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ARBEITSRECHT AKTUELL // 15/201

Bei Mas­sen­ent­las­sun­gen zäh­len Ge­schäfts­füh­rer als Ar­beit­neh­mer

Fremd­ge­schäfts­füh­rer ei­ner GmbH sind beim Schwel­len­wert für Mas­sen­ent­las­sun­gen als Ar­beit­neh­mer zu be­rück­sich­ti­gen: Eu­ro­päi­scher Ge­richts­hof, 09.07.2015, C-229/14
Europafahne EuGH ent­schei­det zur Aus­le­gung der Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie

30.07.2015. Vie­le ar­beits­recht­li­che Re­ge­lun­gen gel­ten nur ab ei­ner be­stimm­ten Be­triebs­grö­ße, d.h. ab ei­ner be­stimm­ten An­zahl von Ar­beit­neh­mern, die re­gel­mä­ßig in ei­nem Be­trieb be­schäf­tigt sind.

Ein der­ar­ti­ger ar­beits­recht­li­cher Schwel­len­wert ist in § 17 Abs.1 Nr.1 Kün­di­gungs­schutz­ge­setz (KSchG) ent­hal­ten. Da­nach ist der Ar­beit­ge­ber da­zu ver­pflich­tet, der Ar­beits­agen­tur ei­ne sog. Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge zu er­stat­ten, wenn er plant, in ei­nem Be­trieb mit mehr als 20 und we­ni­ger als 60 Ar­beit­neh­mern in­ner­halb von 30 Ta­gen sechs oder mehr Ar­beit­neh­mer zu ent­las­sen.

In ei­nem ak­tu­el­len Ur­teil hat der Eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof (EuGH) ent­schie­den, dass zu den "Ar­beit­neh­mern" im Sin­ne der Richt­li­nie, die hin­ter § 17 KSchG steht, auch die Ge­schäfts­füh­rer ei­ner GmbH zu zäh­len sind. Das gilt je­den­falls dann, wenn sie ähn­lich wie An­ge­stell­te von ei­nem re­gel­mä­ßi­gen Ge­halt ab­hän­gig sind, Wei­sun­gen der Ge­sell­schaf­ter be­fol­gen müs­sen und kei­ne Ge­schäfts­an­tei­le be­sit­zen: EuGH, Ur­teil vom 09.07.2015, C-229/14 (Bal­kay gg. Kie­sel Ab­bruch GmbH).

Wann ist ein Be­trieb groß ge­nug für ei­ne Mas­sen­ent­las­sung?

Die Richt­li­nie 98/59/EG des Ra­tes vom 20.07.1998 zur An­glei­chung der Rechts­vor­schrif­ten der Mit­glied­staa­ten über Mas­sen­ent­las­sun­gen ("Mas­sen­ent­las­sun­gsricht­li­nie") sieht in ih­rem Art.2 die Pflicht von Ar­beit­ge­bern vor, bei sog. Mas­sen­ent­las­sun­gen die be­trieb­li­chen Ar­beit­neh­mer­ver­tre­tun­gen vor­ab zu kon­sul­tie­ren. "Kon­sul­ta­ti­on" heißt, dass die Ar­beit­neh­mer­ver­tre­tung um­fas­send über die ge­plan­ten Maßnah­men zu in­for­mie­ren ist und der Ar­beit­ge­ber mit ihr be­ra­ten muss, ob und wie die­se Maßnah­men mögli­cher­wei­se ver­hin­dert wer­den können.

Da­mit die Mit­glieds­staa­ten der Eu­ropäischen Uni­on (EU) wis­sen, wann sie den Ar­beit­ge­bern ein sol­ches Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren vor­schrei­ben müssen, de­fi­niert Art.1 Abs.1 Buch­sta­be a) der Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie die Vor­aus­set­zun­gen, un­ter de­nen ei­ne "Mas­sen­ent­las­sung" vor­liegt. Da­bei können die Mit­glieds­staa­ten den Be­griff der Mas­sen­ent­las­sung ent­we­der für ei­nen 30-Ta­ges-Zeit­raum oder für ei­nen 90-Ta­ges-Zeit­raum fest­le­gen, d.h. ent­we­der auf die in­ner­halb von 30 Ta­gen oder auf die in­ner­halb von 90 Ta­gen ge­plan­ten Ent­las­sun­gen ab­stel­len.

Ent­schei­den sich die Mit­glieds­staa­ten für den 30-Ta­ges-Zeit­raum (wie Deutsch­land in § 17 KSchG), dann gilt als "Mas­sen­ent­las­sung", wenn der Ar­beit­ge­ber ei­nes Be­triebs mit ei­ner Be­leg­schaft von 21 bis 99 Ar­beit­neh­mern plant, bin­nen 30 Ta­gen min­des­tens zehn Ar­beit­neh­mer zu ent­las­sen, und zwar aus Gründen, die "nicht in ih­rer Per­son lie­gen". Nach deut­schem Ar­beits­recht liegt ei­ne Mas­sen­ent­las­sung bei ei­ner Ar­beit­neh­mer­zahl von 21 bis 59 be­reits dann vor, wenn min­des­tens sechs Ent­las­sun­gen ge­plant sind (§ 17 Abs.1 Nr.1 KSchG).

So­mit kommt es für die Gel­tung der Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie und glei­cher­maßen für die An­wen­dung von § 17 Abs.1 Nr.1 KSchG dar­auf an, ob der Schwel­len­wert von min­des­tens 21 Ar­beit­neh­mern er­reicht wird oder nicht. Wird er er­reicht und sol­len von die­sen min­des­tens 21 Ar­beit­neh­mern min­des­tens sechs in­ner­halb von 30 Ta­gen aus be­trieb­li­chen Gründen ent­las­sen wer­den, liegt ei­ne Mas­sen­ent­las­sung im Sin­ne des deut­schen Ar­beits­rechts vor. Dann muss der Ar­beit­ge­ber den Be­triebs­rat kon­sul­tie­ren und außer­dem die Ar­beits­agen­tur über die ge­plan­ten Ent­las­sun­gen in Form ei­ner Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge in­for­mie­ren.

Spricht der Ar­beit­ge­ber im Rah­men ei­ner an­zei­ge­pflich­ti­gen Mas­sen­ent­las­sung Kündi­gun­gen aus, oh­ne zu­vor ei­ne Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge durch­zuführen, sind die Kündi­gun­gen nach der Recht­spre­chung un­wirk­sam. Ein Nach­schie­ben der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge ist nicht möglich bzw. ändert nichts dar­an, dass die Kündi­gun­gen un­wirk­sam sind.

In­fol­ge­des­sen sind Ar­beit­ge­ber gut be­ra­ten, vor ei­ner mögli­cher­wei­se un­ter § 17 Abs.1 Nr.1 KSchG fal­len­den Kündi­gungs­wel­le die An­zahl der beschäftig­ten und der zu ent­las­sen­den Ar­beit­neh­mer sehr ge­nau zu zählen. Gehört der Be­trieb ei­ner Ge­sell­schaft mit be­schränk­ter Haf­tung (GmbH) und beschäftigt un­gefähr 20 Ar­beit­neh­mer, kann es für das Vor­lie­gen ei­ner Mas­sen­ent­las­sung ent­schei­dend dar­auf an­kom­men, ob der Geschäftsführer der GmbH als Ar­beit­neh­mer zu zählen ist oder nicht.

Zu die­ser Fra­ge hat sich der EuGH in sei­nem Ur­teil vom 09.07.2015 (C-229/14 - En­der Bal­kay gg. Kie­sel Ab­bruch GmbH) geäußert.

Der Streit­fall: Sch­ließung ei­nes Be­triebs mit 19 "nor­ma­len" Ar­beit­neh­mern, ei­nem Fremd­geschäftsführer und ei­ner Umschüle­rin

In dem aus Deutsch­land stam­men­den Vor­la­ge­fall ging es um ei­nen an­ge­stell­ten Tech­ni­ker, Herrn En­der Bal­ka­ya, der seit April 2011 in dem Be­trieb der Kie­sel Ab­bruch und Re­cy­cling Tech­nik GmbH beschäftigt war. In dem Be­trieb wa­ren mit ihm 19 "nor­ma­le" Ar­beit­neh­mer tätig, da­ne­ben ei­ne vom Job­cen­ter be­zahl­te Umschüle­rin bzw. Prak­ti­kan­tin so­wie der Geschäftsführer der GmbH, der kei­ne An­tei­le be­saß und da­her ein sog. "Fremd­geschäftsführer" war.

Nach­dem die Kie­sel Ab­bruch GmbH in­sol­vent ge­wor­den war, kündig­te sie al­len Ar­beit­neh­mern, dem Fremd­geschäftsführer und der Prak­ti­kan­tin An­fang 2013 und stell­te den Be­trieb ein.

Der Tech­ni­ker er­hob dar­auf­hin Kündi­gungs­schutz­kla­ge vor dem Ar­beits­ge­richt Ver­den und ar­gu­men­tier­te da­mit, dass die strei­ti­ge Kündi­gung un­wirk­sam sei, weil die GmbH die er­for­der­li­che Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge un­ter­las­sen hätte. Ei­ne sol­che An­zei­ge gab es in der Tat nicht, so dass es ent­schei­dend dar­auf an­kommt, ob der Geschäftsführer und die Umschüle­rin als "Ar­beit­neh­mer" an­zu­se­hen sind oder nicht.

Das Ar­beits­ge­richt Ver­den setz­te das Ver­fah­ren aus und frag­te den Ge­richts­hof, ob die Vor­schrif­ten der Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie auch auf Fremd­geschäftsführer an­zu­wen­den sind (Ar­beits­ge­richt Ver­den, Be­schluss vom 06.05.2014, 1 Ca 35/13).

EuGH: GmbH-Fremd­geschäftsführer zählen bei der An­wen­dung des Schwel­len­wer­tes für Mas­sen­ent­las­sun­gen als Ar­beit­neh­mer

Der EuGH stell­te fest, dass der Fremd­geschäftsführer der GmbH als Ar­beit­neh­mer im Sin­ne der Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie ein­zu­stu­fen und da­mit bei der Be­rech­nung des Schwel­len­werts im Rah­men von Mas­sen­ent­las­sun­gen mit zu berück­sich­ti­gen ist. Da­bei kommt es, so der EuGH, nicht dar­auf an, ob GmbH-Geschäftsführer nach dem Recht der EU-Mit­glieds­staa­ten Ar­beit­neh­mer sind oder nicht.

Maßgeb­lich für den Be­griff des Ar­beit­neh­mers im Sin­ne der Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie ist für den EuGH, ob je­mand für ei­ne be­stimm­te Zeit Leis­tun­gen für ei­nen an­de­ren nach des­sen Wei­sun­gen er­bringt und als Ge­gen­leis­tung dafür ei­ne Vergütung erhält. Und un­ter die­se De­fi­ni­ti­on fällt auch der Fremd­geschäftsführer ei­ner GmbH.

Von der lei­ten­den Stel­lung als Ma­na­ger der GmbH ließ sich der Ge­richts­hof nicht be­ein­dru­cken. Denn als GmbH-Fremd­geschäftsführer kann man je­der­zeit, auch ge­gen sei­nen Wil­len, von den Ge­sell­schaf­tern ab­be­ru­fen wer­den und man un­ter­liegt bei der Geschäftsführung den Wei­sun­gen und der Auf­sicht der GmbH-Ge­sell­schaf­ter. Hier im Streit­fall kam hin­zu, dass der Geschäftsführer der be­klag­ten GmbH kei­ne An­tei­le an der Ge­sell­schaft be­saß.

Fa­zit: Das Ur­teil des EuGH fügt sich in sei­ne bis­he­ri­ge Recht­spre­chung zur Ar­beit­neh­mer­ei­gen­schaft von Ver­tre­tungs­or­ga­nen ju­ris­ti­scher Per­so­nen. So hat­te der Ge­richts­hof schon 2010 ent­schie­den, dass sich ei­ne schwan­ge­re Geschäftsführe­rin auf die Mut­ter­schutz­richt­li­nie be­ru­fen kann (Ur­teil vom 11.11.2010, C-232/09 - Da­no­sa). Da die §§ 17 ff. KSchG der Um­set­zung der Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie die­nen, sind Fremd­geschäftsführer ei­ner GmbH künf­tig als Ar­beit­neh­mer mit­zuzählen, wenn es um die hier im Ge­setz ent­hal­te­nen Schwel­len­wer­te geht.

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Letzte Überarbeitung: 11. Juni 2019

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