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LAG Hamm, Urteil vom 04.05.2011, 2 Sa 1975/10
Schlagworte: | Kündigung: Betriebsbedingt, Interessenausgleich, Auswahlrichtlinie, Sozialauswahl, Betriebsänderung | |
Gericht: | Landesarbeitsgericht Hamm | |
Aktenzeichen: | 2 Sa 1975/10 | |
Typ: | Urteil | |
Entscheidungsdatum: | 04.05.2011 | |
Leitsätze: | 1. Die vorsätzliche Abweichung von einer Auswahlrichtlinie i.S.v. § 95 BetrVG, die die Bewertung der sozialen Auswahlkriterien verbindlich regelt, führt als ein vorsätzlicher Rechtsverstoß unabhängig davon, ob die Abweichung nur "marginal" ist, stets zur groben Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl i.S.v. § 125 InsO. 2. Die Zustimmung des Betriebsrats zum Interessenausgleich und Namensliste ändert an der groben Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl nichts, weil der Betriebsrat selbst nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG darüber zu wachen hat, dass bestehende Betriebsvereinbarungen eingehalten werden und nach § 75 BetrVG auch darüber, dass alle Arbeitnehmer nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt werden, was auch eigenes rechtsnormkonformes Verhalten beinhaltet. |
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Vorinstanzen: | Arbeitsgericht Hagen, Urteil vom 30.9.2010, 4 Ca 415/10 Nachgehend Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 24.10.2013, 6 AZR 854/11 |
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Tenor:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 30.09.2010 – 4 Ca 415/10 – wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Beklagten auferlegt.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses.
Der Beklagte wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 02.12.2009 - Aktenzeichen 100 IN 172/09 – zum Insolvenzverwalter über das Vermögen der Firma T1 Presswerk GmbH & Co. KG (im folgenden: Insolvenzschuldnerin) bestellt. Bereits unter dem 06.10.2009 wurde der Beklagte durch Beschluss des Amtsgerichts Hagen im Rahmen des Insolvenzeröffnungsverfahrens zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt.
Der am 24.06.1970 geborene, ledige Kläger war seit dem 05.11.1998 als Werkzeugmechaniker bei der Insolvenzschuldnerin zu einem monatlichen Bruttogehalt von zuletzt rund 3.000,-- Euro auf der Basis des schriftlichen Arbeitsvertrages vom 21.10.1998 sowie der Zusatzvereinbarung vom 08.04.2004 beschäftigt. Wegen der Einzelheiten des schriftlichen Arbeitsvertrages sowie der Zusatzvereinbarung wird auf Blatt 6 bis 9 der Gerichtsakte Bezug genommen.
Bereits im Rahmen des Insolvenzeröffnungsverfahrens bemühte sich der Beklagte um eine Betriebsveräußerung und reduzierte den Personalbestand, indem er insbesondere befristete Arbeitsverträge nicht verlängerte.
Am 28.01.2010 fand in den Räumlichkeiten des Beklagten eine Besprechung mit dem Betriebsratsvorsitzenden S1 und der stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden H1 statt, an den für den Betriebsrat auch Herr R2 von der IG Metall und für den Beklagten Herr Rechtsanwalt Dr. K2 sowie Frau Rechtsanwältin M2-O1 teilnahmen. Außerdem war bei dieser Besprechung ein Vertreter einer interessierten Betriebserwerberin anwesend. Im Rahmen dieses Gesprächs wurde der erforderliche Personalabbau erörtert und dem Betriebsrat eine Personalliste mit sämtlichen Sozialdaten unter Schilderung der Hintergründe für die geplante Betriebsänderung überreicht.
Am 03.02.2010 fand eine weitere Besprechung mit dem Betriebsrat der Insolvenzschuldnerin statt, nachdem zuvor der Beklagte per E-Mail dem Betriebsrat eine Gesamtpersonalliste des Standortes H2 sowie ein Muster zum Interessen- und Sozialplan unter Hinweis auf die Aufnahme der Verhandlung zum Interessenausgleich und Sozialplan übermittelte. Nach weiteren Besprechungen schlossen der Beklagte und der Betriebsrat unter dem 10.02.2010 einen Interessenausgleich sowie einen Sozialplan. In dem Interessenausgleich wird insbesondere unter dem Punkt II darauf hingewiesen, dass wegen des erheblichen Umsatzrückgangs lediglich ein Beschäftigungsbedarf für 460 Arbeitsplätze am Standort H2 bestehe, so dass 48 betriebsbedingte Kündigung erforderlich seien, um die notwendige Kostenreduzierung zu erreichen, die Voraussetzung für die geplante Betriebsveräußerung war. Außerdem vereinbarten der Beklagte und der Betriebsrat unter II.2 des Interessenausgleichs eine Liste mit Namen von zu kündigenden Beschäftigten, die im Interessenausgleich ausdrücklich als "Namensliste im Sinne von § 125 InsO" bezeichnet ist. Unter der laufenden Nr. 24 dieser Namensliste befindet sich auch der Name des Klägers. Darüber hinaus enthält der Interessenausgleich eine Vereinbarung über eine Auswahlrichtlinie, die folgenden Wortlaut hat:
Die Parteien haben nachstehende Auswahlrichtlinie gem. § 1 Abs. 4 KSchG i. V. m. § 95 BetrVG vereinbart, nach der die sozialen Gesichtspunkte bei der Auswahl von Mitarbeitern zu den beabsichtigen Kündigungen zu werten sind:
Lebensalter
Für jedes vollendete Lebensjahr 1 Punkt
Maximal 55 Punkte
Betriebszugehörigkeit
Für jedes vollendete Jahr der Betriebszugehörigkeit 1 Punkt
Für jedes vollendete Jahr der Betriebszugehörigkeit ab dem 11. Beschäftigungsjahr 2 Punkte
Maximal 70 Punkte
Unterhaltspflichten
Verheiratet 8 Punkte
Je Kind 4 Punkte
Schwerbehinderung im Sinne der §§ 85 ff. SGB IX bis zu einem Grad der Behinderung von GdB 50 oder Gleichstellung 5 Punkte
je 1 weiterer Punkt pro 10 GdB mehr
Als Stichtag für die Berechnung wurde der 01.02.2010 zugrunde gelegt.
Im Rahmen des Interessenausgleichs wurden insgesamt 51 Vergleichsgruppen gebildet, wobei der Kläger neben 21 weiteren Arbeitnehmern der Gruppe 10 "Instandhaltung Mechanik/Werkzeugbau" zugeordnet wurde. Wegen der weiteren Einzelheiten dieser Gruppe wird auf Blatt 31 d. A. Bezug genommen.
Bei drei der insgesamt 51 Vergleichsgruppen bildeten die Betriebsparteien Altersgruppen. Die Vergleichsgruppe des Klägers, die Gruppe Nr. 10 "Instandhalter Mechanik/Werkzeugbau" war eine dieser Gruppe. Der Kläger wurde innerhalb dieser Vergleichsgruppe der Altersgruppe 35-44 zugeordnet. Von den dort befindlichen 7 Mitarbeitern wurde nur dem Kläger gekündigt. Unter Zugrundelegung des Punkteschemas wies der Kläger zusammen mit dem Mitarbeiter T2 B1 zwei Sozialpunkte mehr als der Mitarbeiter K3 Y1, der ebenfalls der Vergleichs- und Altersgruppe des Klägers zugeordnet wurde. Wegen der weiteren Einzelheiten der Altersgruppenbildung innerhalb der Vergleichsgruppe 10 wird auf Bl. 81 d. A. Bezug genommen.
Unter III des Interessenausgleichs heißt es, dass dem Betriebsrat die Kündigungsgründe sowie die Sozialdaten der entsprechend der Namensliste zu kündigenden Arbeitnehmer mitgeteilt wurden, der Betriebsrat Gelegenheit zur Beratung über die beabsichtigte Kündigung hatte, das Anhörungsverfahren als abgeschlossen betrachte und den Kündigungen nicht widerspreche.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Interessenausgleichs und des Sozialplans vom 10.02.2010 wird auf Bl. 16 – 30 d. A. Bezug genommen.
Nachdem der Beklagte mit Schreiben vom 11.02.2010 gegenüber der Bundesagentur für Arbeit eine Massenentlassungsanzeige erstattete und unter dem 18.02.2010 einen entsprechenden Bescheid der Bundesagentur für Arbeit erhielt, erklärte er mit Schreiben vom 12.02.2010 (Bl. 5 d. A.) die Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger zum 31.05.2010, gegen die sich der Kläger mit der am 25.02.2011 eingegangenen Kündigungsschutzklage wehrt.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, dass die streitgegenständliche Kündigung wegen grober Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl unwirksam sei. Dies folge bereits daraus, dass der Beklagte nicht dem nach dem Punkteschema sozialstärksten Mitarbeiter gekündigt habe, so dass bereits aufgrund der Abweichung von der Auswahlrichtlinie grobe Fehlerhaftigkeit angenommen werden müsse. Außerdem hat der Kläger die Bildung der Altersgruppen unter Hinweis darauf gerügt, dass nicht erkennbar sei, inwieweit dies zur Schaffung/Erhaltung einer ausgewogenen Personalstruktur erforderlich gewesen sei. Weshalb der Beklagte lediglich bei drei Vergleichsgruppen Altersgruppen gebildet habe, sei ebenso wenig ersichtlich. Außerdem hätten vergleichbare Arbeitnehmer in der Instandhaltung Mechanik/Werkzeugbau keine Kündigung erhalten, obwohl diese keinen Kündigungsschutz genießen würden. Hierbei handele es sich um den ehemaligen Auszubildenden B2, der erst im Januar 2010 einen Arbeitsvertrag erhalten habe. Gleiches gelte für den Arbeitnehmer S3. Auch der Leiharbeitnehmer B3 habe nur im Dezember 2009 einen Arbeitsvertrag erhalten. Schließlich hat der Kläger das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige sowie der Betriebsratsanhörung bestritten.
Unter Klagerücknahme im Übrigen hat der Kläger beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 02.12.2010 nicht beendet wird.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat die Ansicht vertreten, dass die streitgegenständliche Kündigung wirksam sei. Das dringende betriebliche Erfordernis für die betriebsbedingte Kündigung folge daraus, dass der Kläger die Vermutungswirkung des § 125 InsO nicht widerlegt habe. Eine grobe Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl sei ebenfalls nicht erkennbar, da eine solche nur angenommen werden könne, wenn die Abweichung von dem Punkteschema mehr als zehn Sozialpunkte betrage. Dementsprechend sei nicht zu beanstanden, dass man dem Kläger und nicht dem Mitarbeiter Y1 gekündigt habe. Darüberhinaus habe mit dem Betriebsrat Einigkeit darüber bestanden, dass Mitarbeiter mit bis zu 10 Sozialpunkten Unterschied als gleich schutzwürdig anzusehen seien. Der Kläger könne sich zur Rechtfertigung der groben Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl auch nicht auf die Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmer S3 sowie B3 berufen, da die soziale Auswahl insoweit nicht zu beanstanden sei. Da die Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger nach Erstattung einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige und einer ordnungsgemäßen Durchführung der Betriebsratsanhörung, die bereits durch Ziffer III des Interessenausgleichs dokumentiert werde, erklärt worden sei, sei deren Wirksamkeit nicht zu beanstanden.
Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 30.09.2010 die Unwirksamkeit der Kündigung festgestellt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Kündigung vom 12.02.2010 bereits wegen grober Fehlerhaftigkeit der getroffenen sozialen Auswahl anzunehmen sei. Dabei könne offen bleiben, ob der Beklagte überhaupt berechtigt gewesen sei, in der Vergleichsgruppe 10 Altersgruppen zu bilden. Denn die grobe Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl folge jedenfalls daraus, dass der Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger und nicht mit dem Mitarbeiter Y1 gekündigt habe, obwohl dieser nach den Auswahlrichtlinien für die durchzuführende soziale Auswahl zwei Punkte weniger vorzuweisen gehabt habe. Da die Betriebsparteien sich für die Durchführung der sozialen Auswahl ausdrücklich auf eine Auswahlrichtlinie im Sinne des § 1 Abs. 4 KSchG verständigt hätten und diese Auswahlrichtlinie keine Ausnahme zulasse, liege eine Selbstbindung des Beklagten insoweit vor, so dass er sich nicht drauf berufen könne, dass eine Abweichung, die unter 10 Sozialpunkten liege, keine grobe Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl begründen könne. Dies gelte umso mehr, als der Beklagte nicht vorgetragen habe, was ihn zu der Abweichung von der Auswahlrichtlinie veranlasst habe.
Gegen das am 14.10.2010 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat der Beklagte am 14.11.2010 (Montag) Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 14.01.2011 am 14.01.2011 begründet.
Zur Begründung der Berufung trägt der Beklagte vor, dass das Arbeitsgericht zu Unrecht von der groben Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl ausgegangen sei. Denn ihm habe im Rahmen der durchzuführenden sozialen Auswahl ein Beurteilungsspielraum zugestanden, auch wenn die Auswahlrichtlinie insoweit keine Regelung enthielte. Dieser Beurteilungsspielraum sei bei einem Abstand von lediglich zwei Sozialpunkten nicht überschritten, so dass die soziale Auswahl jedenfalls bereits aus diesem Grunde nicht grob fehlerhaft gewesen sei. Darüberhinaus sei die Abweichung von der Auswahlrichtlinie unter Zugrundelegung des Beurteilungsspielraums, die beide Betriebsparteien angenommen hätten, erfolgt, weil der Kläger von diesen Mitarbeitern aufgrund seiner Arbeitsleistung und Arbeitsmoral als am ehesten entbehrlich angenommen worden sei. Dieser Umstand sei durch die entsprechende Fachabteilung an den Personalleiter der Insolvenzschuldnerin und von diesem an ihn herangetragen worden sowie mit dem Betriebsrat im Zusammenhang mit den Beratungen und Vorbereitungen des Interessenausgleichs erörtert worden. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts sei auch die durchgeführte Altersgruppenbildung nicht zu beanstanden.
Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Hagen vom 30.09.2010 – 4 Ca 415/10 – die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Der Kläger verteidigt unter Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens das Urteil des Arbeitsgerichts. Der Beklagte könne sich nicht auf einen Beurteilungsspielraum im Rahmen der durchzuführenden sozialen Auswahl berufen, weil die verbindliche Auswahlrichtlinie im Sinne des § 95 BetrVG nach ihrem eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut die sozialen Auswahlkriterien verbindlich festlege und keine Abweichung zulasse, so dass insoweit von einer Reduzierung auf Null auszugehen sei. Soweit der Beklagte erstmals in der Berufungsbegründung Gründe für eine Abweichung von der Auswahlrichtlinie vorgetragen habe, so könne sein Vorbringen eine abweichende Entscheidung schon deswegen nicht rechtfertigen, weil es viel zu unsubstantiiert sei.
Wegen des Parteivorbringens im Übrigen wird auf den vorgetragenen Inhalt der Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Denn das Arbeitsgericht hat zu Recht entschieden, dass die Kündigung des Beklagten vom 12.02.2010 unwirksam ist.
Entgegen der Ansicht des Beklagten hat das Arbeitsgericht im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die Kündigung vom 12.02.2010 wegen fehlerhafter sozialer Auswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG unwirksam ist. Die Tatsache, dass die Kündigung aufgrund einer Betriebsänderung erfolgt ist, die Gegenstand eines Interessenausgleichs mit Namensliste war mit der Folge, dass die soziale Auswahl gemäß § 125 Abs. 1 Nr. 2 InsO nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden kann, steht dem nicht entgegen. Denn das Arbeitsgericht hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die grobe Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl bereits daraus folgt, dass der Beklagte die Auswahlentscheidung zu Lasten des Klägers getroffen hat, obwohl nach den von ihm selbst zugrunde gelegten Auswahlkriterien der Mitarbeiter Y1 hätte gekündigt werden müssen, weil er zwei Sozialpunkte weniger vorzuweisen hatte. Das Arbeitsgericht hat dabei zu Recht entscheidend darauf abgestellt, dass der Beklagte bei der vorzunehmenden sozialen Auswahl an die verbindliche Auswahlrichtlinie im Sinne des § 95 gebunden gewesen ist, da diese die Auswahlkriterien verbindlich festlege und keine Ausnahme zulasse. Aufgrund des verbindlichen Charakters der Auswahlrichtlinien seien auch die Betriebspartner daran gebunden gewesen, mit der Folge, dass eine Abweichung davon aufgrund mündlicher Absprachen nicht zulässig gewesen sei. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG Bezug genommen.
Die Berufung der Beklagten rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und gibt lediglich Anlass zu folgenden Ergänzungen:
Der Beklagten ist zwar zuzugeben, dass eine grobe Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl im Sinne des § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO nur dann angenommen werden kann, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt und der Interessenausgleich, insbesondere bei der Gewichtung der Auswahlkriterien, jede Ausgewogenheit vermissen lässt. Zuzugeben ist dem Beklagten auch, dass die vom Arbeitgeber - zusammen mit dem Betriebsrat – getroffene soziale Auswahl nur dann grob fehlerhaft ist, wenn sich ihr Ergebnis als grob fehlerhaft erweist, so dass grundsätzlich nicht maßgeblich ist, ob das gewählte Auswahlverfahren beanstandungsfrei war, da ein mangelhaftes Auswahlverfahren auch zu einem richtigen – nicht grob fehlerhaften – Auswahlergebnis führen kann (vgl. BAG, Urteil vom 10.06.2010 – 2 AZR 420/09, NZA 2010, 1352; BAG, Urteil vom 03.04.2008 – 2 AZR 879/06, NZA 2008, 1060). Vorliegend kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass aufgrund eines fehlerhaften Auswahlverfahrens ein nicht ins Auge springender schwerer Fehler bei der sozialen Auswahl vorliegt. Vielmehr folgt die grobe Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl daraus, dass der Beklagte von einer verbindlichen Auswahlrichtlinie im Sinne des § 95 BetrVG, die die Auswahlkriterien und deren Gewichtung abschließend festlegt, bewusst abgewichen, also eine bestehende Rechtsnorm bewusst nicht eingehalten hat. Die Tatsache, dass der Betriebsrat der der Auswahlrichtlinie widersprechenden Namensliste nach dem Vorbringen des Beklagten in Kenntnis der Abweichung, also bewusst zugestimmt hat, rechtfertigt schon deswegen keine abweichende Beurteilung, weil der Arbeitgeber und der Betriebsrat nach § 75 Abs. 1 BetrVG darüber zu wachen haben, dass alle im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt werden und der Betriebsrat nach § 80 Abs. 1 unter anderem auch darüber zu wachen hat, dass die zu Gunsten der Arbeitnehmer geltenden Betriebsvereinbarungen durchgeführt werden. Demensprechend wird der bewusste Verstoß gegen die Auswahlrichtlinien nicht dadurch geheilt, dass der Betriebsrat entgegen den §§ 75, 80 Abs. 1 BetrVG der Verstoß nicht rügt, sondern sich damit einverstanden erklärt.
In Ziffer II.4 des Interessenausgleichs vom 10.02.2010 heißt es ausdrücklich, dass die "Parteien nachstehende Auswahlrichtlinie gemäß § 1 Abs. 4 KSchG i.V.m. § 95 BetrVG vereinbart haben, nach der die sozialen Gesichtspunkte bei der Auswahl von Mitarbeitern zu unbeabsichtigten Kündigung zu werten sind. Als Stichtag für die Bewertung der Auswahlkriterien wurde der 01.02.2010 festgelegt, wobei Ausnahmen aufgrund besonderer Umstände in der Auswahlrichtlinie nicht vorgesehen sind. Die Ziffer II.4 des Interessenausgleichs enthält somit eine abschließende Regelung hinsichtlich der sozialen Auswahlkriterien und deren Gewichtung im Rahmen der durchzuführenden sozialen Auswahl und lässt nach ihrem eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut entgegen der Ansicht des Beklagten keinen Beurteilungsspielraum im Rahmen einer individuellen Abschlussprüfung vor.
Ob und unter welchen Voraussetzungen die in einem Interessenausgleich vereinbarten Auswahlkriterien als Auswahlrichtlinien im Sinne des § 1 Abs. 4 KSchG bzw. § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO zu qualifizieren sind, kann offen bleiben.
Da dies nach der Rechtssprechung des Bundesarbeitsgerichts, der die Kammer folgt, jedenfalls dann der Fall ist, wenn der Interessenausgleich – wie vorliegend – ausdrücklich regelt, dass es sich dabei um vereinbarte Auswahlrichtlinien im Sinne des § 95 BetrVG handelt. Die Tatsache, dass die Kriterien nicht generell, sondern in Bezug auf ganz konkret bevorstehende betriebsbedingte Kündigungen angewendet werden sollen, steht der Annahme einer Richtlinie im Sinne des § 95 Abs. 1 BetrVG nicht entgegen (vgl. BAG, Urteil vom 09.11.2006 – 2 AZR 815/05 - , BB 2007, 1393; BAG , Beschluss vom 26.07.2005 – 1 ABR 29/04, BB 2005, 2819). Die in dem Interessenausgleich vom 10.02.2010 vereinbarten Auswahlrichtlinien, bei denen es sich nach dem Willen der Betriebsparteien um Auswahlrichtlinien im Sinne der §§ 1 Abs. 4 KSchG i.V.m. § 95 BetrVG handelt, haben somit den Charakter einer Betriebsvereinbarung, die nach § 77 Abs. 4 BetrVG unmittelbar und zwingende Rechtsnorm enthält. Dies gilt auch insoweit, als darin keine einzelfallbezogene Abschlussprüfung mehr vorgesehen ist, weil in Auswahlrichtlinien im Sinne des § 95 Abs. 1 BetrVG wirksam geregelt werden kann, dass nur die in § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG vorgesehenen Kriterien im Rahmen der sozialen Auswahl zu berücksichtigen sind (vgl. BAG, Urteil vom 09.11.2006 – 2 AZR 812/05). Die bewusste Nichtbeachtung einer verbindlichen Auswahlrichtlinie im Sinne des § 95 BetrVG und damit einer im Betrieb geltenden Rechtsnorm im Rahmen der durchzuführenden sozialen Auswahl durch den Arbeitgeber begründet nach Ansicht der Kammer grobe Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl im Sinne des § 125 Abs. 1 S.1 Nr. 2 InsO, ohne dass es dabei auf die Abweichung bei der Punktzahl ankommt. Da es sich dabei um einen vorsätzlichen Rechtsverstoß handelt, kann er auch nicht durch eine Zustimmung des Betriebsrats zu der Namensliste geheilt werden, da auch dieser an die vereinbarten und geltenden Auswahlrichtlinien, die Rechtsnormcharakter haben, gebunden ist.
Den Betriebsparteien steht für die "ausreichende" Berücksichtigung der Kriterien, wenn sie eine Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVG aufstellen, ein großer Spielraum zu. Eine von ihnen festgelegte relative Gewichtung der sozialen Gesichtspunkte des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG untereinander kann nach § 1 Abs. 4 KSchG nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Eine von ihnen geregelte Punktetabelle ist nur dann nicht anzuwenden, wenn eines der gesetzlichen Auswahlkriterien gar nicht oder so gering bewertet wird, dass es als relevantes Auswahlkriterium nicht ins Gewicht fällt und allenfalls in Ausnahmefällen eine Rolle spielt. Der großer Spielraum gilt der Betriebsparteien gilt dabei nicht nur für die sozialen Indikatoren und deren Gewichtung selbst, sondern auch für die Bildung der auswahlrelevanten Gruppen (vgl. BAG, Urteil vom 05.11.2009 – 2 AZR 676/08, NZA 2010, 457). Die Betriebsparteien hätten somit auch Auswahlrichtlinien vereinbaren können, die lediglich einer Vorauswahl anhand des Punkteschemas dienen sollte und der Möglichkeit einer abschließenden Endauswahl mit der Möglichkeit der Abweichung von dem Ergebnis der Vorauswahl unter Berücksichtigung der Einzelfallbesonderheiten. Davon haben sie jedoch vorliegend keinen Gebrauch gemacht. Vielmehr haben sie in dem Interessenausgleich bei rund 500 Arbeitnehmern insgesamt 51 Vergleichsgruppen und dabei nur bei drei Vergleichsgruppen Altersgruppen gebildet, sodass sie von dem ihnen zustehenden großen Beurteilungsspielraum in dem Interessenausgleich und in den Auswahlrichtlinien Gebrauch gemacht haben mit der Folge, dass die Angreifbarkeit der Kündigung unter dem Gesichtspunkt der fehlerhaften sozialen Auswahl erheblich eingeschränkt wurde. Ob die Bildung der Altersgruppen nur bei einzelnen Vergleichsgruppen, insbesondere bei der Vergleichsgruppe des Klägers entsprechend der Ansicht des Klägers nicht mehr von dem Beurteilungsspielraum der Betriebsparteien gedeckt war, kann dahinstehen. Denn selbst wenn dies zugunsten des Beklagten unterstellt wird, dann muss er jedenfalls im Rahmen der durchzuführenden sozialen Auswahl, die bereits durch die Bildung der vielen Vergleichsgruppen und Altersgruppe nur bei einzelnen Vergleichsgruppen sowie die Festlegung der Gewichtung der einzelnen Auswahlkriterien im erheblichen Umfang erleichtert worden ist, wenigstens die wenigen bestehenden Vorgaben beachten und darf nicht bewusst davon abweichen. Anderenfalls wären die Arbeitnehmer, deren Rechtsschutzmöglichkeiten bei einer Kündigung aufgrund einer in einem Interessenausgleich vereinbarten Betriebsänderung mit einer Namensliste ohnehin erheblich eingeschränkt sind, nahezu rechtsschutzlos.
Aus dem folgt, dass bereits aufgrund der bewussten Abweichung des Beklagten von den verbindlichen Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG grobe Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl anzunehmen war (vgl. dazu auch: LAG Hamm, Urteil vom 06.04.2011 – 6 Sa 2023/10).
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ArbGG.
Die Revision war nach Ansicht der Kammer wegen grundsätzlicher Bedeutung und der entscheidungserheblichen Rechtsfrage nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG zuzulassen.
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