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BAG, Ur­teil vom 07.08.2012, 9 AZR 760/10

   
Schlagworte: Urlaub, Mehrurlaub, Urlaub: Krankheit, Krankheit: Urlaub
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 9 AZR 760/10
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 07.08.2012
   
Leitsätze: Differenziert eine Regelung in einem Arbeits- oder Tarifvertrag hinsichtlich des Umfangs des Urlaubsanspruchs nicht zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub und einem übergesetzlichen Mehrurlaub, liegt in Höhe des gesetzlichen Urlaubs Anspruchskonkurrenz mit der Folge vor, dass ein Arbeitgeber mit der Freistellung des Arbeitnehmers von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung auch ohne ausdrückliche oder konkludente Tilgungsbestimmung beide Ansprüche ganz oder teilweise erfüllt.
Vorinstanzen: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 30.09.2010 - 5 Sa 353/10
Arbeitsgericht Mönchengladbach, Urteile vom 17. sowie 27.01.2010 - 7 Ca 1179/09
   


BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT


9 AZR 760/10
5 Sa 353/10
Lan­des­ar­beits­ge­richt
Düssel­dorf

Im Na­men des Vol­kes!


Verkündet am
7. Au­gust 2012


UR­TEIL

Brüne, Ur­kunds­be­am­tin
der Geschäfts­stel­le

In Sa­chen

Be­klag­te, Wi­derkläge­rin, Be­ru­fungs­be­klag­te und Re­vi­si­onskläge­rin,

pp.

Kläge­rin, Wi­der­be­klag­te, Be­ru­fungskläge­rin und Re­vi­si­ons­be­klag­te,


 

hat der Neun­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 7. Au­gust 2012 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Brühler, die Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Krasshöfer und



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Klo­se so­wie die eh­ren­amt­li­che Rich­te­rin Neu­mann und den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Dip­per für Recht er­kannt:


1. Auf die Re­vi­si­on der Be­klag­ten wird das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts Düssel­dorf vom 30. Sep­tem­ber 2010 - 5 Sa 353/10 - teil­wei­se auf­ge­ho­ben und die Be­ru­fung der Kläge­rin ge­gen das Teil- und Schlus­s­ur­teil des Ar­beits­ge­richts Mönchen­glad­bach vom 27. Ja­nu­ar 2010 - 7 Ca 1179/09 - ins­ge­samt zurück­ge­wie­sen.


2. Die Kos­ten der ers­ten In­stanz und der Be­ru­fung hat die Kläge­rin zu 31 % und die Be­klag­te zu 69 % zu tra­gen. Die Kos­ten der Re­vi­si­on hat die Kläge­rin zu tra­gen.


Von Rechts we­gen!


Tat­be­stand


Die Par­tei­en strei­ten in der Re­vi­si­ons­in­stanz noch über ei­nen An­spruch der Kläge­rin auf Ur­laubs­ab­gel­tung für wei­te­re zehn Ur­laubs­ta­ge aus dem Jahr 2007 so­wie ei­nen An­spruch auf Zah­lung rest­li­chen Ur­laubs­gelds für die­ses Jahr.


Die Kläge­rin war vom 1. Fe­bru­ar 1986 bis zum 28. Fe­bru­ar 2009 bei der Be­klag­ten als Büroan­ge­stell­te beschäftigt und im Rah­men ei­ner Fünf­ta­ge­wo­che mit den Auf­ga­ben ei­ner Sach­be­ar­bei­te­rin für die Lohn- und Ge­halts­ab­rech­nun­gen be­traut. In dem für das Ar­beits­verhält­nis auf­grund ver­trag­li­cher Be­zug­nah­me gel­ten­den Man­tel­ta­rif­ver­trag für das In­stal­la­teur- und Hei­zungs­bau­er-, Klemp­ner-, Behälter- und Ap­pa­ra­te­bau­er-Hand­werk im Land Nord­rhein-West­fa­len vom 13. Au­gust 2007 (MTV), gültig ab 1. Ju­li 2007, heißt es ua.:


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Grundsätze der Ur­laubs­gewährung


1. Je­der Ar­beit­neh­mer hat nach Maßga­be der nach­ste­hen­den Be­stim­mun­gen in je­dem Ur­laubs­jahr An­spruch auf be­zahl­ten Er­ho­lungs­ur­laub.


Ur­laubs­jahr ist das Ka­len­der­jahr.



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...


§ 7
All­ge­mei­ne Ur­laubs­be­stim­mun­gen


1. Der Zeit­punkt des Ur­laubs rich­tet sich nach dem auf­ge­stell­ten Ur­laubs­plan. So­weit kein Ur­laubs­plan be­steht, kann der Ur­laubs­an­spruch, ab­ge­se­hen vom Ein­tritts­jahr, ab 1. April in vol­ler Höhe gel­tend ge­macht wer­den.


...
6. Der Ur­laubs­an­spruch er­lischt drei Mo­na­te nach Ab­lauf des Ka­len­der­jah­res, es sei denn, dass er er­folg­los gel­tend ge­macht wur­de oder dass der Ur­laub aus be­trieb­li­chen Gründen nicht ge­nom­men wer­den konn­te.


Liegt ei­ne un­un­ter­bro­che­ne Krank­heit während ei­nes ge­sam­ten Ka­len­der­jah­res vor und dau­ert die­se Krank­heit auch noch am 31.03. des fol­gen­den Ka­len­der­jah­res an, so er­lischt der An­spruch für das zurück­lie­gen­de Ka­len­der­jahr, es sei denn, die Ar­beits­unfähig­keit ist durch ei­nen Be­triebs­un­fall/We­ge­un­fall im Sin­ne des SGB (So­zi­al­ge­setz­buch) ver­ur­sacht.


7. Der An­spruch auf be­zahl­ten Ur­laub wird um so viel Ta­ge gekürzt, wie der Ar­beit­neh­mer seit sei­nem letz­ten Ur­laub oder, falls er noch kei­nen Ur­laub ge­nom­men hat, seit sei­nem Ein­tritt in den Be­trieb un­ent­schul­digt der Ar­beit fern­ge­blie­ben ist (Fehl­ta­ge). Der Min­des­t­ur­laub gem. Bun­des­ur­laubs­ge­setz darf je­doch nicht un­ter­schrit­ten wer­den.


§ 8
Ur­laubs­dau­er


1. Der Ur­laub beträgt für al­le Ar­beit­neh­mer 30 Ar­beits­ta­ge.


2. Der Zu­satz­ur­laub für Schwer­be­hin­der­te re­gelt sich nach den ge­setz­li­chen Be­stim­mun­gen.


...

§ 9
Ur­laubs­vergütung


1. Bei der Be­rech­nung der Ur­laubs­vergütung sind zu-



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grun­de zu le­gen


100 % des Ar­beits­ent­gelts plus 40 % zusätz­li­ches Ur­laubs­geld, aus­ge­hend von der ta­rif­li­chen Ar­beits­zeit von 7,4 St­un­den pro Tag.


...“


Die Be­klag­te gewähr­te der Kläge­rin im Jahr 2007 15 Ta­ge Ur­laub und zahl­te ihr für die­ses Jahr ta­rif­li­ches Ur­laubs­geld iHv. 1.049,71 Eu­ro brut­to. Vom 29. April 2008 bis zum En­de des Ar­beits­verhält­nis­ses war die Kläge­rin durch­ge­hend ar­beits­unfähig krank. Sie ver­lang­te mit Schrei­ben vom 20. Fe­bru­ar 2009 von der Be­klag­ten oh­ne Er­folg ua. die Ab­gel­tung von 15 Ur­laubs­ta­gen aus dem Jahr 2007 so­wie die Zah­lung von wei­te­rem ta­rif­li­chen Ur­laubs­geld für die­ses Jahr.


Die Kläge­rin hat be­haup­tet, es be­ste­he bei der Be­klag­ten ei­ne be­trieb­li­che Übung, wo­nach Ur­laub bis zum 31. De­zem­ber des Fol­ge­jah­res ge­nom­men wer­den könne. Da die Be­klag­te bei der Ur­laubs­gewährung im Jahr 2007 kei­ne Til­gungs­be­stim­mung ge­trof­fen ha­be, fin­de § 366 Abs. 2 BGB An­wen­dung mit dem Er­geb­nis, dass mit der Gewährung von 15 Ur­laubs­ta­gen der ta­rif­li­che Mehr­ur­laubs­an­spruch von zehn Ur­laubs­ta­gen und der ge­setz­li­che Ur­laubs­an­spruch in Höhe von fünf Ur­laubs­ta­gen erfüllt wor­den sei. Dem­zu­fol­ge ha­be die Be­klag­te noch 15 Ta­ge ge­setz­li­chen Ur­laub aus dem Jahr 2007 ab­zu­gel­ten, der auf­grund ih­rer Ar­beits­unfähig­keit nicht vor der Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses ver­fal­len sei. Ne­ben der Ur­laubs­ab­gel­tung ste­he ihr das be­an­spruch­te wei­te­re ta­rif­li­che Ur­laubs­geld für das Jahr 2007 zu.


Die Kläge­rin hat - so­weit für die Re­vi­si­on von In­ter­es­se - be­an­tragt, die Be­klag­te zur Zah­lung wei­te­rer 1.537,89 Eu­ro nebst Zin­sen in Höhe von fünf Pro­zent­punk­ten über dem je­wei­li­gen Ba­sis­zins­satz seit dem 1. März 2009 zu ver­ur­tei­len.


Die Be­klag­te hat zu ih­rem An­trag auf Kla­ge­ab­wei­sung die Auf­fas­sung ver­tre­ten, der über­ge­setz­li­che Mehr­ur­laub für das Jahr 2007 sei an­ge­sichts der ei­genständi­gen Re­ge­lung in § 7 MTV ver­fal­len. § 366 BGB sei we­der di­rekt noch ana­log an­wend­bar. Im Übri­gen wäre bei ei­ner An­wen­dung die­ser Norm


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von ei­ner kon­klu­den­ten Til­gungs­be­stim­mung der­ge­stalt aus­zu­ge­hen, dass sie mit der Frei­stel­lung der Kläge­rin im Jahr 2007 zunächst den ge­setz­li­chen Ur­laubs­an­spruch erfüllt ha­be.


Das Ar­beits­ge­richt hat der Kla­ge teil­wei­se statt­ge­ge­ben und der Kläge­rin ua. Ur­laubs­ab­gel­tung für fünf Ta­ge ge­setz­li­chen Rest­ur­laub aus dem Jahr 2007 so­wie für die­se fünf Ta­ge wei­te­res ta­rif­li­ches Ur­laubs­geld zu­ge­spro­chen. Im Übri­gen hat es die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Auf die Be­ru­fung der Kläge­rin hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts teil­wei­se ab­geändert und die Be­klag­te zur Ab­gel­tung wei­te­rer zehn Ur­laubs­ta­ge aus dem Jahr 2007 so­wie zur Zah­lung wei­te­ren ta­rif­li­chen Ur­laubs­gelds für die­se zehn Ta­ge ver­ur­teilt. Die Be­klag­te ver­folgt mit ih­rer Re­vi­si­on die Wie­der­her­stel­lung des erst­in­stanz­li­chen Ur­teils.


Ent­schei­dungs­gründe


Die Re­vi­si­on der Be­klag­ten ist be­gründet. Der Kläge­rin steht we­der Ur­laubs­ab­gel­tung für wei­te­re zehn Ur­laubs­ta­ge aus dem Jahr 2007 zu, noch hat sie An­spruch auf wei­te­res ta­rif­li­ches Ur­laubs­geld für die­ses Jahr.


I. Ein An­spruch der Kläge­rin auf Ab­gel­tung von wei­te­ren zehn Ta­gen ge­setz­li­chen Ur­laub aus dem Jahr 2007 folgt nicht aus § 7 Abs. 4 BUrlG, wo­nach der Ur­laub ab­zu­gel­ten ist, wenn er we­gen Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses ganz oder teil­wei­se nicht mehr gewährt wer­den kann. Da kei­ne Ar­beits­pflicht an sechs Ta­gen in der Wo­che be­stand, son­dern die Kläge­rin im Rah­men ei­ner Fünf­ta­ge­wo­che beschäftigt war, stan­den die­ser im Ka­len­der­jahr nach § 3 Abs. 1 BUrlG 20 Ur­laubs­ta­ge zu. Darüber, dass die Be­klag­te der Kläge­rin ins­ge­samt 15 Ur­laubs­ta­ge aus dem Jahr 2007 gewähr­te, be­steht kein Streit. Dem­zu­fol­ge hat­te die Be­klag­te gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG nur fünf Ta­ge ge­setz­li­chen Ur­laub ab­zu­gel­ten, wo­zu sie das Ar­beits­ge­richt rechts­kräftig ver­ur­teilt hat.



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1. Ent­ge­gen der Rechts­auf­fas­sung der Kläge­rin gewähr­te die Be­klag­te mit der Frei­stel­lung der Kläge­rin von der Ver­pflich­tung zur Ar­beits­leis­tung im Jahr 2007 zunächst nicht nur den ta­rif­li­chen Mehr­ur­laub. Auf ei­ne Til­gungs­be­stim­mung der Be­klag­ten kam es nicht an. Mit der Frei­stel­lung der Kläge­rin von der Ver­pflich­tung zur Ar­beits­leis­tung an 15 Ta­gen im Jahr 2007 hat die Be­klag­te so­wohl den ge­setz­li­chen als auch den ta­rif­li­chen Ur­laubs­an­spruch gemäß § 362 Abs. 1 BGB teil­wei­se zum Erlöschen ge­bracht.


2. Der Hin­weis der Kläge­rin auf die Re­ge­lung in § 366 Abs. 2 BGB gibt kein an­de­res Er­geb­nis vor. Al­ler­dings trifft es zu, dass der Se­nat in sei­ner Ent­schei­dung vom 5. Sep­tem­ber 2002 (- 9 AZR 244/01 - zu B III 2 b aa der Gründe, BA­GE 102, 321) auf die­se Be­stim­mung zurück­ge­grif­fen und an­ge­nom­men hat, nach der Aus­le­gungs­re­gel des § 366 Abs. 2 BGB sei da­von aus­zu­ge­hen, dass ein Ar­beit­ge­ber zunächst auf den ge­setz­li­chen und so­dann auf den ta­rif­li­chen/ver­trag­li­chen Ur­laubs­an­spruch leis­te, wenn er Ur­laubs­ansprüche erfülle. Wenn ei­ne ar­beits- oder ta­rif­ver­trag­li­che Re­ge­lung hin­sicht­lich des Um­fangs des Ur­laubs­an­spruchs nicht zwi­schen ge­setz­li­chen und ar­beits- oder ta­rif­ver­trag­li­chen Ur­laubs­ansprüchen un­ter­schei­det und den Ar­beit­neh­mern ei­nen über den ge­setz­li­chen An­spruch hin­aus­ge­hen­den An­spruch auf Er­ho­lungs­ur­laub einräumt, kommt ent­ge­gen der Rechts­an­sicht des Lan­des­ar­beits­ge­richts ein Rück­griff auf die Aus­le­gungs­re­gel in § 366 Abs. 2 BGB je­doch eben­so we­nig in Be­tracht wie ei­ne ana­lo­ge An­wen­dung die­ser Vor­schrift.


a) In Kon­stel­la­tio­nen wie der vor­lie­gen­den sind die An­wen­dungs­vor­aus­set­zun­gen des § 366 Abs. 2 BGB nicht erfüllt. Die Norm re­gelt den Fall, dass der Schuld­ner dem Gläubi­ger aus meh­re­ren Schuld­verhält­nis­sen zu gleich­ar­ti­gen Leis­tun­gen ver­pflich­tet ist und das von ihm Ge­leis­te­te zur Til­gung sämt­li­cher Schul­den nicht aus­reicht. Vor­aus­set­zung ist mit­hin ei­ne Mehr­heit von Schuld­verhält­nis­sen, wo­bei § 366 BGB das Schuld­verhält­nis im en­ge­ren Sin­ne meint (vgl. Stau­din­ger/Ol­zen (2011) § 366 Rn. 14). § 366 BGB gilt auch bei ei­ner Mehr­heit von For­de­run­gen aus dem­sel­ben Schuld­verhält­nis (Pa­landt/ Grüne­berg BGB 71. Aufl. § 366 Rn. 2; MüKoBGB/Fet­zer 6. Aufl. § 366 Rn. 2).



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Aus dem sys­te­ma­ti­schen Verhält­nis zu § 367 BGB folgt je­doch, dass es sich um selbstständi­ge For­de­run­gen han­deln muss (Stau­din­ger/Ol­zen aaO mwN). Tref­fen ge­setz­li­che und ta­rif- oder ar­beits­ver­trag­li­che Er­ho­lungs­ur­laubs­ansprüche zu­sam­men, han­delt es sich, so­weit sich die­se Ansprüche de­cken, grundsätz­lich nicht um selbstständi­ge Ur­laubs­ansprüche (vgl. Hes­si­sches LAG 26. April 2010 - 17 Sa 1772/09 -; LAG Ber­lin-Bran­den­burg 2. De­zem­ber 2009 - 17 Sa 621/09 - zu II 1 der Gründe; Nat­zel NZA 2011, 77, 78; Po­wietz­ka/Rolf BUrlG § 1 Rn. 4). In­so­weit han­delt es sich um ei­nen ein­heit­li­chen An­spruch auf Er­ho­lungs­ur­laub, der auf ver­schie­de­nen An­spruchs­grund­la­gen be­ruht (vgl. AnwK-ArbR/Düwell 2. Aufl. Bd. 2 § 7 BUrlG Rn. 53; Lei­ne­mann/Linck Ur­laubs­recht 2. Aufl. § 7 BUrlG Rn. 15; HWK/Schinz 5. Aufl. § 7 BUrlG Rn. 14). An­ders verhält es sich bei un­ter­schied­li­chen Ur­laubs­ansprüchen, zB dem An­spruch auf Er­ho­lungs­ur­laub ei­ner­seits und dem An­spruch auf Bil­dungs- oder Son­der­ur­laub an­de­rer­seits (vgl. BAG 1. Ok­to­ber 1991 - 9 AZR 290/90 - zu II 1 b der Gründe, BA­GE 68, 308; HWK/Schinz aaO).


b) Die Re­ge­lun­gen des § 366 BGB sind auch nicht ana­log mit dem Er­geb­nis an­zu­wen­den, dass zunächst aus­sch­ließlich auf den den ge­setz­li­chen Min­des­t­ur­laub über­stei­gen­den, nur ta­rif­ver­trag­lich be­gründe­ten Teil des Ur­laubs­an­spruchs ge­leis­tet wird (aA ErfK/Gall­ner 12. Aufl. § 7 BUrlG Rn. 54). Dies würde das Vor­lie­gen ei­ner plan­wid­ri­gen Re­ge­lungslücke vor­aus­set­zen. Ei­ne sol­che Lücke ist nach dem Re­ge­lungs­plan des Ge­set­zes nicht zu er­ken­nen (vgl. Nat­zel NZA 2011, 77, 79). Die Un­ab­ding­bar­keit des ge­setz­li­chen Ur­laubs­an­spruchs spricht dafür, dass die Frei­stel­lung zur Erfüllung des An­spruchs auf Er­ho­lungs­ur­laub - zu­min­dest auch - in Be­zug auf das Bun­des­ur­laubs­ge­setz als An­spruchs­grund­la­ge er­folgt (vgl. Lei­ne­mann/Linck § 7 BUrlG Rn. 15; AnwK-ArbR/Düwell § 7 BUrlG Rn. 53).


3. Der Ur­laubs­an­spruch aus § 6 Ziff. 1 iVm. § 8 Ziff. 1 MTV, wo­nach der Er­ho­lungs­ur­laub in je­dem Ka­len­der­jahr für al­le Ar­beit­neh­mer 30 Ar­beits­ta­ge beträgt, ist ge­genüber dem ge­setz­li­chen An­spruch auf Er­ho­lungs­ur­laub gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG kein ei­genständi­ger An­spruch, so­weit sich bei­de Ansprüche de­cken.


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a) § 8 Ziff. 1 MTV dif­fe­ren­ziert schon sei­nem Wort­laut nach bei der Fest­le­gung der Höhe des Ur­laubs­an­spruchs nicht zwi­schen dem ge­setz­li­chen Min­dest- und dem ta­rif­li­chen Mehr­ur­laub. Die Vor­schrift be­stimmt, dass der Ur­laub für al­le Ar­beit­neh­mer 30 Ar­beits­ta­ge beträgt. Die­ser Ur­laub soll er­kenn­bar nicht zusätz­lich zum ge­setz­li­chen Er­ho­lungs­ur­laub gewährt wer­den, son­dern schließt die­sen mit ein.


b) Auch die sons­ti­gen ta­rif­li­chen Ur­laubs­re­ge­lun­gen des MTV ent­hal­ten kei­ne An­halts­punk­te dafür, dass die in § 8 Ziff. 1 MTV an­ge­ord­ne­te Ur­laubs­dau­er sich erst aus der Ad­di­ti­on zwei­er ei­genständi­ger Ur­laubs­ansprüche er­gibt, nämlich dem ge­setz­li­chen Min­des­t­ur­laubs­an­spruch ei­ner­seits und ei­nem die­sen auf­sto­cken­den, ge­son­der­ten ta­rif­li­chen Ur­laubs­an­spruch an­de­rer­seits. Aus der Re­ge­lung in § 7 Ziff. 7 MTV folgt nichts an­de­res. Da­nach wird der An­spruch auf be­zahl­ten Ur­laub zwar um so vie­le Ta­ge gekürzt, wie der Ar­beit­neh­mer seit sei­nem letz­ten Ur­laub oder, falls er noch kei­nen Ur­laub ge­nom­men hat, seit sei­nem Ein­tritt in den Be­trieb un­ent­schul­digt der Ar­beit fern­ge­blie­ben ist, je­doch darf der Min­des­t­ur­laub nach dem Bun­des­ur­laubs­ge­setz nicht un­ter­schrit­ten wer­den. Die in­halt­li­che Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen dem Min­des­t­ur­laub nach dem Bun­des­ur­laubs­ge­setz und dem Mehr­ur­laub zwingt noch nicht zu der An­nah­me, dass, so­weit sich die Ur­laubs­ansprüche de­cken, zwei selbstständi­ge Ur­laubs­ansprüche ne­ben­ein­an­der be­ste­hen. Hätten die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en des MTV in­so­weit ne­ben dem ge­setz­li­chen An­spruch auf Er­ho­lungs­ur­laub ei­nen ei­genständi­gen ta­rif­li­chen Ur­laubs­an­spruch re­geln wol­len, hätte die Möglich­keit, den Ur­laub zu kürzen, nicht in § 7 Ziff. 7 Satz 2 MTV ein­ge­schränkt wer­den dürfen, son­dern be­reits in § 7 Ziff. 7 Satz 1 MTV auf den ta­rif­li­chen Mehr­ur­laub be­schränkt wer­den können und müssen, weil der ge­setz­li­che Min­des­t­ur­laub gemäß § 13 Abs. 1 BUrlG nicht gekürzt wer­den darf. Dass den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en Letz­te­res be­wusst war, zeigt die Re­ge­lung in § 7 Ziff. 7 Satz 2 MTV. Wenn sie die Kürzungs­re­ge­lung in § 7 Ziff. 7 Satz 1 MTV nicht auf den ta­rif­li­chen Mehr­ur­laub be­zo­gen und in § 7 Ziff. 7 Satz 2 MTV nur klar­ge­stellt ha­ben, dass der Min­des­t­ur­laub nach dem Bun­des­ur­laubs­ge­setz nicht un­ter­schrit­ten wer­den darf, wird dar­aus deut­lich, dass sie von ei­nem ein­heit­li­chen Ur­laubs­an­spruch aus­ge­gan­gen sind, so­weit sich die ge­setz­li­chen und ta­rif­li­chen



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Ur­laubs­ansprüche de­cken. Die­ses Verständ­nis der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en des MTV kommt zu­dem in der For­mu­lie­rung: „Der An­spruch auf be­zahl­ten Ur­laub wird um so viel Ta­ge gekürzt ...“, zum Aus­druck.


4. Der An­nah­me, dass es kei­ner Til­gungs­be­stim­mung des Ar­beit­ge­bers be­darf und die­ser mit der Frei­stel­lung des Ar­beit­neh­mers von der Ver­pflich­tung zur Ar­beits­leis­tung so­wohl den ge­setz­li­chen als auch den über­ge­setz­li­chen An­spruch des Ar­beit­neh­mers auf Er­ho­lungs­ur­laub ganz oder teil­wei­se erfüllt, wenn im Ar­beits- oder Ta­rif­ver­trag nicht hin­rei­chend deut­lich zwi­schen ge­setz­li­chem und über­ge­setz­li­chem Ur­laub un­ter­schie­den wird, steht nicht ent­ge­gen, dass ein ar­beits- oder ta­rif­ver­trag­li­cher Mehr­ur­laub bezüglich sei­ner Ent­ste­hungs­vor­aus­set­zun­gen, sei­ner Über­tra­gung, sei­ner Kürzung bei Vor­lie­gen be­stimm­ter Vor­aus­set­zun­gen, sei­nes Ver­falls oder sei­ner Ab­gel­tung ei­ge­nen Re­geln un­ter­lie­gen kann (vgl. Nat­zel NZA 2011, 77, 78 f.). Die­se Fra­gen sind je­weils ge­trennt zu be­trach­ten (vgl. BAG 22. Mai 2012 - 9 AZR 618/10 - Rn. 24, NZA 2012, 987; 12. April 2011 - 9 AZR 80/10 - Rn. 27, BA­GE 137, 328).


II. Die Be­klag­te ist auch nicht nach § 7 Abs. 4 BUrlG iVm. § 8 Ziff. 1 MTV ver­pflich­tet, ta­rif­li­chen Mehr­ur­laub im Um­fang von zehn Ta­gen ab­zu­gel­ten. So­weit der ta­rif­li­che Ur­laubs­an­spruch nicht durch Frei­stel­lung erfüllt wor­den war, ver­fiel er noch vor der Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses. Ta­rif­ver­trags­par­tei­en können Ur­laubs- und Ur­laubs­ab­gel­tungs­ansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Richt­li­nie 2003/88/EG des Eu­ropäischen Par­la­ments und des Ra­tes vom 4. No­vem­ber 2003 über be­stimm­te As­pek­te der Ar­beits­zeit­ge­stal­tung (ABl. EU L 299 vom 18. No­vem­ber 2003 S. 9; im Fol­gen­den: Ar­beits­zeit­richt­li­nie) gewähr­leis­te­ten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG be­gründe­ten An­spruch auf Min­dest­jah­res­ur­laub von vier Wo­chen über­stei­gen, frei re­geln (vgl. EuGH 3. Mai 2012 - C-337/10 - [Nei­del] Rn. 34 ff. mwN, AP Richt­li­nie 2003/88/EG Nr. 8 = EzA EG-Ver­trag 1999 Richt­li­nie 2003/88 Nr. 9; BAG 12. April 2011 - 9 AZR 80/10 - Rn. 21, BA­GE 137, 328). Die­se Be­fug­nis schließt die Be­fris­tung des Mehr­ur­laubs ein. Nach § 7 Ziff. 6 MTV er­losch der Ur­laubs­an­spruch der Kläge­rin am 31. März 2008. Zu die­sem Zeit­punkt war die Kläge­rin noch nicht ar­beits­unfähig er­krankt.



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III. Die ta­rif­li­chen Mehr­ur­laubs­ansprüche sind auch dann vor der Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses ver­fal­len, wenn zu­guns­ten der Kläge­rin da­von aus­ge­gan­gen wird, dass bei der Be­klag­ten die be­trieb­li­che Übung be­steht, nach der Ur­laubs­ansprüche ent­ge­gen der Re­ge­lung in § 7 Ziff. 6 MTV auch oh­ne das Vor­lie­gen be­son­de­rer Über­tra­gungs­gründe nicht nur bis zum 31. März, son­dern bis zum 31. De­zem­ber des Fol­ge­jah­res über­tra­gen wer­den. Da­bei kann un­ent­schie­den blei­ben, ob ei­ne sol­che be­trieb­li­che Übung bezüglich des ge­setz­li­chen Min­des­t­ur­laubs mit § 13 Abs. 1 BUrlG ver­ein­bar ist oder die grundsätz­li­che Bin­dung des Ur­laubs an das Ur­laubs­jahr zu­las­ten der Ar­beit­neh­mer in un­zulässi­ger Wei­se auflöst (zur Über­tra­gung des Ur­laubs durch be­trieb­li­che Übung bei Vor­lie­gen von Über­tra­gungs­gründen: vgl. BAG 21. Ju­ni 2005 - 9 AZR 200/04 - zu II 3 b bb der Gründe, AP In­sO § 55 Nr. 11 = EzA BUrlG § 7 Nr. 114). Denn die noch nicht erfüll­ten ta­rif­li­chen Mehr­ur­laubs­ansprüche aus dem Jahr 2007 ver­fie­len je­den­falls mit Ab­lauf des Über­tra­gungs­zeit­raums am 31. De­zem­ber 2008. Der nur auf­grund der Verlänge­rung des Über­tra­gungs­zeit­raums durch be­trieb­li­che Übung fort­be­ste­hen­de Ur­laubs­an­spruch ver­fiel, ob­wohl die Kläge­rin zu die­sem Zeit­punkt ar­beits­unfähig krank war.


Durch ei­ne be­trieb­li­che Übung ent­ste­hen ver­trag­li­che Ansprüche (vgl. BAG 21. Ju­ni 2005 - 9 AZR 200/04 - zu II 3 b aa der Gründe, AP In­sO § 55 Nr. 11 = EzA BUrlG § 7 Nr. 114). Die Ar­beits­ver­trags­par­tei­en können Ur­laubs- und Ur­laubs­ab­gel­tungs­ansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Ar­beits­zeit­richt­li­nie gewähr­leis­te­ten und von § 3 Abs. 1 BUrlG be­gründe­ten Min­dest­jah­res­ur­laubs­an­spruch von vier Wo­chen über­stei­gen, frei re­geln. Ih­re Re­ge­lungs­macht ist nicht durch die für ge­setz­li­che Ur­laubs­ansprüche er­for­der­li­che richt­li­ni­en­kon­for­me Fort­bil­dung des § 7 Abs. 3 und Abs. 4 BUrlG be­schränkt. Dem Ver­fall des über­ge­setz­li­chen Ur­laubs­an­spruchs steht nach dem kla­ren Richt­li­ni­en­recht und der ge­si­cher­ten Recht­spre­chung des EuGH kein Uni­ons­recht ent­ge­gen (vgl. BAG 24. März 2009 - 9 AZR 983/07 - Rn. 81 mwN, BA­GE 130, 119). In­so­fern ist es vor­lie­gend auch un­er­heb­lich, dass ein Über­tra­gungs­zeit­raum nach der Recht­spre­chung des EuGH die Dau­er des Be­zugs­zeit­raums, für den er gewährt wird, deut­lich über­schrei­ten muss (EuGH 22. No­vem­ber 2011 - C-214/10 - [KHS] Rn. 38, AP Richt­li­nie 2003/88/EG Nr. 6 = EzA EG-Ver­trag



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1999 Richt­li­nie 2003/88 Nr. 7; 3. Mai 2012 - C-337/10 - [Nei­del] Rn. 41, AP Richt­li­nie 2003/88/EG Nr. 8 = EzA EG-Ver­trag 1999 Richt­li­nie 2003/88 Nr. 9). Auch die­se Recht­spre­chung des EuGH ist nur von Be­deu­tung für den durch die Ar­beits­zeit­richt­li­nie gewähr­leis­te­ten Min­dest­jah­res­ur­laub von vier Wo­chen. Die­ser Min­des­t­ur­laub ist der Kläge­rin teil­wei­se gewährt wor­den und, so­weit er nicht mehr gewährt wer­den konn­te, ist die Be­klag­te vom Ar­beits­ge­richt rechts­kräftig zur Ab­gel­tung die­ses Ur­laubs ver­ur­teilt wor­den. Durch die gel­tend ge­mach­te be­trieb­li­che Übung wäre der Mehr­ur­laub bis zum 31. De­zem­ber 2008, nicht je­doch darüber hin­aus auf­recht­er­hal­ten wor­den. Er wäre da­mit je­den­falls noch vor der Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses ver­fal­len, so­dass ein Ab­gel­tungs­an­spruch nicht ent­ste­hen konn­te.


IV. Die Kläge­rin hat ge­genüber der Be­klag­ten kei­nen An­spruch auf Ur­laubs­geld für wei­te­re zehn Ur­laubs­ta­ge aus dem Jahr 2007. Ist das Ur­laubs­geld zum Ur­laub und zur Ur­laubs­vergütung ak­zes­s­o­risch, wird es nur ge­schul­det, wenn auch ein An­spruch auf Ur­laubs­vergütung be­steht (vgl. BAG 12. Ok­to­ber 2010 - 9 AZR 531/09 - Rn. 21, 25, BA­GE 136, 46). Da der An­spruch der Kläge­rin auf wei­te­re zehn Ta­ge Ur­laub spätes­tens am 31. De­zem­ber 2008 ver­fiel, steht ihr auch ein An­spruch auf Ur­laubs­geld für die­se Ta­ge nicht zu. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat rechts­feh­ler­frei an­ge­nom­men, dass das im MTV ge­re­gel­te Ur­laubs­geld zum Ur­laub und zur Ur­laubs­vergütung ak­zes­s­o­risch ist. Die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en ha­ben die Ak­zess­orietät von Ur­laubs­an­spruch und Ur­laubs­geld be­reits im Wort­laut des § 9 MTV mit der For­mu­lie­rung „zusätz­li­ches Ur­laubs­geld“ deut­lich zum Aus­druck ge­bracht. Nach § 9 Ziff. 1 MTV ist das „zusätz­li­che Ur­laubs­geld“ darüber hin­aus ein Be­stand­teil der Ur­laubs­vergütung. Die­se ha­ben die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en um das „zusätz­li­che Ur­laubs­geld“ auf­ge­stockt, in­dem sie fest­ge­legt ha­ben, dass der Ur­laubs­vergütung „100 % des Ar­beits­ent­gelts plus 40 % zusätz­li­ches Ur­laubs­geld“ zu­grun­de zu le­gen sind.



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V. Die Kos­ten­ent­schei­dung folgt aus § 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Brühler

Krasshöfer

Klo­se

Neu­mann

Matth. Dip­per

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