­richts­hof in der Rechts­sa­che Gu­ja (Gu­ja ./. Mol­dau [GK], In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 14277/04, Rd­nrn. 69-78, ECHR 2008‑...) fest­ge­legt ha­be. Das Er­geb­nis ih­rer Einschätzung sei da­her in den Er­mes­sens­spiel­raum ge­fal­len, den Staa­ten bei Ein­grif­fen in das Recht auf freie Mei­nungsäußerung ge­nießen würden.

(ii) Die Be­schwer­deführe­rin

56 Die Be­schwer­deführe­rin be­stritt das Vor­brin­gen der Re­gie­rung, ih­re Straf­an­zei­ge sei ver­früht ge­we­sen. Sie be­haup­te­te, sie ha­be sich vor Er­stat­tung der Straf­an­zei­ge ge­gen X. über ei­nen Zeit­raum von mehr als zwei Jah­ren kon­ti­nu­ier­lich bemüht, die ent­spre­chen­den Ab­tei­lun­gen des Un­ter­neh­mens über die be­ste­hen­den Missstände zu in­for­mie­ren. Weil sämt­li­che Bemühun­gen ih­rer­seits, die Geschäfts­lei­tung auf die herr­schen­den Umstände auf­merk­sam zu ma­chen, um­sonst ge­we­sen sei­en, ha­be sie Grund zu der An­nah­me ge­habt, dass wei­te­re in­ner­be­trieb­li­che Be­schwer­den mit Blick auf die Er­mitt­lung und Be­sei­ti­gung der Pfle­gemängel kein wirk­sa­mes Mit­tel dar­stel­len würden. Aus die­sem Grund sei die Straf­an­zei­ge als letz­te Möglich­keit für sie in Fra­ge ge­kom­men, nicht zu­letzt weil sie selbst ei­ner mögli­chen straf­recht­li­chen Ver­ant­wort­lich­keit ha­be ent­ge­hen wol­len. Dies sei auch der Grund ge­we­sen, den ihr Rechts­an­walt in sei­nem Schrei­ben an die X.-Geschäfts­lei­tung vom 9. No­vem­ber 2004 über die be­ab­sich­tig­te Er­stat­tung ei­ner Straf­an­zei­ge ge­nannt ha­be.
57 Darüber hin­aus brach­te die Be­schwer­deführe­rin vor, ih­re Straf­an­zei­ge sei we­der leicht­fer­tig noch un­be­gründet ge­we­sen. Im Rah­men ih­rer wie­der­hol­ten Ap­pel­le an X. ha­be sie al­le Umstände mit­ge­teilt, die ih­rer dar­auf fol­gen­den Straf­an­zei­ge zu­grun­de ge­le­gen hätten, und zwar u. a. die Tat­sa­che, dass Mit­ar­bei­ter an­ge­hal­ten wor­den sei­en, Leis­tun­gen zu do­ku­men­tie­ren, die so nicht er­bracht wor­den sei­en. Die von ihr of­fen­bar­ten Mängel ha­be auch der MDK kri­ti­siert, der nach sei­nen Prüfun­gen in den Jah­ren 2002 und 2003 dar­auf hin­ge­wie­sen ha­be, dass Per­so­nal­man­gel zu Pfle­gemängeln führe. Ihr An­walt ha­be die­se Tat­sa­chen vom recht­li­chen Stand­punkt aus be­wer­tet, als er die Straf­an­zei­ge aus­ge­ar­bei­tet und die Tat­sa­chen als Tat­be­stands­merk­ma­le des Be­trugs ein­ge­ord­net ha­be; ihr persönlich feh­le es an der nöti­gen Kom­pe­tenz, um die­se Einschätzung in Fra­ge zu stel­len. Wei­ter­hin ha­be sie ih­re An­zei­ge im dar­auf fol­gen­den Ver­fah­ren wei­test­ge­hend sub­stan­ti­iert, sei sich aber be­wusst ge­we­sen, dass sie mit der Of­fen­le­gung wei­te­rer in­ter­ner In­for­ma­tio­nen über das Un­ter­neh­men Ge­fahr lau­fe, sich selbst zu be­las­ten und Ver­gel­tungs­maßnah­men von X. aus­ge­setzt zu wer­den.
58 Die Be­schwer­deführe­rin trug vor, der Be­weg­grund für ih­re An­zei­ge sei die aus den un­be­frie­di­gen­den Ar­beits­be­din­gun­gen in dem Pfle­ge­heim re­sul­tie­ren­de po­ten­zi­el­le Gefähr­dung der Ge­sund­heit be­son­ders schutz­bedürf­ti­ger Pa­ti­en­ten ge­we­sen; der Fra­ge, ob die Be­gleit­do­ku­men­ta­ti­on feh­ler­frei war, ha­be sie nur un­ter­ge­ord­ne­te Be­deu­tung bei­ge­mes­sen. Ih­rer Mei­nung nach war die Straf­an­zei­ge nicht, wie von der Re­gie­rung vor­ge­bracht, an­ge­sichts der Prüfun­gen durch den MDK unnötig; darüber hin­aus be­stritt sie das Vor­brin­gen, dass der ei­gent­li­che Zweck ih­rer An­zei­ge die Ausübung un­zulässi­gen Drucks auf ih­re Ar­beit­ge­be­rin ge­we­sen sei. In die­sem Zu­sam­men­hang brach­te sie vor, die frühe­ren Bemänge­lun­gen der Be­din­gun­gen im Pfle­ge­heim durch den MDK hätten dort zu kei­ner­lei Ände­rung der Ar­beits­be­din­gun­gen geführt, so dass ein wei­te­rer Be­such des MDK ih­res Er­ach­tens nach hin­sicht­lich der Be­sei­ti­gung der Mängel nicht als wirk­sa­me Al­ter­na­ti­ve ha­be an­ge­se­hen wer­den können. Je­den­falls wäre sie nicht be­rech­tigt ge­we­sen, an ei­ner sol­chen Prüfung be­tei­ligt oder über die Er­geb­nis­se ei­ner sol­chen Prüfung in­for­miert zu wer­den.
59 Die Be­schwer­deführe­rin wies wei­ter dar­auf hin, ih­re frist­lo­se Kündi­gung sei die härtes­te in Be­tracht kom­men­de Sank­ti­on ge­we­sen, die nur zu recht­fer­ti­gen sei, wenn kei­ne mil­de­ren Sank­tio­nen zur Verfügung stünden. Sie trug vor, dass bei X. da­ge­gen kein durch die Straf­an­zei­ge ver­ur­sach­ter kon­kre­ter Scha­den nach­ge­wie­sen wor­den sei.
60 Die Be­schwer­deführe­rin kam zu dem Schluss, dass ih­re frist­lo­se Kündi­gung zum Schutz des Rufs oder der Rech­te von X. nicht not­wen­dig und da­mit un­verhält­nismäßig ge­we­sen sei. Die in­ner­staat­li­chen Ge­rich­te hätten kei­ne ge­rech­te Abwägung zwi­schen dem er­heb­li­chen In­ter­es­se der All­ge­mein­heit an In­for­ma­tio­nen über De­fi­zi­te bei der Al­ten­pfle­ge auf der ei­nen, und den Rech­ten des Dienst­leis­ters auf der an­de­ren Sei­te vor­ge­nom­men.

(iii) Die Dritt­be­tei­lig­te

61 Die Ge­werk­schaft V. mach­te An­ga­ben zur Or­ga­ni­sa­ti­on der in­sti­tu­tio­nel­len Al­ten­pfle­ge in Deutsch­land so­wie zu den Ar­beits­be­din­gun­gen der Ar­beit­neh­mer in die­sem Be­reich, die häufig von Per­so­nal­man­gel ge­prägt sei­en, der ei­ne ho­he Ar­beits­be­las­tung und Über­stun­den für die Ar­beit­neh­mer zur Fol­ge ha­be. In vie­len Pfle­ge­hei­men sei­en den ein­zel­nen Mit­ar­bei­tern zu vie­le Pa­ti­en­ten zu­ge­teilt, wes­halb die­se le­dig­lich die Grund­ver­sor­gung gewähr­leis­ten könn­ten. Die Kon­trol­le der Pfle­ge­hei­me ob­lie­ge im We­sent­li­chen dem Me­di­zi­ni­schen Dienst der Kran­ken­kas­sen im Rah­men von jähr­li­chen Prüfun­gen. Der MDK sei nicht ver­pflich­tet, die An­ge­stell­ten der Pfle­ge­hei­me bei sol­chen Kon­troll­be­su­chen zu be­fra­gen. Da­bei würden die­se als ers­te auf die un­be­frie­di­gen­den Pfle­ge­be­din­gun­gen auf­merk­sam. Aus die­sem Grund soll­ten Mit­ar­bei­ter über wirk­sa­me Mit­tel verfügen können, um auf Pfle­gemängel auf­merk­sam zu ma­chen, und sie soll­ten Verstöße ge­gen die Rech­te der Pa­ti­en­ten mel­den können, oh­ne Ver­gel­tungs­maßnah­men sei­tens ih­rer Ar­beit­ge­ber fürch­ten zu müssen.

(b) Würdi­gung durch den Ge­richts­hof

(i) Die auf die­se Rechts­sa­che an­wend­ba­ren all­ge­mei­nen Grundsätze

62 Die all­ge­mei­nen Grundsätze für die Prüfung, ob ein Ein­griff in das Recht auf freie Mei­nungsäußerung verhält­nismäßig war, hat der Ge­richts­hof in sei­ner Recht­spre­chung fest eta­bliert und wie folgt zu­sam­men­ge­fasst (sie­he u. a. Steel und Mor­ris ./. Ver­ei­nig­tes König­reich, In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 68416/01, Rd­nr. 87, ECHR 2005‑II).

„...

(ii) Das Ad­jek­tiv „not­wen­dig“ im Sin­ne von Ar­ti­kel 10 Abs. 2 im­pli­ziert das Be­ste­hen ei­nes „drin­gen­den so­zia­len Bedürf­nis­ses“. Die Ver­trags­staa­ten ha­ben ei­nen ge­wis­sen Er­mes­sens­spiel­raum bei der Be­ur­tei­lung der Fra­ge, ob ein sol­ches Bedürf­nis be­steht; die­ser geht je­doch Hand in Hand mit ei­ner eu­ropäischen Über­wa­chung, die sich so­wohl auf die Ge­setz­ge­bung be­zieht als auch auf die Ent­schei­dun­gen, die sie an­wen­den, auch wenn sie von un­abhängi­gen Ge­rich­ten ge­trof­fen wur­den. Der Ge­richts­hof ist da­her be­fugt, ab­sch­ließend darüber zu ent­schei­den, ob ei­ne „Ein­schränkung“ mit der durch Ar­ti­kel 10 geschütz­ten Mei­nungs­frei­heit in Ein­klang zu brin­gen ist.

(iii) Auf­ga­be des Ge­richts­hofs ist es je­doch nicht, sich bei sei­ner Über­wa­chung an die Stel­le der zuständi­gen Behörden zu set­zen; er hat viel­mehr die von ih­nen im Rah­men ih­res Be­ur­tei­lungs­spiel­raums ge­trof­fe­nen Ent­schei­dun­gen nach Ar­ti­kel 10 EM­RK zu über­prüfen. Das heißt nicht, dass sich die Über­prüfung dar­auf be­schränkt, ob der be­schwer­de­geg­ne­ri­sche Staat sei­nen Be­ur­tei­lungs­spiel­raum an­ge­mes­sen, sorgfältig und in gu­tem Glau­ben aus­geübt hat; der Ge­richts­hof muss den gerügten Ein­griff un­ter Berück­sich­ti­gung al­ler Umstände des Fal­les prüfen und ent­schei­den, ob er „zu dem ver­folg­ten be­rech­tig­ten Ziel verhält­nismäßig“ war und ob die zu sei­ner Recht­fer­ti­gung von den Behörden an­geführ­ten Gründe „stich­hal­tig und aus­rei­chend“ sind. ... Da­bei muss sich der Ge­richts­hof da­von über­zeu­gen, dass die von den Behörden an­ge­wen­de­ten Re­geln mit den in Ar­ti­kel 10 ent­hal­te­nen Grundsätzen ver­ein­bar sind und dass die Behörden die er­heb­li­chen Tat­sa­chen nach­voll­zieh­bar be­wer­tet ha­ben. ...“

63 Was die An­wen­dung von Ar­ti­kel 10 der Kon­ven­ti­on auf das Ar­beits­le­ben an­geht, hat der Ge­richts­hof fest­ge­stellt, dass Hin­wei­se auf straf­ba­res oder rechts­wid­ri­ges Ver­hal­ten am Ar­beits­platz durch Beschäftig­te des öffent­li­chen Diens­tes un­ter ge­wis­sen Umständen Schutz ge­nießen soll­ten. Dies gilt ins­be­son­de­re dann, wenn dem be­trof­fe­nen Beschäftig­ten oder Be­am­ten als ein­zi­ger Per­son oder als Teil ei­ner klei­nen Per­so­nen­grup­pe die Umstände am Ar­beits­platz be­kannt sind und er des­halb am bes­ten in der La­ge ist, im In­ter­es­se der All­ge­mein­heit zu han­deln und den Ar­beit­ge­ber oder die Öffent­lich­keit auf Missstände hin­zu­wei­sen (sie­he Gu­ja ./. Mol­dau [GK], In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 14277/04, Rd­nr. 72, ECHR 2008‑...., und Mar­chen­ko ./. Ukrai­ne, In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 4063/04, Rd­nr. 46, 19. Fe­bru­ar 2009).
64 Der Ge­richts­hof ist sich gleich­zei­tig be­wusst, dass Ar­beit­neh­mer ih­rem Ar­beit­ge­ber ge­genüber ei­ne Pflicht zur Loya­lität, Zurück­hal­tung und Dis­kre­ti­on ha­ben (sie­he z.B. Mar­chen­ko, a.a.O., Rd­nr. 45). Ob­gleich die­se Loya­litäts­pflicht bei Be­am­ten und Beschäftig­ten im öffent­li­chen Dienst im Ver­gleich zu Ar­beit­neh­mern im Pri­vat­rechts­verhält­nis stärker aus­ge­prägt sein mag, ist der Ge­richts­hof der Auf­fas­sung, dass sie zwei­fels­oh­ne auch ein Merk­mal die­ser letzt­ge­nann­ten Beschäfti­gungs­ka­te­go­rie dar­stellt. Er teilt da­her die An­sicht der Re­gie­rung, dass die Grundsätze und Kri­te­ri­en, die der Ge­richts­hof in sei­ner Recht­spre­chung im Hin­blick auf die Abwägung zwi­schen dem Recht ei­nes Ar­beit­neh­mers auf freie Mei­nungsäußerung in Form von Hin­wei­sen auf straf­ba­res oder rechts­wid­ri­ges Ver­hal­ten sei­tens des Ar­beit­ge­bers und dem Recht des Ar­beit­ge­bers auf Schutz sei­nes Ru­fes und sei­ner wirt­schaft­li­chen In­ter­es­sen auch für den in Re­de ste­hen­den Fall gel­ten. Die Art und der Um­fang der Loya­lität, die ein Ar­beit­neh­mer sei­nem Ar­beit­ge­ber in ei­nem be­stimm­ten Fall schul­det, wir­ken sich auf die Abwägung zwi­schen den Rech­ten des Ar­beit­neh­mers und den wi­der­strei­ten­den In­ter­es­sen des Ar­beit­ge­bers aus.
65 We­gen der Pflicht zur Loya­lität und zur Dis­kre­ti­on soll­ten Hin­wei­se da­her in ers­ter Li­nie ge­genüber Vor­ge­setz­ten oder an­de­ren zuständi­gen Stel­len oder Ein­rich­tun­gen vor­ge­bracht wer­den. Nur wenn dies ein­deu­tig un­prak­ti­ka­bel ist, darf als ul­ti­ma ra­tio die Öffent­lich­keit in­for­miert wer­den. Für die Be­ur­tei­lung, ob die Ein­schränkung der Mei­nungs­frei­heit verhält­nismäßig war, muss der Ge­richts­hof da­her berück­sich­ti­gen, ob dem Be­schwer­deführer an­de­re wirk­sa­me Mit­tel zur Verfügung stan­den, um et­was ge­gen den an­ge­pran­ger­ten Miss­stand zu tun (sie­he Gu­ja, a.a.O., Rd­nr. 73).
66 Bei der Be­ur­tei­lung der Verhält­nismäßig­keit ei­nes Ein­griffs in Be­zug auf das ver­folg­te le­gi­ti­me Ziel muss der Ge­richts­hof ei­ne Rei­he wei­te­rer Fak­to­ren berück­sich­ti­gen. Vor al­lem das öffent­li­che In­ter­es­se an der of­fen­ge­leg­ten In­for­ma­ti­on ist be­son­ders zu berück­sich­ti­gen. Der Ge­richts­hof weist in die­sem Zu­sam­men­hang er­neut dar­auf hin, dass es nach Ar­ti­kel 10 Abs. 2 der Kon­ven­ti­on we­nig Raum für Ein­schränkun­gen der öffent­li­chen Mei­nungs­bil­dung gibt (sie­he u. a. Stoll ./. Schweiz [GK], In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 69698/01, Rd­nr. 106, ECHR 2007-XIV).
67 Der zwei­te für die­se Abwägung re­le­van­te Fak­tor ist die Au­then­ti­zität der of­fen­ge­leg­ten In­for­ma­tio­nen. Es steht den zuständi­gen staat­li­chen Behörden of­fen, Maßnah­men zu er­grei­fen, um an­ge­mes­sen und verhält­nismäßig auf un­be­gründe­te oder böswil­lig ge­mach­te Vorwürfe zu re­agie­ren (sie­he Ca­s­tells ./. Spa­ni­en, 23. April 1992, § 46, Se­rie A Band 236). Darüber hin­aus ist die Ausübung des Rechts auf freie Mei­nungsäußerung mit Pflich­ten und Ver­ant­wor­tung ver­bun­den und je­de Per­son, die In­for­ma­tio­nen of­fen­le­gen will, muss - so­weit die Umstände dies er­lau­ben - sorgfältig prüfen, ob die In­for­ma­tio­nen zu­tref­fend und zu­verlässig sind (sie­he Bla­det Tromsø und Sten­saas ./. Nor­we­gen [GK], In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 21980/93, Rd­nr. 65, ECHR 1999-III).
68 Auf der an­de­ren Sei­te muss der Ge­richts­hof den Scha­den be­mes­sen, der dem Ar­beit­ge­ber durch die in Re­de ste­hen­de Veröffent­li­chung mögli­cher­wei­se ent­stan­den ist, und prüfen, ob die­ser Scha­den das In­ter­es­se der All­ge­mein­heit an der In­for­ma­ti­on über­wiegt (sie­he Gu­ja, a.a.O., Rd­nr. 76).
69 Die Be­weg­gründe des Missstände an­zei­gen­den Ar­beit­neh­mers sind ein wei­te­rer ent­schei­den­der Fak­tor bei der Ent­schei­dung darüber, ob ei­ne be­stimm­te Of­fen­le­gung geschützt sein soll­te. Bei­spiels­wei­se würde ei­ne Hand­lung, die durch persönli­chen Groll, persönli­che Feind­schaft oder die Er­war­tung ei­nes persönli­chen Vor­teils wie ei­nes fi­nan­zi­el­len Ge­winns mo­ti­viert ist, kein be­son­ders ho­hes Schutz­ni­veau recht­fer­ti­gen. Es ist wich­tig fest­zu­stel­len, dass die Per­son die Of­fen­le­gung in gu­tem Glau­ben und in der Über­zeu­gung vor­ge­nom­men hat, dass die In­for­ma­ti­on wahr war, dass sie im öffent­li­chen In­ter­es­se lag, und dass kei­ne an­de­ren, dis­kre­te­ren Mit­tel exis­tier­ten, um ge­gen den an­ge­pran­ger­ten Miss­stand vor­zu­ge­hen (sie­he Gu­ja, a.a.O., Rd­nr. 77).
70 Sch­ließlich be­darf es im Zu­sam­men­hang mit der Be­ur­tei­lung der Verhält­nismäßig­keit ei­nes Ein­griffs in Be­zug auf das ver­folg­te le­gi­ti­me Ziel ei­ner sorgfälti­gen Ana­ly­se der ge­gen den Be­schwer­deführer verhäng­ten Stra­fe und ih­rer Fol­gen (sie­he Fu­en­tes Bo­bo, a.a.O., Rd­nr. 49).

(ii) An­wen­dung der ge­nann­ten Grundsätze in der vor­lie­gen­den Rechts­sa­che

(α) Das öffent­li­che In­ter­es­se an der of­fen­ge­leg­ten In­for­ma­ti­on

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Im Hin­blick auf die Umstände der vor­lie­gen­den Rechts­sa­che stellt der Ge­richts­hof fest, dass die von der Be­schwer­deführe­rin of­fen­ge­leg­te In­for­ma­ti­on un­be­streit­bar von öffent­li­chem In­ter­es­se war. In Ge­sell­schaf­ten, in de­nen der An­teil der auf in­sti­tu­tio­nel­le Pfle­ge an­ge­wie­se­nen älte­ren Bevölke­rung im­mer größer wird, ist die Veröffent­li­chung von In­for­ma­tio­nen über die Qua­lität oder die Mängel die­ser Pfle­ge für die Ver­mei­dung von Miss­brauch von größter Be­deu­tung, ge­ra­de an­ge­sichts der be­son­de­ren Schutz­bedürf­tig­keit der be­trof­fe­nen Pa­ti­en­ten, die oft­mals kaum in der La­ge sein dürf­ten, von sich aus auf die Pfle­gemängel auf­merk­sam zu ma­chen. Dies trifft um­so mehr zu, wenn die in­sti­tu­tio­nel­le Pfle­ge von ei­nem staat­li­chen Un­ter­neh­men er­bracht wird, da es hier­bei um das Ver­trau­en der All­ge­mein­heit in die an­ge­mes­se­ne Er­brin­gung von Leis­tun­gen im Rah­men der öffent­li­chen Da­seins­vor­sor­ge durch den Staat geht.

(β) Hätte die Be­schwer­deführe­rin an­de­re Kanäle nut­zen können, um die Missstände of­fen­zu­le­gen?

72 Was die Verfügbar­keit an­de­rer Kanäle für die Of­fen­le­gung der Missstände und ei­ne in­ner­be­trieb­li­che Klärung der Vorwürfe an­be­langt, stellt der Ge­richts­hof fest, dass die Be­schwer­deführe­rin nicht nur mehr­mals zwi­schen Ja­nu­ar 2003 und Ok­to­ber 2004 ih­ren Vor­ge­setz­ten ge­genüber äußer­te, dass sie über­las­tet sei, son­dern mit dem Schrei­ben ih­res Rechts­an­walts vom 9. No­vem­ber 2004 auch die Geschäfts­lei­tung vor ei­ner mögli­chen Straf­an­zei­ge warn­te. Es stimmt zwar, dass die recht­li­che Ein­ord­nung des Ver­hal­tens der Ar­beit­ge­be­rin als schwe­rer Be­trug erst­mals in der vom Rechts­an­walt der Be­schwer­deführe­rin ver­fass­ten Straf­an­zei­ge vom 7. De­zem­ber 2004 Erwähnung fand, der Ge­richts­hof stellt aber fest, dass die Be­schwer­deführe­rin in ih­ren frühe­ren Be­schwer­den ge­genüber ih­rer Ar­beit­ge­be­rin durch­aus auf den Sach­ver­halt, auf dem ih­re an­sch­ließen­de Straf­an­zei­ge ba­sier­te, und zwar ein­sch­ließlich der Tat­sa­che, dass Leis­tun­gen nicht ord­nungs­gemäß do­ku­men­tiert wor­den sei­en, hin­ge­wie­sen hat­te. Er stellt fer­ner fest, dass sie die Staats­an­walt­schaft in der Straf­an­zei­ge da­zu auf­for­der­te, die in der Straf­an­zei­ge dar­ge­leg­ten Umstände des Falls un­ter al­len in Be­tracht kom­men­den recht­li­chen Ge­sichts­punk­ten zu prüfen, und dass die­se Prüfung dem­nach nicht auf Be­trug be­schränkt war.
73 Der Ge­richts­hof ver­weist in die­sem Zu­sam­men­hang auf die oben ge­nann­te Ent­schei­dung des Bun­des­ar­beits­ge­richts vom 3. Ju­li 2003 (sie­he „Ein­schlägi­ges in­ner­staat­li­ches Recht und ein­schlägi­ge in­ner­staat­li­che Pra­xis“), in der es heißt, dass es ei­nem Ar­beit­neh­mer nicht zu­mut­bar sei, zunächst ei­ne in­ner­be­trieb­li­che Klärung der Vorwürfe an­zu­stre­ben, wenn er Kennt­nis von Straf­ta­ten er­hal­te, durch de­ren Nicht­an­zei­ge er sich selbst ei­ner Straf­ver­fol­gung aus­set­zen würde. Wei­ter sei ei­ne vor­he­ri­ge in­ner­be­trieb­li­che Klärung auch dann nicht er­for­der­lich, wenn Ab­hil­fe be­rech­tig­ter­wei­se nicht zu er­war­ten sei. Falls der Ar­beit­ge­ber nicht für Ab­hil­fe sor­ge, ob­wohl der Ar­beit­neh­mer ihn auf die ge­set­zes­wid­ri­ge Pra­xis im Un­ter­neh­men hin­ge­wie­sen ha­be, be­ste­he auch kei­ne wei­te­re ver­trag­li­che Loya­litäts­pflicht mehr. Der Ge­richts­hof stellt fer­ner fest, dass die Leitsätze der Par­la­men­ta­ri­schen Ver­samm­lung über den Schutz von Whist­leb­lo­wern (sie­he „Ein­schlägi­ges Völker­recht und ein­schlägi­ge völker­recht­li­che Pra­xis“), in de­nen es heißt, dass in Fällen, in de­nen nicht vernünf­ti­ger­wei­se da­von aus­ge­gan­gen wer­den könne, dass in­ter­ne Kanäle funk­tio­nie­ren, auch das ex­ter­ne Whist­leb­lo­wing geschützt sein soll­te, ei­ne ähn­li­che Ar­gu­men­ta­ti­on ver­fol­gen.
74 Der Ge­richts­hof ist der Auf­fas­sung, dass die­se Über­le­gun­gen auch auf den vor­lie­gen­den Fall an­wend­bar sind. Die Be­schwer­deführe­rin war der Mei­nung, dass kei­ne ih­rer frühe­ren Be­schwer­den ge­genüber ih­rer Ar­beit­ge­be­rin zu ei­ner Ver­bes­se­rung der Beschäfti­gungs- und der Pfle­ge­si­tua­ti­on in dem Pfle­ge­heim geführt hat­ten. Sie erwähn­te ih­rer Ar­beit­ge­be­rin ge­genüber auch, ei­ne ih­rer Sor­gen sei, dass sie sich selbst ei­ner straf­recht­li­chen Ver­fol­gung aus­set­ze, wenn sie die Pfle­gemängel nicht an­zei­ge. Der Ge­richts­hof ist da­her der An­sicht, dass ihm nicht genügend Be­wei­se vor­ge­legt wur­den, die das Vor­brin­gen der Be­schwer­deführe­rin wi­der­le­gen würden, dass wei­te­re in­ner­be­trieb­li­che Be­schwer­den mit Blick auf die Er­mitt­lung und Be­sei­ti­gung der Pfle­gemängel kein wirk­sa­mes Mit­tel dar­ge­stellt hätten.
75 Der Ge­richts­hof stellt auch fest, dass das deut­sche Recht kei­nen spe­zi­el­len Durchführungs­me­cha­nis­mus für die Un­ter­su­chung von Hin­wei­sen ei­nes Whist­leb­lo­wers und für For­de­run­gen nach ent­spre­chen­der Ab­hil­fe durch den Ar­beit­ge­ber be­reithält.
76 Im Lich­te der vor­ste­hen­den Ausführun­gen ist der Ge­richts­hof der Auf­fas­sung, dass ei­ne ex­ter­ne Of­fen­le­gung von Missständen mit­tels ei­ner Straf­an­zei­ge un­ter Umständen wie in dem vor­lie­gen­den Fall ge­recht­fer­tigt sein könn­te.

(γ) Die Au­then­ti­zität der of­fen­ge­leg­ten In­for­ma­ti­on

77 Ein wei­te­rer für die­se Abwägung re­le­van­ter Fak­tor ist die Au­then­ti­zität der of­fen­ge­leg­ten In­for­ma­tio­nen. Der Ge­richts­hof weist in die­sem Zu­sam­men­hang er­neut dar­auf hin, dass die Mei­nungs­frei­heit mit Pflich­ten und Ver­ant­wor­tung ver­bun­den ist und je­de Per­son, die In­for­ma­tio­nen of­fen­le­gen will, so­weit die Umstände dies er­lau­ben, sorgfältig prüfen muss, ob die In­for­ma­tio­nen zu­tref­fend und zu­verlässig sind − ins­be­son­de­re, wenn die Per­son, wie in der vor­lie­gen­den Rechts­sa­che, ih­rem Ar­beit­ge­ber ge­genüber zu Dis­kre­ti­on und Loya­lität ver­pflich­tet ist (sie­he Han­dy­si­de ./. Ver­ei­nig­tes König­reich, 7. De­zem­ber 1976, Rd­nr. 49, Se­rie A Band 24, und Ha­sel­di­ne ./. Ver­ei­nig­tes König­reich, In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 18957/91, Kom­mis­si­ons­ent­schei­dung vom 13. Mai 1992, Ent­schei­dun­gen und Be­rich­te (DR) 73, S. 225 und 231).
78 Der Ge­richts­hof stellt in die­sem Zu­sam­men­hang fest, dass das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt in sei­ner Ent­schei­dung vom 1. Ju­li 2001 dar­auf hin­ge­wie­sen hat, dass die frist­lo­se Kündi­gung ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses aus rechts­staat­li­chen Gründen im Re­gel­fall selbst dann nicht ge­recht­fer­tigt sei, wenn ein Ar­beit­neh­mer von sich aus bei der Staats­an­walt­schaft An­zei­ge ge­gen sei­nen Ar­beit­ge­ber er­stat­tet ha­be, es sei denn, der Ar­beit­neh­mer ha­be wis­sent­lich oder leicht­fer­tig fal­sche An­ga­ben ge­macht (1 BvR 2049/00). Tatsächlich hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt Ber­lin in der vor­lie­gen­den Rechts­sa­che be­fun­den, dass die Be­schwer­deführe­rin ih­re Straf­an­zei­ge leicht­fer­tig auf Tat­sa­chen ge­gründet ha­be, die sie in den dar­auf fol­gen­den straf- und ar­beits­recht­li­chen Er­mitt­lungs­ver­fah­ren nicht ha­be dar­le­gen können.
79 Der Ge­richts­hof stellt je­doch fest, dass die von der Be­schwer­deführe­rin in ih­rer Straf­an­zei­ge of­fen­bar­ten Mängel nicht nur in ih­ren vor­an­ge­gan­ge­nen Hin­wei­sen ge­genüber ih­rer Ar­beit­ge­be­rin vor­ge­bracht wor­den wa­ren, son­dern auch vom MDK nach des­sen Prüfun­gen in den Jah­ren 2002 und 2003 kri­ti­siert wor­den wa­ren, der dar­auf hin­ge­wie­sen hat­te, dass Per­so­nal­man­gel zu Pfle­gemängeln führe. Den Vorwürfen der Be­schwer­deführe­rin hat es dem­nach nicht an ei­nem sach­li­chen Hin­ter­grund ge­fehlt und es gibt kei­ne Gründe für die Fest­stel­lung, dass sie wis­sent­lich oder leicht­fer­tig fal­sche An­ga­ben ge­macht ha­be. Die sach­li­chen In­for­ma­tio­nen über die Pfle­gemängel hat die Be­schwer­deführe­rin in ih­ren schrift­li­chen Stel­lung­nah­men im Kündi­gungs­schutz­ver­fah­ren vor den Ar­beits­ge­rich­ten wei­ter ergänzt. Darüber hin­aus stellt der Ge­richts­hof in die­sem Zu­sam­men­hang fest, dass die Be­schwer­deführe­rin gemäß der Sach­ver­halts­dar­stel­lung im Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts vom 28. März 2003 in der Ge­richts­ver­hand­lung vom glei­chen Tag un­ter an­de­rem gel­tend mach­te, dass sie und an­de­re Mit­ar­bei­ter auf­ge­for­dert wor­den sei­en, die Pfle­ge­do­ku­men­ta­ti­on zu ergänzen, ob­wohl die do­ku­men­tier­ten Leis­tun­gen nicht wirk­lich er­bracht wor­den wa­ren. Sie ver­wies in die­sem Zu­sam­men­hang auf die Zeu­gen­aus­sa­gen von drei Kol­le­gen.
80 Was das an­sch­ließen­de straf­recht­li­che Er­mitt­lungs­ver­fah­ren an­geht, stellt der Ge­richts­hof fest, dass es in ers­ter Li­nie die Auf­ga­be der Straf­ver­fol­gungs­behörden ist, den Wahr­heits­ge­halt der Vorwürfe aus ei­ner Straf­an­zei­ge zu prüfen, und dass von ei­ner Per­son, die ei­ne sol­che An­zei­ge in gu­tem Glau­ben er­stat­tet hat, vernünf­ti­ger­wei­se nicht er­war­tet wer­den kann, vor­her­zu­se­hen, ob die Er­mitt­lun­gen zu ei­ner An­kla­ge oder ei­ner Ver­fah­rens­ein­stel­lung führen wer­den. Der Ge­richts­hof ver­weist in die­sem Zu­sam­men­hang auf die oben ge­nann­te Ent­schei­dung des Bun­des­ar­beits­ge­richts vom 3. Ju­li 2003, in der die­ses be­fun­den hat­te, dass ein Ar­beit­neh­mer, der in gu­tem Glau­ben von sei­nem ver­fas­sungs­recht­lich ga­ran­tier­ten Recht auf Er­stat­tung von Straf­an­zei­gen Ge­brauch ma­che, kei­ne Nach­tei­le da­durch er­lei­den dürfe, dass sich sei­ne Be­haup­tung im an­sch­ließen­den Ver­fah­ren als un­rich­tig oder nicht aufklärbar er­wei­se. Er stellt fer­ner fest, dass die Leitsätze der Par­la­men­ta­ri­schen Ver­samm­lung auf ähn­li­chen Über­le­gun­gen be­ru­hen; dar­in heißt es, es soll­te bei je­dem Whist­leb­lo­wer da­von aus­ge­gan­gen wer­den, dass er in gu­tem Glau­ben ge­han­delt hat, so­weit er vernünf­ti­ge Gründe für die An­nah­me hat­te, dass die of­fen­ge­leg­ten In­for­ma­tio­nen wahr wa­ren, selbst wenn sich später her­aus­stellt, dass dies nicht der Fall war, und vor­aus­ge­setzt, dass er kei­ne rechts­wid­ri­gen oder un­ethi­schen Zie­le ver­folgt hat.
81 Das Vor­brin­gen der Re­gie­rung, die Au­then­ti­zität der Be­haup­tun­gen der Be­schwer­deführe­rin in ih­rer Straf­an­zei­ge sei­en in Fra­ge ge­stellt, weil sie die­se im Rah­men der Strafer­mitt­lun­gen ge­gen X. nicht wei­ter kon­kre­ti­siert und auch kei­ne zusätz­li­chen Zeu­gen be­nannt ha­be, über­zeugt den Ge­richts­hof nicht. Der Ge­richts­hof stellt fest, dass die­ses Ver­hal­ten, wie von der Be­schwer­deführe­rin vor­ge­bracht, mit ih­rer Angst, sich selbst zu be­las­ten, so­wie der Ge­fahr, Ver­gel­tungs­maßnah­men durch X. aus­ge­setzt zu wer­den, soll­te sie wei­te­re in­ter­ne In­for­ma­tio­nen of­fen­le­gen, erklärt wer­den kann. Je­den­falls ist der Ge­richts­hof der Auf­fas­sung, dass ein Man­gel an Be­wei­sen zwar zur Ein­stel­lung des Er­mitt­lungs­ver­fah­rens führen kann, dies aber nicht un­be­dingt zu der Schluss­fol­ge­rung führt, dass die der Straf­an­zei­ge zu­grun­de lie­gen­den Be­haup­tun­gen von vorn­her­ein ei­ner sach­li­chen Grund­la­ge ent­behr­ten oder leicht­fer­tig wa­ren.

(δ) Han­del­te die Be­schwer­deführe­rin in gu­tem Glau­ben?

82 Der Ge­richts­hof stellt fer­ner fest, dass die Be­schwer­deführe­rin vor­brach­te, der hauptsächli­che Be­weg­grund für ih­re An­zei­ge sei die aus den un­be­frie­di­gen­den Ar­beits­be­din­gun­gen in dem Pfle­ge­heim re­sul­tie­ren­de po­ten­zi­el­le Gefähr­dung der Ge­sund­heit be­son­ders schutz­bedürf­ti­ger Pa­ti­en­ten ge­we­sen; die Re­gie­rung wie­der­um trug vor, die Be­schwer­deführe­rin ha­be den an­geb­li­chen Per­so­nal­man­gel an­pran­gern und ih­re Ar­beit­ge­be­rin durch Be­tei­li­gung der Öffent­lich­keit zusätz­lich un­ter Druck set­zen wol­len.
83 Selbst un­ter der An­nah­me, ei­ne Ver­bes­se­rung ih­rer ei­ge­nen Ar­beits­be­din­gun­gen könn­te ein zusätz­li­cher Be­weg­grund für die Be­schwer­deführe­rin ge­we­sen sein, hat der Ge­richts­hof auf der Grund­la­ge des ihm zur Verfügung ste­hen­den Ma­te­ri­als kei­nen Grund zu be­zwei­feln, dass die Be­schwer­deführe­rin in gu­tem Glau­ben und in der Über­zeu­gung han­del­te, dass es im In­ter­es­se der All­ge­mein­heit sei, die mut­maßli­chen Rechts­ver­let­zun­gen ih­rer Ar­beit­ge­be­rin bei der Staats­an­walt­schaft an­zu­zei­gen, und dass ihr kein dis­kre­te­res Mit­tel zur Verfügung ste­he, um et­was ge­gen die Si­tua­ti­on zu un­ter­neh­men.

84

Das von der Re­gie­rung an­geführ­te Ar­gu­ment, dass die Be­schwer­deführe­rin an­ge­sichts der re­gelmäßigen Prüfun­gen durch die Heim­auf­sicht des Lan­des Ber­lin so­wie durch den MDK hätte wis­sen müssen, dass ei­ne Straf­an­zei­ge unnötig sei, und dass sie vor Er­stat­tung ih­rer Straf­an­zei­ge erst den Be­richt des MDK über des­sen Prüfung vom 18. No­vem­ber 2004 hätte ab­war­ten können, über­zeugt den Ge­richts­hof nicht. Der Ge­richts­hof stellt in die­sem Zu­sam­men­hang fest, dass die frühe­ren Bemänge­lun­gen der Be­din­gun­gen im Pfle­ge­heim durch den MDK in der Er­fah­rung der Be­schwer­deführe­rin zu kei­ner­lei Verände­run­gen geführt ha­ben und dass sie des­halb der An­sicht war, dass ein wei­te­rer Be­such durch den MDK nicht als wirk­sa­mes Mit­tel an­ge­se­hen wer­den könne, um die Mängel zu be­sei­ti­gen und ei­ne ei­ge­ne straf­recht­li­che Ver­ant­wort­lich­keit zu ver­mei­den. Nach ih­ren zahl­rei­chen in­ner­be­trieb­li­chen Be­schwer­den ge­genüber X., die al­le er­folg­los wa­ren, war sie of­fen­bar der An­sicht, dass ei­ne Straf­an­zei­ge das letz­te Mit­tel zur Be­he­bung der Pfle­gemängel sei. Der Ge­richts­hof stellt in die­sem Zu­sam­men­hang fest, dass in ei­nem Be­richt über ei­ne 2006 vom MDK durch­geführ­te Prüfung dar­auf hin­ge­wie­sen wur­de, dass Pfle­gemängel, die be­reits in den Be­rich­ten der Jah­re 2002, 2003 und 2004 ge­nannt wor­den sei­en, wei­ter­hin vor­han­den sei­en und ein drin­gen­des Han­deln er­for­der­ten.
85 Was das Vor­brin­gen der Re­gie­rung an­geht, die Po­le­mik der Straf­an­zei­ge be­wei­se, dass der wah­re Be­weg­grund für die Be­schwer­deführe­rin ge­we­sen sei, ih­re Ar­beit­ge­be­rin an­zu­pran­gern und Druck auf sie aus­zuüben, ist der Ge­richts­hof der Auf­fas­sung, dass die Be­haup­tun­gen der Be­schwer­deführe­rin, selbst wenn sie in ge­wis­sem Maße über­trieb und ver­all­ge­mei­ner­te, doch nicht gänz­lich ei­nes sach­li­chen Hin­ter­grunds ent­behr­ten (sie­he Rd­nr. 79) und kei­nen grund­lo­sen persönli­chen An­griff ge­gen ih­re Ar­beit­ge­be­rin, son­dern ei­ne Be­schrei­bung der er­heb­li­chen De­fi­zi­te bei der Funk­ti­ons­wei­se des Al­ten­pfle­ge­heims dar­stell­ten.
86 Die­se Fest­stel­lung wird auch da­durch bestätigt, dass die Be­schwer­deführe­rin, nach­dem sie zu dem Schluss ge­kom­men war, dass ei­ne ex­ter­ne Of­fen­le­gung not­wen­dig sei, sich nicht so­fort an die Me­di­en wand­te oder Flugblätter ver­teil­te, um ei­ne ma­xi­ma­le öffent­li­che Auf­merk­sam­keit zu er­rei­chen, son­dern sich zunächst an die Straf­ver­fol­gungs­behörden wand­te, um Er­mitt­lun­gen zu ver­an­las­sen (sie­he im Ge­gen­satz da­zu, Ba­le­no­vic ./. Kroa­ti­en, (Entsch.), In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 28369/07, 30. Sep­tem­ber 2010). Sie ließ sich von ei­nem Rechts­an­walt be­ra­ten und un­terstützen, der den von der Be­schwer­deführe­rin vor­ge­brach­ten Sach­ver­halt würdig­te und die Straf­an­zei­ge dem­ent­spre­chend ver­fass­te. Die Flugblätter, in de­nen sie die an­geb­li­che Geld­gier ih­rer Ar­beit­ge­be­rin be­klag­te und auf ih­re Straf­an­zei­ge ver­wies, ver­teil­te sie erst nach ih­rer or­dent­li­chen Kündi­gung vom 19. Ja­nu­ar 2005.
87 Die vor­ste­hen­den Ausführun­gen sind für den Ge­richts­hof aus­rei­chend für die Schluss­fol­ge­rung, dass die Be­schwer­deführe­rin in gu­tem Glau­ben han­del­te, als sie Straf­an­zei­ge ge­gen ih­re Ar­beit­ge­be­rin er­stat­te­te.

(ε) Der Scha­den für die Ar­beit­ge­be­rin

88 Auf der an­de­ren Sei­te ist der Ge­richts­hof der Auf­fas­sung, dass die in der Straf­an­zei­ge auf­ge­wor­fe­nen Be­haup­tun­gen, ins­be­son­de­re wenn sie Be­trugs­vorwürfe ent­hiel­ten, dem geschäft­li­chen Ruf und den wirt­schaft­li­chen In­ter­es­sen von X. mit Si­cher­heit ab­träglich wa­ren.
89 Er weist in die­sem Zu­sam­men­hang er­neut dar­auf hin, dass ein In­ter­es­se am wirt­schaft­li­chen Er­folg und der Le­bensfähig­keit von Un­ter­neh­men nicht nur für An­teils­eig­ner und An­ge­stell­te, son­dern auch zum all­ge­mei­nen wirt­schaft­li­chen Nut­zen be­steht (sie­he Steel und Mor­ris ./. Ver­ei­nig­tes König­reich, In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 68416/01, Rd­nr. 94, ECHR 2005‑II). Der Ge­richts­hof hält es für wich­tig, in die­sem Zu­sam­men­hang fest­zu­hal­ten, dass die Ar­beit­ge­be­rin in der vor­lie­gen­den Rechts­sa­che ein staat­li­ches Un­ter­neh­men ist, das un­ter an­de­rem Dienst­leis­tun­gen im Be­reich der in­sti­tu­tio­nel­len Al­ten­pfle­ge er­bringt. Der Ge­richts­hof er­kennt zwar an, dass auch staat­li­che Un­ter­neh­men ein In­ter­es­se an wirt­schaft­li­cher Le­bensfähig­keit ha­ben, weist je­doch dar­auf hin, dass der Schutz des Ver­trau­ens der All­ge­mein­heit in die Qua­lität von Leis­tun­gen im Rah­men der Da­seins­vor­sor­ge, die von staat­li­chen oder staat­lich geführ­ten Un­ter­neh­men er­bracht wer­den, für das Funk­tio­nie­ren und die Wirt­schaft­lich­keit des ge­sam­ten Sek­tors ent­schei­dend ist. Des­halb hat der staat­li­che An­teils­eig­ner selbst ein In­ter­es­se dar­an, dass mut­maßli­che Mängel in die­sem Be­reich im Rah­men ei­ner frei­en öffent­li­chen De­bat­te er­mit­telt und aufklärt wer­den.
90

An­ge­sichts die­ser Über­le­gun­gen ist der Ge­richts­hof der Auf­fas­sung, dass das In­ter­es­se der All­ge­mein­heit, über De­fi­zi­te bei der in­sti­tu­tio­nel­len Al­ten­pfle­ge in ei­nem staat­li­chen Un­ter­neh­men in­for­miert zu wer­den, in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft so wich­tig ist, dass es das In­ter­es­se am Schutz des geschäft­li­chen Rufs und der In­ter­es­sen die­ses Un­ter­neh­mens über­wiegt.

(ζ) Die Schwe­re der Sank­ti­on

91 Sch­ließlich stellt der Ge­richts­hof fest, dass der Be­schwer­deführe­rin die härtes­te ar­beits­recht­lich mögli­che Sank­ti­on auf­er­legt wur­de. Die­se wirk­te sich nicht nur ne­ga­tiv auf den be­ruf­li­chen Wer­de­gang der Be­schwer­deführe­rin aus, son­dern hat­te auch ei­ne er­heb­li­che ab­schre­cken­de Wir­kung für die an­de­ren An­ge­stell­ten von X., die ent­mu­tigt wur­den, Mängel der in­sti­tu­tio­nel­len Pfle­ge an­zu­zei­gen. Darüber hin­aus könn­te die Sank­ti­on an­ge­sichts der Me­di­en­be­rich­te über den Fall der Be­schwer­deführe­rin auch ei­ne ab­schre­cken­de Wir­kung für an­de­re Ar­beit­neh­mer im Pfle­ge­sek­tor ha­ben, nicht nur für die An­ge­stell­ten von X.. Die­se ab­schre­cken­de Wir­kung scha­det der Ge­sell­schaft als Gan­zes und muss da­her bei der Be­ur­tei­lung der Verhält­nismäßig­keit und so­mit auch der Recht­fer­ti­gung der Sank­tio­nen, die der Be­schwer­deführe­rin, die, wie der Ge­richts­hof oben fest­ge­stellt hat, zur Öffent­lich­ma­chung der in Re­de ste­hen­den An­ge­le­gen­heit be­rech­tigt war, auf­er­legt wur­den, berück­sich­tigt wer­den (sie­he Ku­desh­ki­na ./. Russ­land, In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 29492/05, Rd­nr. 99, 26. Fe­bru­ar 2009). Dies gilt ins­be­son­de­re für den Be­reich der Al­ten­pfle­ge, bei dem die Pa­ti­en­ten oft nicht in der La­ge sind, ih­re Rech­te selbst zu ver­tei­di­gen, und die Pfle­ge­kräfte die ers­ten sind, de­nen die un­be­frie­di­gen­den Pfle­ge­be­din­gun­gen auf­fal­len, und die des­halb am bes­ten in der La­ge sind, im In­ter­es­se der All­ge­mein­heit zu han­deln und den Ar­beit­ge­ber oder die Öffent­lich­keit auf Missstände hin­zu­wei­sen.
92 Dem­ent­spre­chend kommt der Ge­richts­hof zu der Einschätzung, dass die frist­lo­se Kündi­gung der Be­schwer­deführe­rin in der vor­lie­gen­den Rechts­sa­che ei­ne un­verhält­nismäßig schwe­re Sank­ti­on dar­stell­te.

(iii) Schluss­fol­ge­rung

93 Der Ge­richts­hof ist sich der Be­deu­tung des Rechts auf freie Mei­nungsäußerung im Zu­sam­men­hang mit Fra­gen von all­ge­mei­nem In­ter­es­se, des Rechts von Ar­beit­neh­mern, straf­ba­res oder rechts­wid­ri­ges Ver­hal­ten sei­tens des Ar­beit­ge­bers an­zu­zei­gen, der Pflich­ten und Ver­ant­wort­lich­kei­ten von Ar­beit­neh­mern ge­genüber ih­ren Ar­beit­ge­bern und des Rechts von Ar­beit­ge­bern auf Mit­ar­bei­terführung be­wusst und hat die zahl­rei­chen wei­te­ren In­ter­es­sen, die sich auf die vor­lie­gen­de Rechts­sa­che aus­wir­ken, ab­ge­wo­gen; da­bei ist er zu dem Schluss ge­kom­men, dass der Ein­griff in das Recht der Be­schwer­deführe­rin auf freie Mei­nungsäußerung, ins­be­son­de­re ihr Recht, In­for­ma­tio­nen wei­ter­zu­ge­ben, „in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft“ nicht „not­wen­dig“ war.
94 Der Ge­richts­hof ist da­her der Auf­fas­sung, dass die in­ner­staat­li­chen Ge­rich­te in der vor­lie­gen­den Rechts­sa­che kei­ne ge­rech­te Abwägung zwi­schen dem er­for­der­li­chen Schutz des Ru­fes und der Rech­te des Ar­beit­ge­bers ei­ner­seits und dem er­for­der­li­chen Schutz der Mei­nungs­frei­heit der Be­schwer­deführe­rin an­de­rer­seits vor­ge­nom­men ha­ben.
95

Folg­lich ist Ar­ti­kel 10 der Kon­ven­ti­on ver­letzt wor­den.

II. BE­HAUP­TE­TE VER­LET­ZUNG VON AR­TIKEL 6 ABS. 1 DER KON­VEN­TION

96 Die Be­schwer­deführe­rin rügte darüber hin­aus, das Kündi­gungs­schutz­ver­fah­ren vor den Ar­beits­ge­rich­ten sei un­fair ge­we­sen. Ih­rer Mei­nung nach hätte die Ar­beit­ge­be­rin ver­pflich­tet sein müssen, zu be­wei­sen, dass sie ih­re Straf­an­zei­ge leicht­fer­tig auf un­wah­re Be­haup­tun­gen ge­gründet ha­be und die­se da­her ei­nen Grund für ei­ne frist­lo­se Kündi­gung nach § 626 Abs. 1 BGB dar­stel­le. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt ha­be die dies­bezügli­che Be­weis­last je­doch auf die Be­schwer­deführe­rin ver­la­gert. Sie be­rief sich auf Ar­ti­kel 6 Abs. 1 der Kon­ven­ti­on, der wie folgt lau­tet:

„Je­de Per­son hat ein Recht dar­auf, dass über Strei­tig­kei­ten in Be­zug auf ih­re zi­vil­recht­li­chen Ansprüche und Ver­pflich­tun­gen ... von ei­nem ... Ge­richt in ei­nem fai­ren Ver­fah­ren ... ver­han­delt wird.“

97 Der Ge­richts­hof hat wie­der­holt fest­ge­stellt, dass Ar­ti­kel 6 kei­ne Re­geln über die Zulässig­keit von Be­weis­mit­teln oder die Be­weiswürdi­gung auf­stellt. Die­se An­ge­le­gen­hei­ten sind des­halb vor al­lem durch in­ner­staat­li­ches Recht und in­ner­staat­li­che Ge­rich­te zu re­geln, die ei­nen großen Er­mes­sens­spiel­raum ha­ben (sie­he K. ./. Deutsch­land, In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 75204/01, Rd­nr. 43, 5. Ok­to­ber 2006). Er stellt fest, dass die Be­schwer­deführe­rin in der vor­lie­gen­den Sa­che, die während des ge­sam­ten Ver­fah­rens an­walt­lich ver­tre­ten wur­de, in den Ge­nuss ei­nes kon­tra­dik­to­ri­schen Ver­fah­rens ge­kom­men ist und in al­len Sta­di­en des Ver­fah­rens die Ar­gu­men­te vor­tra­gen konn­te, die sie als ent­schei­dungs­er­heb­lich an­sah, und dies auch tat. Es gibt kei­ne Gründe für die Fest­stel­lung, dass die Be­wer­tung der Rechts­sa­che durch die in­ner­staat­li­chen Ge­rich­te willkürlich ge­we­sen sei.
98 Dar­aus folgt, dass die­se Rüge of­fen­sicht­lich un­be­gründet und nach Ar­ti­kel 35 Abs. 3 Buch­sta­be a und Abs. 4 der Kon­ven­ti­on zurück­zu­wei­sen ist.

III. AN­WEN­DUNG VON AR­TIKEL 41 DER KON­VEN­TION

99 Ar­ti­kel 41 der Kon­ven­ti­on lau­tet:

„Stellt der Ge­richts­hof fest, dass die­se Kon­ven­ti­on oder die Pro­to­kol­le da­zu ver­letzt wor­den sind, und ge­stat­tet das in­ner­staat­li­che Recht der Ho­hen Ver­trags­par­tei nur ei­ne un­voll­kom­me­ne Wie­der­gut­ma­chung für die Fol­gen die­ser Ver­let­zung, so spricht der Ge­richts­hof der ver­letz­ten Par­tei ei­ne ge­rech­te Entschädi­gung zu, wenn dies not­wen­dig ist.“

A. Scha­den

100

Die Be­schwer­deführe­rin for­der­te 38.498,56 EUR für ent­stan­de­nen ma­te­ri­el­len Scha­den und wei­te­re 112.135,19 EUR für zukünf­ti­gen ma­te­ri­el­len Scha­den. Was den be­reits ent­stan­de­nen ma­te­ri­el­len Scha­den an­ge­he, ent­spre­che dem ent­gan­ge­nen Ar­beits­lohn nach ih­rer frist­lo­sen Kündi­gung vom 9. Fe­bru­ar 2005 ein Be­trag in Höhe von 33.730,12 EUR. Da darüber hin­aus die Ein­zah­lun­gen in ih­re Be­triebs­ren­te für ei­ne vol­le Er­werbs­min­de­rung nach ih­rer Kündi­gung im Fe­bru­ar 2005 ein­ge­stellt wor­den sei­en, ha­be sie ei­ne mo­nat­li­che be­trieb­li­che Zu­satz­ren­te in Höhe von 194,63 EUR ein­gebüßt, die ihr ab 1. Ju­ni 2008 zu­ge­stan­den hätte. Zum Zeit­punkt ih­rer Anträge auf ge­rech­te Entschädi­gung Mit­te Ju­ni 2010 ha­be sich der Scha­den auf­grund der ein­gebüßten mo­nat­li­chen Leis­tun­gen seit 1. Ju­ni 2008 da­her auf 4.768,44 EUR be­lau­fen. Sie fügte fer­ner hin­zu, dass sie bis zum Be­zug ei­ner re­gulären Al­ters­ren­te ab 30. Sep­tem­ber 2028 An­spruch auf die­se mo­nat­li­chen Leis­tun­gen ge­habt hätte, wor­aus sich bis zu die­sem Da­tum ein zukünf­ti­ger ma­te­ri­el­ler Scha­den in Höhe von 47.861,27 EUR er­ge­be. Sch­ließlich brach­te sie vor, ih­re mo­nat­li­che be­trieb­li­che Al­ters­ren­te ab Ju­li 2028 hätte 334,76 EUR be­tra­gen. Auf der Grund­la­ge ei­ner durch­schnitt­li­chen Le­bens­er­war­tung von 83 Jah­ren stel­le die Einbüßung ih­rer Ren­ten­ansprüche für ei­ne Dau­er von 16 Jah­ren (2028 bis 2044) da­her ei­nen zukünf­ti­gen ma­te­ri­el­len Scha­den in Höhe von 64.273,92 EUR dar.

Die Be­schwer­deführe­rin for­der­te darüber hin­aus 10.000 EUR für im­ma­te­ri­el­len Scha­den; sie mach­te gel­tend, die lan­gen Ver­fah­ren vor den in­ner­staat­li­chen Ge­rich­ten hätten bei ihr zu psy­chi­schem Stress geführt und ih­re Ge­sund­heit be­ein­träch­tigt.

101 Die Re­gie­rung trat die­sen For­de­run­gen ent­ge­gen. Was die For­de­run­gen der Be­schwer­deführe­rin nach Entschädi­gung für ma­te­ri­el­len Scha­den an­geht, brach­te die Re­gie­rung vor, dass es kei­nen Grund für die Fest­stel­lung ge­be, dass die­ser Scha­den durch die an­geb­li­che Kon­ven­ti­ons­ver­let­zung ent­stan­den sei, der die frist­lo­se Kündi­gung der Be­schwer­deführe­rin vom 9. Fe­bru­ar 2005 zu­grun­de lie­ge. Die Re­gie­rung wies dar­auf hin, dass der Be­schwer­deführe­rin be­reits mit Schrei­ben vom 19. Ja­nu­ar 2005, al­so vor ih­rer frist­lo­sen Kündi­gung vom 9. Fe­bru­ar 2005, aus krank­heits­be­ding­ten Gründen mit Wir­kung zum 31. März 2005 gekündigt wor­den sei. Aus die­sem Grund könne sie ei­nen Ein­kom­mens­ver­lust auf­grund der frist­lo­sen Kündi­gung nur für den Zeit­raum vom 9. Fe­bru­ar bis 31. März 2005, dem Da­tum, an dem ih­re or­dent­li­che Kündi­gung wirk­sam ge­wor­den sei, gel­tend ma­chen. Während die­ser Zeit ha­be die Be­schwer­deführe­rin je­doch Kran­ken­geld und an­sch­ließend Über­g­angs­geld er­hal­ten und kei­nen tatsächli­chen ma­te­ri­el­len Scha­den er­lit­ten. Die Re­gie­rung brach­te fer­ner vor, die Be­rech­nung der Be­schwer­deführe­rin hin­sicht­lich ih­res An­spruchs auf ent­gan­ge­ne Be­triebs­ren­te zei­ge nicht, wie die­ser An­spruch durch ein Er­eig­nis ver­ur­sacht sein könne, das jünge­ren Da­tums sei als die or­dent­li­che Be­en­di­gung ih­res Ar­beits­verhält­nis­ses mit Wir­kung zum 31. März 2005.
102 Was den im­ma­te­ri­el­len Scha­den an­geht, stell­te die Re­gie­rung die Fra­ge zwar in das Er­mes­sen des Ge­richts­hofs, hielt die von der Be­schwer­deführe­rin ge­for­der­te Sum­me aber für un­an­ge­mes­sen hoch.
103 Der Ge­richts­hof stellt fest, dass zwi­schen den Par­tei­en nicht strit­tig ist, dass das Ar­beits­verhält­nis der Be­schwer­deführe­rin auf­grund ih­rer or­dent­li­chen Kündi­gung mit Wir­kung zum 31. März 2005 en­de­te. Er stellt fer­ner fest, dass die Be­schwer­deführe­rin selbst vor­brach­te, dass sie während der Zeit vom 9. Fe­bru­ar bis zum 31. März 2005 Kran­ken- bzw. Über­g­angs­geld als Aus­gleich für ihr Ge­halt er­hal­ten ha­be. Der Ge­richts­hof ist da­her der Auf­fas­sung, dass nicht nach­ge­wie­sen wur­de, dass die Be­schwer­deführe­rin vom 9. Fe­bru­ar 2005 bis zum 31. März 2005 ei­nen ma­te­ri­el­len Scha­den er­litt. Fer­ner kann er kei­nen Kau­sal­zu­sam­men­hang zwi­schen der fest­ge­stell­ten Ver­let­zung und dem ma­te­ri­el­len Scha­den er­ken­nen, der in der Zeit nach der Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses durch or­dent­li­che Kündi­gung mit Wir­kung zum 31. März 2005 ent­stan­den sein soll. Der Ge­richts­hof weist da­her die For­de­rung der Be­schwer­deführe­rin in Be­zug auf den ma­te­ri­el­len Scha­den zurück.
104 Er ist je­doch der An­sicht, dass die Be­schwer­deführe­rin ei­nen im­ma­te­ri­el­len Scha­den er­lit­ten ha­ben muss. Er ent­schei­det nach Bil­lig­keit und spricht ihr un­ter die­ser Ru­brik 10.000 EUR zu.

B. Kos­ten und Aus­la­gen

105 Die Be­schwer­deführe­rin ver­lang­te außer­dem 6.100 EUR für Kos­ten und Aus­la­gen vor dem Ge­richts­hof.
106 Die Re­gie­rung brach­te vor, dass die­se Sum­me er­heb­lich darüber hin­aus­ge­he, was der Ge­richts­hof nor­ma­ler­wei­se in Be­zug auf Kos­ten und Aus­la­gen zu­spre­che.
107 Nach der Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs hat ein Be­schwer­deführer nur in­so­weit An­spruch auf Er­satz von Kos­ten und Aus­la­gen, als nach­ge­wie­sen wur­de, dass die­se tatsächlich und not­wen­di­ger­wei­se ent­stan­den sind und der Höhe nach an­ge­mes­sen wa­ren. In der vor­lie­gen­den Rechts­sa­che hält es der Ge­richts­hof un­ter Berück­sich­ti­gung der ihm zur Verfügung ste­hen­den Un­ter­la­gen und der oben ge­nann­ten Kri­te­ri­en für an­ge­mes­sen, für Kos­ten und Aus­la­gen für das Ver­fah­ren vor dem Ge­richts­hof 5.000 EUR zu­zu­spre­chen.

C. Ver­zugs­zin­sen 

108 Der Ge­richts­hof hält es für an­ge­mes­sen, für die Be­rech­nung der Ver­zugs­zin­sen den Spit­zen­re­fi­nan­zie­rungs­satz (mar­gi­nal len­ding ra­te) der Eu­ropäischen Zen­tral­bank zuzüglich drei Pro­zent­punk­ten zu­grun­de zu le­gen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENT­SCHEI­DET DER GERICH­TSHOF EINSTIM­MIG:

1. Die Rüge nach Ar­ti­kel 10 der Kon­ven­ti­on wird für zulässig und die In­di­vi­du­al­be­schwer­de im Übri­gen für un­zulässig erklärt;

2. Ar­ti­kel 10 der Kon­ven­ti­on ist ver­letzt wor­den;

3. (a) der be­schwer­de­geg­ne­ri­sche Staat hat der Be­schwer­deführe­rin bin­nen drei Mo­na­ten nach dem Tag, an dem das Ur­teil nach Ar­ti­kel 44 Abs. 2 der Kon­ven­ti­on endgültig wird, fol­gen­de Beträge zu zah­len:

(i) 10.000 EUR (zehn­tau­send Eu­ro) für im­ma­te­ri­el­len Scha­den, zuzüglich ge­ge­be­nen­falls zu be­rech­nen­der Steu­ern; und

(ii) 5.000 EUR (fünf­tau­send Eu­ro) für Kos­ten und Aus­la­gen, zuzüglich ge­ge­be­nen­falls zu be­rech­nen­der Steu­ern;

(b) nach Ab­lauf der vor­ge­nann­ten Frist von drei Mo­na­ten bis zur Aus­zah­lung fal­len für die oben ge­nann­ten Beträge ein­fa­che Zin­sen in Höhe ei­nes Zins­sat­zes an, der dem Spit­zen­re­fi­nan­zie­rungs­satz (mar­gi­nal len­ding ra­te) der Eu­ropäischen Zen­tral­bank im Ver­zugs­zeit­raum zuzüglich drei Pro­zent­punk­ten ent­spricht;

4. im Übri­gen wird die For­de­rung der Be­schwer­deführe­rin nach ge­rech­ter Entschädi­gung zurück­ge­wie­sen.

Aus­ge­fer­tigt in Eng­lisch und schrift­lich zu­ge­stellt am 21. Ju­li 2011 nach Ar­ti­kel 77 Abs. 2 und 3 der Ver­fah­rens­ord­nung des Ge­richts­hofs.

Clau­dia Wes­ter­diek

Kanz­le­rin

De­an Spiel­mann

Präsi­dent

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