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ArbG Hagen, Urteil vom 10.08.2010, 1 Ca 337/10
Schlagworte: | Kündigung, Namensliste | |
Gericht: | Arbeitsgericht Hagen | |
Aktenzeichen: | 1 Ca 337/10 | |
Typ: | Urteil | |
Entscheidungsdatum: | 10.08.2010 | |
Leitsätze: | ||
Vorinstanzen: | ||
Tatbestand:
Die Parteien streiten um den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses nach Ausspruch einer Kündigung des Beklagten zu 1) und um die Pflicht der Beklagten zu 2) zur Weiterbeschäftigung des Klägers.
Der am 29.12.1978 geborene, verheiratete und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 01.09.2001 bei der Insolvenzschuldnerin (T5 P2 GmbH & Co. KG) in H1 beschäftigt. Er übt seine Tätigkeit bei der Insolvenzschuldnerin ausweislich eines Zwischenzeugnisses (Bl. 126 d.A.) vom 15.02.2010 als Elektriker im Bereich der Instandhaltung der Einhängebahn (EHB) aus und erzielt dort ein Bruttomonatseinkommen von zuletzt durchschnittlich 4.640,00 Euro.
Die Insolvenzschuldnerin ist ein Unternehmen der Automobilzulieferindustrie, in deren Werk in H1 ursprünglich 604 Arbeitnehmer beschäftigt waren. Ein Betriebsrat ist gewählt.
Durch Beschluss vom 02.12.2009 zum Aktenzeichen 100 IN 172/09 AG Hagen wurde über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zu 1) zum Insolvenzverwalter bestellt. Mit Datum vom 10.02.2010 schlossen der Beklagte und der Betriebsrat sowohl einen Interessenausgleich als auch einen Sozialplan ab. Hintergrund dieser Vereinbarungen war ausweislich der Ziffer II.1 des Interessenausgleichs, dass der Beklagte zu 1) sich bereits im Rahmen des dem Insolvenzverfahren vorgeschalteten Insolvenzeröffnungsverfahrens bemüht hatte, einen Betriebserwerber zu finden. Ein solcher Erwerber – so der Interessenausgleich – sei allerdings nur bereit, das Werk in H1 zu übernehmen, wenn eine Kostensenkung u. a. in Form einer Personalreduzierung durchgeführt werde. So waren zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung noch 509 Arbeitnehmer bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt; Gegenstand des Interessenausgleichs ist die beabsichtigte Entlassung von 48 Mitarbeitern.
Unter II.2. des Interessenausgleichs vereinbarten der Beklagte zu 1) und der Betriebsrat eine Liste mit Namen von Beschäftigten, die im Interessenausgleich ausdrücklich als "Namensliste im Sinne von § 125 InsO" bezeichnet ist. Unter der laufenden Nummer 23 dieser Namensliste befindet sich der Name des Klägers.
Darüber hinaus enthält der Interessenausgleich eine Vereinbarung über eine Auswahlrichtlinie folgenden Inhalts:
Die Parteien haben nachstehende Auswahlrichtlinie gem. § 1 Abs. 4 KSchG i. V. m. § 95 BetrVG vereinbart, nach der die sozialen Gesichtspunkte bei der Auswahl von Mitarbeitern zu den beabsichtigen Kündigungen zu werten sind:
Lebensalter
Für jedes vollendete Lebensjahr 1 Punkt
Maximal 55 Punkte
Betriebszugehörigkeit
Für jedes vollendete Jahr der Betriebszugehörigkeit 1 Punkt
Für jedes vollendete Jahr der Betriebszugehörigkeit ab
dem 11. Beschäftigungsjahr 2 Punkte
Maximal 70 Punkte
Unterhaltspflichten
Verheiratet 8 Punkte
Je Kind 4 Punkte
Schwerbehinderung im Sinne der §§ 85 ff. SGB IX bis zu einem Grad der Behinderung von GdB 50 oder Gleichstellung 5 Punkte
je 1 weiterer Punkt pro 10 GdB mehr
Als Stichtag für die Berechnung wurde der 01.02.2010 zugrunde gelegt.
Schließlich finden sich Regelungen über eine vorzunehmende Massenentlassungsanzeige. Wegen der Einzelheiten des Interessenausgleichs wird auf die zur Akte gereichte Fotokopie Blatt 40 bis 50 d. A. Bezug genommen.
Entsprechend dem vereinbarten Interessenausgleich ordnete der Beklagte zu 1) den Kläger der Vergleichsgruppe Nr. 49 "Maschinenführer KTL" zu. In dieser Vergleichsgruppe finden sich neben dem Kläger die Mitarbeiter V2, G2, S5, S6 und P5. Nach der im Interessenausgleich vereinbarten Auswahlrichtlinie erzielen der Mitarbeiter V2 51 Punkte, der Mitarbeiter G2 40 Punkte und der Mitarbeiter S5 49 Punkte und der Kläger schließlich
55 Punkte. Wegen der Aufstellung der Sozialdaten der in die Vergleichsgruppe Nr. 49 aufgenommenen Mitarbeiter wird auf die Kopie Blatt 55 d. A. verwiesen.
Innerhalb dieser Vergleichsgruppe sprach der Beklagte zu 1) drei Kündigungen aus, namentlich gegenüber den Mitarbeitern G2, S5 und gegenüber dem Kläger. Das Kündigungsschreiben datiert vom 12.02.2010 und nennt als Beendigungsdatum den 31.05.2010. Auf die Kopie Blatt 15 d. A. wird Bezug genommen.
Entsprechend den Formulierungen und Absichten im Interessenausgleich ist mittlerweile durch den Beklagten ein Betriebserwerber für die Insolvenzschuldnerin gefunden worden, nämlich die Beklagte zu 2); ein Betriebsübergang hat – zwischen den Parteien unstreitig – insoweit am 01.03.2010 stattgefunden. Wegen der Unterrichtung des Klägers über den Betriebsübergang auf die Beklagte zu 2) wird auf das Schreiben des Beklagten zu 1) vom 03.03.2010 (Bl. 123 d.A.) Bezug genommen.
Der Kläger wehrt sich mit der vorliegenden, bei Gericht vorab per Fax am 17.02.2010 eingegangenen Klage gegen die Kündigung des Arbeitsverhältnisses vom 12.02.2010 und verlangt mit Klageerweiterung vom 19.05.2010 die Weiterbeschäftigung von der Beklagten zu 2). Einen ursprünglich angekündigten sog. allgemeinen Feststellungsantrag verfolgt der Kläger nach Erklärung der Parteien, dass es eine weitere Kündigung bislang nicht gegeben habe, nicht weiter.
Er trägt vor:
Wenn es auch einen Interessenausgleich mit Namenliste gebe, in welchem der Kläger genannt sei, so sei in die streitgegenständliche Kündigung schon wegen grober Fehlerhaftigkeit der getroffenen Sozialauswahl rechtsunwirksam.
Der Beklagte zu 1) habe den Kläger fälschlicherweise der Vergleichsgruppe "Maschinenführer KTL" zugeordnet. Ausweislich seiner Tätigkeit hätte er der Gruppe 8 "Instandhalter EHB" oder der Gruppe 9 "Instandhalter Elektrik" zugeordnet werden müssen. Wegen des Vortrages des Klägers hierzu wird insbesondere auf den Schriftsatz vom 19.05.2010, S. 3 ff (Bl. 113 ff d.A.) Bezug genommen.
Der Beklagte zu 1) dokumentiere aufgrund der im Interessenausgleich vereinbarten Auswahlrichtlinie zum Punkteschema selbst, dass der Kläger nicht hätte gekündigt werden dürfen, da er zusammen mit den Mitarbeitern S6 und P5 zu den Arbeitnehmern der angegeben Vergleichsgruppe gehöre, die die höchsten Punktzahlen aufweisen würden, gleichwohl aber entlassen worden seien. Der Kläger verstehe nicht, warum die Betriebspartner ein Punkteschema geschaffen und zur Grundlage der Sozialauswahl gemacht hätten, wenn sodann die Kündigung die schutzwürdigsten Mitarbeiter träfe.
Darüber hinaus sei die Kündigung wegen Verstoßes gegen das Kündigungsverbot bei Betriebsübergang rechtsunwirksam. Allein der Umstand, dass ein möglicher Interessent, die jetzige Beklagte zu 2), für einen Betriebserwerber eine bestimmte Anzahl von Kündigungen vom Veräußerer verlangt habe, zeige das.
Im Übrigen sei die Kündigung auch deswegen unwirksam, weil der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört worden sei.
Da die Beklagte zu 2) streitlos Betriebserwerberin sei, müsse sie den Kläger zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiter beschäftigen.
Der Kläger beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung des Beklagten zu 1) vom 12.02.2010 , zugegangen am 13.02.2010, zum 31.05.2010 beendet wird,
die Beklagte zu 2) zu verurteilen, den Kläger zu den bisherigen Bedingungen als Mitarbeiter/Elektriker weiter zu beschäftigen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte zu 1) beruft sich darauf, dass auf der Grundlage des rechtswirksam abgeschlossenen Interessenausgleichs mit integrierter Namensliste die Betriebsbedingtheit der Kündigung vermutet werde und darüber hinaus die soziale Auswahl der von Kündigung betroffenen Arbeitnehmer nur auf grobe Fehlerhaftigkeit zu überprüfen sei.
Aufgrund der unstreitigen Beschäftigtenzahlen und der beabsichtigten Entlassungen liege eine Betriebsänderung vor, von der der Kläger auch kausal betroffen worden sei. Da der Kläger sich zudem auf der Namenliste im Interessenausgleich befinde und darüber hinaus der Betriebsrat abschließend ordnungsgemäß angehört worden sei, sei die Kündigung sozial gerechtfertigt.
Insbesondere sei eine grobe Fehlerhaftigkeit der getroffenen Sozialauswahl nicht festzustellen. Der Kläger sei zutreffend in die Vergleichsgruppe Nr. 49 der sog. "Maschinenführer KTL" eingeordnet worden. Denn die "KTL", d.h. die kathodische Tauchlackierungsanlage und die Einhängebahn würden eine Einheit bilden und die Mitarbeiter sich z.B. auch gegenseitig vertreten.
Die Gruppe 8 "Instandhalter EHB" sei unzutreffend, da dort Schlosser oder Mechaniker betroffen seien.
In die Gruppe 9 "Instandhalter" Elektrik könne der Kläger nicht eingeordnet werden, da ihm die Kenntnisse z.B. im Bereich der Steuerungstechnik fehlten.
Jedenfalls sei die Sozialauswahl unter keinen Gesichtspunkt grob fehlerhaft. Hierzu beruft sich der Beklagte zu 1) darauf, dass letztendlich nach der Rechtsprechung insbesondere des Landesarbeitsgerichts Hamm eine Differenzierung von bis zu 10 Punkten bei der Vergabe von Sozialpunkten eine grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl nicht begründen könne. Zwischen den Betriebspartnern habe Einigkeit bestanden, dass noch bei einer Differenz von 10 Punkten gleiche Schutzwürdigkeit anzunehmen sei.
Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß angehört worden; insbesondere habe er der Kündigung zugestimmt. Wegen des Vortrages hierzu wird auf die Angaben in der Klageerwiderung vom 15.04.2010, Blatt 78 ff. d. A. im Einzelnen Bezug genommen.
Die Beklagte zu 2) schließt sich dem Vorbringen des Beklagten zu 1) an und meint, ein Weiterbeschäftigungsanspruch ihr gegenüber scheitere bereits daran, dass das Arbeitsverhältnis aufgrund wirksamer Kündigung beendet sei.
Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten im Vorbringen der Parteien ergänzend auf die zur Akte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Terminsprotokolle Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
I.
Die auch mit dem Feststellungsantrag zulässige Klage ist begründet, da die Kündigung vom 12.02.2010 das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht mit Wirkung zum 31.05.2010 aufgelöst hat und die Beklagte zu 2) als Betriebserwerberin gem. § 613a Abs.1 BGB zur Weiterbeschäftigung des Klägers verpflichtet ist.
A.
Vorauszuschicken ist, dass die Kündigung vom 12.02.2010 nicht etwa deshalb rechtswirksam gemäß §§ 4, 7 KSchG geworden wäre, weil der Kläger die gemäß § 4 KSchG einzuhaltende Klagefrist versäumt hätte. Denn die unter dem 17.02.2010 eingegangene Kündigungsschutzklage wahrt zweifelsohne die Klagefrist ausgehend vom Zugang der Kündigung am 13.02.2010.
B.
Die Feststellungsklage ist begründet, da die streitgegenständliche Kündigung des Beklagten zu 1) vom 12.02.2010 rechtsunwirksam gemäß § 1 abs. 3 Satz 1 KSchG ist, da der Beklagte zu 1) bei Ausspruch der Kündigung soziale Auswahlgesichtspunkte im Hinblick auf die Person des Klägers nicht ausreichend berücksichtigt hat.
1.
Vorauszuschicken ist hierbei, dass die Vorschriften des ersten Abschnittes des Kündigungsschutzgesetzes anwendbar sind, da der Kläger zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruches länger als sechs Monate bei dem Beklagten beschäftigt war (§ 1 Abs. 1 KSchG) und im Betrieb der Beklagten regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsausausbildung Beschäftigten tätig sind (§ 23 Abs. 1 KSchG).
2.
Der für die erkennende Kammer anzuwendenden Prüfungsmaßstab im Hinblick auf die soziale Auswahl des § 1 Abs. 3 KSchG war nicht zugunsten des Beklagten zu 1) gemäß § 125 Abs. 1 Ziffer 2 InsO auf die dort bezeichnete grobe Fehlerhaftigkeit beschränkt.
a.
Zwar hat sich der Beklagte zu 1) auf den von ihm vorgelegten Interessenausgleich mit Namenliste berufen und die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Abschluss eines solchen Interessenausgleichs mit Namenliste im Einzelnen dargelegt, wie es § 125 Abs. 1 InsO verlangt. Indessen kann er sich gegenüber dem Kläger nicht auf die eingeschränkte Überprüfungswirkung des Interessenausgleichs mit Namenliste berufen, da der Kläger zum Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs aus Rechtsgründen nicht in die Namensliste hätten aufgenommen werden dürfen.
In die Namensliste des § 125 Abs. 1 InsO sind die Arbeitnehmer aufzunehmen, die nach Wertung der Betriebsparteien im Rahmen der Verhandlungen über den Interessenausgleich mit Namensliste als vergleichbar für eine Sozialauswahl in Betracht kommen, unter denen eine soziale Rangfolge festgestellt worden ist und welche der Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl ausscheiden. Maßgeblich ist zudem die Kausalität der Betriebsänderung für den Wegfall des Beschäftigungsbedarfs des in die Namenliste aufzunehmenden Arbeitnehmers (vgl. die Ausführungen im Urteil des BAG vom 26.03.2009, 2 AZR 296/07 unter Hinweis auf das Urteil vom 22.01.2004, 2 AZR 101/02 und vom 06.12.2001, 2 AZR 422/00).
b.
Ausgehend hiervon gilt:
Zum Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs mit Namensliste hätte der Kläger nicht in diese Namenliste aufgenommen werden dürfen, da er ausweislich der im Interessenausgleich vereinbarten Auswahlrichtlinie insgesamt mit 55 Sozialpunkten zu versehen gewesen wäre, wohingegen der nicht von Kündigung betroffenen Arbeitnehmer V10 mit 51 Punkten hätte bewertet werden müssen.
Im Interessenausgleich vom 10.02.2010 haben die Betriebsparteien ausdrücklich ein Punkteschema für die Bewertung der sozialen Gesichtspunkte vereinbart. Auf Seite 5 des Interessenausgleichs dort unter Ziffer 4 haben die Betriebspartner nämlich festgelegt, dass es sich bei der Punktevergabe um eine Auswahlrichtlinie im Sinne des § 95 BetrVG handelte, nach der die sozialen Gesichtspunkte bei der Auswahl von Mitarbeitern zur beabsichtigten Kündigung zu werten sind. Allein die Formulierung "zu werten sind" legt fest, dass es sich hierbei um eine zwingende Vergabe sog. Sozialpunkte handelt.
Einen abschließenden Entscheidungsspielraum für den Beklagten zu 1) haben die Betriebspartner im Interessenausgleich ausdrücklich nicht eröffnet. Soweit er vorgetragen hat, man sei bis zu einer Punktedifferenz von 10 noch von gleicher Schutzwürdigkeit ausgegangen, kommt es hierauf nicht an, da diese Gedanken ersichtlich keinen Niederschlag in der Formulierung der Auswahlrichtlinie gefunden haben.
Als Zwischenergebnis ist damit festzuhalten, dass die soziale Auswahl der zur Entlassung anstehenden Mitarbeiter zwingend unter Berücksichtigung der im Interessenausgleich vereinbarten Auswahlrichtlinie vorzunehmen war. Dies bedeutet zugleich, dass der Beklagte zu 1) in seiner Funktion als Arbeitgeber verpflichtet gewesen ist, sich an die Auswahlrichtlinie zu halten, andernfalls der Prüfungsmaßstab nicht mehr der der sog. groben Fehlerhaftigkeit sein kann, sondern der allgemeine Überprüfungsmaßstab der ausreichenden Berücksichtigung sozialer Auswahlgesichtspunkte nach § 1 Abs. 3 Ziffer 1 maßgeblich ist (Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, § 1 KSchG Rdnr. 781 m. z. N.).
Ausgehend hiervon erschließt sich nicht, inwiefern die von den Betriebsparteien sich im Interessenausgleich selbst auferlegte Verpflichtung, die Sozialauswahl anhand der Auswahlrichtlinie durchzuführen, beachtet worden ist.
Nach Auffassung der erkennenden Kammer ist dieser Sachverhalt nicht anders zu bewerten, als die Feststellung des Bundesarbeitsgerichts, der die Kammer folgt, seit der Entscheidung vom 26.03.2009 – 2 AZR 296/07 -, wonach es einer kausalen Verknüpfung zwischen der Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG und der Aufnahme in einer Namensliste bedarf. Eine gleiche kausale Verknüpfung ist im Hinblick auf die Aufnahme in eine Namensliste geboten, wenn die Betriebspartner eine zwingende Regelung über die Sozialauswahl getroffen haben, die sie selbst zur Grundlage einer Namensliste gemacht haben. Aufgrund einer solchen zwingenden Auswahlrichtlinie im Sinne des § 1 Abs. 4 KSchG können nur solche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in eine Namensliste aufgenommen werden, bei denen sich eben diese Aufnahme in die Liste aufgrund der verbindlichen Auswahlrichtlinie und der damit zu vergebenden Sozialpunkte ergibt.
Dieser Bewertung stehen die Ausführungen der Entscheidung des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts in der Entscheidung vom 17.01.2008 - 2 AZR 405/06 - nicht entgegen. Dort hatte das BAG zwar erkannt, dass eine Sozialauswahl dann nicht grob fehlerhaft ist, wenn der Punkteabstand angesichts der der Sozialauswahl zugrunde liegenden Daten marginal erscheint (dort: 56 zu 54,75 Punkte) und das von den Betriebspartnern gewählte Punkteschema nicht zu beanstanden ist. Allerdings lag der Sachverhalt des vom BAG entschiedenen Falles anders: die dortige Klägerin war nach den übereinstimmenden Feststellungen der Betriebspartner auf der Grundlage der Sozialdaten laut Steuerkarte völlig zutreffend auf der Namensliste aufgeführt, nur das eben diese festgestellten Sozialdaten nicht zutreffend waren.
Das bedeutet i.E. nichts anderes, als dass die dortigen Betriebsparteien die von ihnen verbindlich abgeschlossene Betriebsvereinbarung zur Auswahlrichtlinie beachtet und damit die gesetzliche Pflicht zur Durchführung gem. § 77 Abs. 1 BetrVG beachtet haben, anders als der Beklagte zu 1) und der Betriebsrat, die trotz der Durchführungspflicht den Kläger auf die Namensliste gesetzt haben, ohne dass er nach dem Inhalt der Auswahlrichtlinie vom 10.02.2010 dort hingehört hätte.
Soweit sich der Beklagte zu 1) darauf berufen hat, dass eine Abweichung von bis zu 10 Sozialpunkten eine grobe Fehlerhaftigkeit nicht tragen kann und sich hierzu auf die Rechtsprechung insbesondere des LAG Hamm bezogen hat, teilt die erkennende Kammer diese Auffassung des Beklagten zu 1) nicht. In der Entscheidung der 4. Kammer des LAG Hamm vom 16.03.2000 – 4 Sa 905/99 – kam das LAG Hamm zu dem Ergebnis, dass eine Sozialauswahl des dortigen Klägers als grob fehlerhaft zu bewerten war, weil dieser mehr als 10 Sozialpunkte mehr hatte als ein nicht von Kündigung betroffener Arbeitnehmer. Bereits hieraus wird deutlich, dass das Landesarbeitsgericht Hamm in der zitierten Entscheidung keine Veranlassung hatte, eine Entscheidung zu der Frage zu treffen, ob der dortige Kläger überhaupt auf eine Namensliste hätte aufgenommen werden dürfen. Dementsprechend kann aus der zitierten Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hamm auch nicht der abstrakte Rechtssatz hergeleitet werden, dass in allen Fällen eine Abweichung von bis zu 10 Sozialpunkten eine grobe Fehlerhaftigkeit im Sinne des § 125 Abs. 1 Ziffer 2 InsO nicht begründen kann. Dies mag so sein, wenn beispielsweise in einer Auswahlrichtlinie dem Arbeitgeber ein Beurteilungsspielraum eingeräumt wird und im Rahmen der Nutzung eines solchen Beurteilungsspielraumes es dazu kommt, dass Mitarbeiter mit höheren Punktbewertungen in eine Namensliste aufgenommen werden und Mitarbeiter mit niedrigeren Punktbewertungen nicht.
Vorliegend ist allerdings –wie bereits dargelegt und ausgeführt – zu bedenken, dass die im Interessenausgleich aufgeführten Namen der Mitarbeiter sich nach dem Wortlaut des Interessenausgleichs ausschließlich auf der Grundlage der vorzunehmenden Punktbewertung hätten ergeben dürfen, was im Hinblick auf die Person des Klägers indessen nicht der Fall war.
c.
Schließlich führt auch die vom Beklagten zu 1) behauptete Zustimmung des Betriebsrates zur Kündigung des Klägers zu keiner anderen Bewertung. Denn im Rahmen des Mitbestimmungsverfahrens nach § 102 Abs. 1 BetrVG geht es nicht – wie beim Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste – um eine vertragliche Vereinbarung zwischen den Betriebspartnern, sondern um das abgeschwächte Mitbestimmungsrecht der Anhörung bei Kündigungen. Insofern ist kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass die Betriebspartner im Zusammenhang mit dem vorgetragenen Anhörungsverfahren bei Kündigungen eine abweichende Regelung von Ziffer II.4. des Interessenausgleichs vom 10.02.2010 vereinbart hätten.
Nach alledem kommt dem Beklagten zu 1) im Rahmen der Sozialauswahl der eingeschränkte Überprüfungsmaßstab der "groben Fehlerhaftigkeit" nicht zugute.
3.
Gemäß § 1 Abs. 3 KSchG erweist sich sodann die streitgegenständliche Kündigung vom 12.02.2010 als sozial ungerechtfertigt und rechtsunwirksam, da soziale Auswahlgesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt sind.
a.
Dabei kann im Wesentlichen auf die obigen Ausführungen zur zwingenden Anwendung der Auswahlrichtlinie im Interessenausgleich vom 10.02.2010 verwiesen werden. Denn für den Fall, dass eine Auswahlrichtlinie mit einem Punkteschema vereinbart worden ist – wie vorliegend – gilt, dass bei der Sozialauswahl die dort enthaltenen sozialen Auswahlgesichtspunkte beachtet werden müssen, da es sich bei der Auswahlrichtlinie im Sinne des § 95 BetrVG um eine zwingend anzuwendende Betriebsvereinbarung handelt (vgl. auch die obigen Ausführungen zur Durchführungspflicht von Betriebsvereinbarungen gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 BetrVG).
Dabei hat die erkennende Kammer nicht übersehen, dass der nicht von Kündigung betroffenen Arbeitnehmer V10 51 Punkte aufweist, der Kläger hingegen 55 Punkte, also nur eine Besserstellung von 4 Punkten. Damit würde sich nach Auffassung des Beklagten zu 1) auch wieder die Frage stellen, ob bei einer Abweichung von 4 Punkten überhaupt noch von einer nicht ausreichenden Berücksichtigung sozialer Auswahlgesichtspunkte ausgegangen werden kann. Dieses Argument vermag allerdings aus den bereits oben genannten Gründen nicht zu tragen, da die im Interessenausgleich vereinbarte Auswahlrichtlinie abschließend und zwingend ist und dem Beklagten zu 1) einen irgendwie gearteten Auswahlspielraum nicht überträgt. Mangels eines solchen letzt Beurteilungsspielraumes kann damit eine ausreichende Berücksichtigung sozialer Auswahlgesichtspunkte überhaupt nur vorgenommen werden, wenn die Auswahlrichtlinie gemäß II.4. des Interessenausgleichs vom 10.02.2010 "1 zu 1" umgesetzt wird.
Bereits aus diesem Grunde ist gegenüber dem Kläger von einer nicht ausreichenden Berücksichtigung sozialer Auswahlgesichtspunkte auszugehen.
b.
Schließlich ist dieser Fehler bei der Sozialauswahl im Sinne des § 1 Abs. 3 KSchG in der Person des Klägers auch ergebnisrelevant. Dabei geht die erkennende Kammer mit der Rechtsprechung des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts seit der Entscheidung vom 09.11.2006, 2 AZR 812/05, davon aus, dass unter Umständen ein Fehler im Rahmen der Sozialauswahl sich jedenfalls dann nicht auf die Kündigung des betroffenen Arbeitnehmers auswirkt, wenn dieser auch bei fehlerfreier Sozialauswahl von Kündigung betroffen wäre ("Wegfall der Dominotheorie"). Diese in der vorbezeichneten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts gestellte Frage ist – wie vorliegend – zu prüfen und zu beantworten, da es um eine Sozialauswahl geht, die im Rahmen des Vollzuges eines Punktesystems durchgeführt worden ist. Hiernach ergibt sich auf der Grundlage der vom Beklagten zu 1) als zutreffend erachteten Vergleichsgruppe, dass der Kläger von Kündigung nicht betroffen worden wäre, hätte der Beklagte zu 1) die Punktevergabe, die auf der Grundlage der Auswahlrichtlinie zwingend war, beachtet. Denn im Abgleich zwischen der Namensliste im Interessenausgleich und der vorgelegten Vergleichsliste ergibt sich, dass von insgesamt sechs Beschäftigten drei Mitarbeiter von Kündigung betroffen waren. So aber gab es exakt einen Mitarbeiter in der Vergleichsgruppe, der aufgrund der Punktevergabe als weniger sozialschutzwürdig gelten mussten als der Kläger mit der Folge, dass ihn die Kündigung bei korrekter Anwendung der Auswahlrichtlinie vom 10.02.2010 nicht getroffen hätte.
Nach alledem erweist sich die streitgegenständliche Kündigung gemäß § 1 Abs. 3 KSchG als sozial ungerechtfertigt, da der Beklagte zu 1) soziale Auswahlgesichtspunkte in der Person des Klägers nicht ausreichend berücksichtigt hat.
Aus diesem Grunde hatte die Feststellungsklage Erfolg, ohne dass es auf die weiteren vom Kläger aufgeworfenen Aspekte zur fehlenden sozialen Rechtfertigung der Kündigung angekommen wäre.
C.
Die Klage ist auch mit dem Weiterbeschäftigungsantrag begründet. Da die Beklagte zu 2) den Betrieb des Beklagten zu 1) mit Wirkung zum 01.03.2010 übernommen hat, besteht das Arbeitsverhältnis des Klägers mit ihr mangels wirksamer Kündigung gem. § 613a Abs. 1 BGB mit allen Rechten und Pflichten fort. Das bildet die Grundlage für den Weiterbeschäftigungsanspruch aus § 611 BGB (BAG GS AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht).
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 2 ArbGG i. V. m. §§ 91, 92 ZPO. Danach haben die Beklagten die Kosten des Rechtsstreits als unterlegene Parteien im Verhältnis des Unterliegens zu tragen.
Der Streitwert war gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzen. Seine Höhe folgt aus § 42 Abs. 3 GKG und beträgt drei Bruttomonatsentgelte für den Feststellungsantrag; für den Weiterbeschäftigungsantrag sind zwei Bruttogehälter berücksichtigt. Der ursprünglich angekündigte sog. allgemeine Feststellungsantrag bleibt ohne eigenen Wert.
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