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Ur­laubs­ab­gel­tung nach lan­ger Krank­heit auch für Be­am­te

Ha­ben Be­am­te in­fol­ge mehr­jäh­ri­ger Krank­heit kei­nen Ur­laub neh­men kön­nen, steht ih­nen Ur­laubs­ab­gel­tung zu, wenn sie in den Ru­he­stand tre­ten: Eu­ro­päi­scher Ge­richts­hof, Ur­teil vom 03.05.2012, Rs. C-337/10 (Nei­del gg. Frank­furt)
Feuerwehrmann Polizist Arzt Ur­laubs­ab­gel­tung nach Dau­er­krank­heit steht auch Be­am­ten zu

04.05.2012. An­fang 2009 ent­schied der Eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof (EuGH) in ei­nem Grund­satz­ur­teil, dass der Min­des­t­ur­laub von vier Wo­chen pro Jahr ge­mäß der Richt­li­nie 2003/88/EG nicht ver­fal­len darf, wenn er we­gen ei­ner lang­fris­ten Krank­heit nicht ge­nom­men wer­den konn­te (EuGH, Ur­teil vom 20.01.2009, C-350/06 - Schultz-Hoff - zu den Aus­wir­kun­gen die­ses Ur­teils sie­he Hand­buch Ar­beits­recht: Ur­laub und Krank­heit).

Die Haupt­fol­ge des Schultz-Ur­teils be­steht dar­in, dass lang­fris­tig er­krank­te Ar­beit­neh­mer bei Be­en­di­gung ih­res Ar­beits­ver­hält­nis­ses ho­he An­sprü­che auf Ur­laubs­ab­gel­tung ha­ben, da sie ja in­fol­ge ih­rer Krank­heit jah­re­lang kei­nen Ur­laub neh­men konn­ten. Das ist im deut­schen Ar­beits­recht im Prin­zip an­er­kannt, nicht aber im Be­am­ten­recht - ob­wohl Be­am­te un­strei­tig als "Ar­beit­neh­mer" im Sin­ne der Richt­li­nie 2003/88/EG an­zu­se­hen sind. Da­her hat­te das Ver­wal­tungs­ge­richt (VG) Frank­furt am Main Mit­te 2010 den EuGH ge­fragt, ob das Schultz-Hoff-Ur­teil auch für Be­am­te gilt (Be­schluss vom 25.06.2010, 9 K 836/10.F - wir be­rich­te­ten in: Ar­beits­recht ak­tu­ell: 10/200 Ur­laubs­ab­gel­tung für lang­zei­tig er­krank­te Be­am­te?)

Ges­tern hat der EuGH sein Ur­teil in die­ser Sa­che ge­spro­chen und be­stä­tigt, dass auch lang­zei­tig er­krank­te Be­am­te bei ih­rer Pen­sio­nie­rung Ur­laubs­ab­gel­tung ver­lan­gen kön­nen (EuGH, Ur­teil vom 03.05.2012, C-337/10 - Nei­del gg. Frank­furt).

Ur­laubs­ab­gel­tung für Be­am­te, die nach lan­ger Krank­heit in den Ru­he­stand tre­ten - eur­pa­recht­lich ge­bo­ten, be­am­ten­recht­lich aus­ge­schlos­sen?

Ar­ti­kel 7 Abs.1 der Richt­li­nie 2003/88/EG des Eu­ropäischen Par­la­ments und des Ra­tes vom 04.11.2003 über be­stimm­te As­pek­te der Ar­beits­zeit­ge­stal­tung (Richt­li­nie 2003/88/EG) schreibt vor, dass je­der Ar­beit­neh­mer ei­nen be­zahl­ten Jah­res­ur­laub von min­des­tens vier Wo­chen ha­ben muss.

Wie erwähnt stell­te der EuGH 2009 klar, dass der Ver­fall von Rest­ur­laubs­ansprüchen in­fol­ge länge­rer Krank­heit mit dem Eu­ro­pa­recht un­ver­ein­bar ist, da sonst der von der Richt­li­nie 2003/88/EG be­zweck­te Er­ho­lungs­zweck nicht er­reicht würde. Krank­heits­be­dingt nicht ge­nom­me­ner Ur­laub darf da­her nicht ver­fal­len, son­dern muss oh­ne zeit­li­che Be­gren­zung auf die Fol­ge­jah­re über­tra­gen wer­den (EuGH, Ur­teil vom 20.01.2009, C-350/06 - Schultz-Hoff - wir be­rich­te­ten in: Ar­beits­recht ak­tu­ell 09/023: Bei dau­er­haf­ter Krank­heit kein Ver­fall von Rest­ur­laubs­ansprüchen). En­det das Ar­beits­verhält­nis nach jah­re­lan­ger Krank­heit, ist da­her ein im Lau­fe der Zeit im­mer größer ge­wor­de­ner Rest­ur­laubs­an­spruch ab­zu­gel­ten.

Die deut­schen Ar­beits­ge­rich­te set­zen das Schultz-Hoff-Ur­teil des EuGH rasch um, al­len vor­an das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) An­fang 2009 (BAG, Ur­teil vom 24.03.2009, 9 AZR 983/07, wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell 09/057: Aus­le­gung des Bun­des­ur­laubs­ge­set­zes ent­spre­chend dem Schultz-Hoff-Ur­teil des EuGH und in: Ar­beits­recht ak­tu­ell 09/126: Kein Ver­fall von Rest­ur­laubs­ansprüchen in­fol­ge von Krank­heit seit dem 02.08.2006).

An­ders als die Ar­beits­ge­rich­te hiel­ten die meis­ten deut­schen Ver­wal­tungs­ge­rich­te aber trotz des Schultz-Hoff-Ur­teils dar­an fest, dass es für langjährig er­krank­te Be­am­te kei­ne Ur­laubs­ab­gel­tung bei Ein­tritt in den Ru­he­stand ge­ben könne. Da­bei be­rie­fen sie sich auf die deut­schen Be­am­ten­ge­set­ze, de­nen zu­fol­ge das Be­am­ten­verhält­nis mit dem Ein­tritt in den Ru­he­stand nicht en­det, so­wie auf die gu­te so­zia­le Ge­samt-Ab­si­che­rung von Be­am­ten. Die­se Auf­fas­sung steht aber auf wack­li­gen Füßen, da die Richt­li­nie 2003/88/EG un­zwei­fel­haft auch Be­am­te er­fasst.

Das VG Frank­furt am Main war hier vor zwei Jah­ren an­de­rer Mei­nung. Es frag­te da­her den EuGH, ob ein pen­sio­nier­ter Be­am­ter Ur­laubs­ab­gel­tung auf der Grund­la­ge von Art. 7 Abs. 2 der Richt­li­nie 2003/88/EG ver­lan­gen kann, wenn er we­gen lan­ger Krank­heit nicht in der La­ge war, sei­nen Ur­laub zu neh­men (Be­schluss vom 25.06.2010, 9 K 836/10.F).

Der Streit­fall: Der Haupt­brand­meis­ter Ge­org Nei­del ver­langt von der Stadt Frank­furt am Main Ur­laubs­ab­gel­tung

Im Streit­fall ar­bei­te­te der Feu­er­wehr­be­am­ter Ge­org Nei­del seit 1970 im Dienst der Stadt Frank­furt am Main. Seit Mit­te Ju­ni 2007 war er oh­ne Un­ter­bre­chung ar­beits­unfähig krank. En­de Au­gust 2009 trat er in den Ru­he­stand. Von 2007 bis 2009 konn­te er krank­heits­be­dingt kei­nen Ur­laub neh­men, so dass sich 86 Ur­laubs­ta­ge an­ge­sam­melt hat­ten.

Das er­gab in Geld fast 17.000,00 EUR brut­to, de­ren Aus­zah­lung Herr Nei­del ver­lang­te. Da die Stadt die­sen An­spruch zurück­wies, zog er vor das Ver­wal­tungs­ge­richt Frank­furt und klag­te den Be­trag ein, wo­bei er sich auf das Schultz-Hoff-Ur­teil des EuGH be­rief.

EuGH: Be­am­te ha­ben können bei Pen­sio­nie­rung Ur­laubs­ab­gel­tung ver­lan­gen, wenn sie zu­vor aus Krank­heits­gründen ih­ren vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laub nicht neh­men konn­ten

Wie der EuGH ges­tern ent­schied, hat­te Herr Nei­del im Prin­zip recht. Denn er un­ter­steht als Be­am­ter dem Schutz der Richt­li­nie 2003/88/EG, und es ist auch nicht zu be­zwei­feln, dass sein "Ar­beits­verhält­nis" mit Ein­tritt in den Ru­he­stand be­en­det wird, so der EuGH. Würde dann der Ur­laub er­satz­los in­fol­ge der langjähri­gen Er­kran­kung er­satz­los ver­fal­len, würde das dem Schutz­zweck der Richt­li­nie 2003/88/EG nicht ge­recht wer­den.

Da­bei macht der EuGH al­ler­dings zwei Ein­schränkun­gen:

Ers­tens ga­ran­tiert die Richt­li­nie 2003/88/EG nur ei­nen jähr­li­chen Min­des­t­ur­laub von vier Wo­chen. Ha­ben Ar­beit­neh­mer oder Be­am­te ei­nen länge­ren Ur­laubs­an­spruch, kann der Ur­laub, der über die vier Wo­chen hin­aus­geht, auch bei Krank­heit er­satz­los ver­fal­len, wenn das je­weils ein­schlägi­ge Recht der EU-Mit­glieds­staa­ten dies vor­sieht.

Zwei­tens ver­weist der EuGH auf sein Ur­teil in dem Streit­fall KHS gg. Schul­te (EuGH, Ur­teil vom 22.11.2011, C-214/10 - KHS gg. Schul­te - wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell 11/234 Ur­laub und Krank­heit: Krank­heits­be­dingt nicht ge­nom­me­ner Ur­laub kann nach 15 Mo­na­ten ver­fal­len). In die­sem Ur­teil hat der EuGH sein Schultz-Hoff-Ur­teil in ei­nem we­sent­li­chen Punkt ein­ge­schränkt und zu­guns­ten der Ar­beit­ge­ber­sei­te klar­ge­stellt, dass die Richt­li­nie 2003/88/EG kein "end­lo­ses" An­sam­meln von Ur­laubs­ansprüchen ver­langt. Viel­mehr ist es eu­ro­pa­recht­lich in Ord­nung, wenn na­tio­na­le Rechts­vor­schrif­ten oder Ta­rif­verträge ei­nen Ver­fall von Ur­laubs­ansprüchen auch in Krank­heitsfällen vor­se­hen, so­lan­ge die­se Ur­laubs­ansprüche nur für ei­ne "deut­lich" länge­re Zeit als ein Jahr auf­recht er­hal­ten wer­den.

Fa­zit: Das jet­zi­ge EuGH-Ur­teil über­rascht nicht. Der EuGH hat nämlich schon vor gut ei­nem Jahr klar­ge­stellt, dass Dienst­ord­nungs­an­ge­stell­te nach lan­ger Er­kran­kung Ur­laubs­ab­gel­tung ver­lan­gen können; Dienst­ord­nungs­an­ge­stell­te sind Ar­beit­neh­mer, die auf ar­beits­ver­trag­li­cher Grund­la­ge wie Be­am­te beschäftigt wer­den: EuGH, Be­schluss vom 07.04.2011, C-519/09 - May - wir be­rich­te­ten in: Ar­beits­recht ak­tu­ell: 11/143 Ur­laubs­ab­gel­tung für Be­am­te.

Tre­ten Be­am­te nach lan­ger Krank­heit in den Ru­he­stand, kann ih­nen ei­ne Ur­laubs­ab­gel­tung al­so künf­tig nicht mehr mit dem Ar­gu­ment ver­wei­gert wer­den, die Richt­li­nie 2003/88/EG gel­te gar nicht für sie. Be­trof­fe­ne Be­am­te soll­ten da­her un­ter Be­ru­fung auf die May-Ent­schei­dung und das jetzt er­gan­ge­ne Nei­del-Ur­teil des EuGH Ur­laubs­ab­gel­tung ver­lan­gen - und not­falls vor dem Ver­wal­tungs­ge­richt ein­kla­gen.

Al­ler­dings ha­ben es die An­stel­lungskörper­schaf­ten in der Hand, die be­am­ten­recht­li­chen Vor­schrif­ten so zu ändern, dass die Ab­si­che­rung von Ur­laubs­ansprüchen in Krank­heitsfällen zeit­lich be­schränkt wird, z.B. auf 18 Mo­na­te nach Ab­lauf des je­wei­li­gen Ur­laubs­jah­res. Oh­ne sol­che be­am­ten­recht­li­chen Vor­schrif­ten können lang­fris­tig er­krank­te Be­am­ten aber oh­ne zeit­li­che Be­schränkung Ur­laubs­ansprüche an­sam­meln und bei Be­ginn ih­res Ru­he­stan­des als Ur­laubs­ab­gel­tung ein­for­dern.

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Letzte Überarbeitung: 16. November 2020

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