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LAG Ber­lin-Bran­den­burg, Ur­teil vom 30.03.2012, 10 Sa 2272/11

   
Schlagworte: Kündigung: Verdachtskündigung, Arbeitszeitbetrug, Kündigung: Arbeitszeitbetrug, Verdachtskündigung: Anhörung
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen: 10 Sa 2272/11
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 30.03.2012
   
Leitsätze:

1. Auch beim "Arbeitszeitbetrug" einer langjährig Beschäftigten bedarf es grundsätzlich zunächst einer Abmahnung.

2. Die Einladung zur Anhörung vor Ausspruch einer Verdachtskündigung muss den Gegenstand des Gespräches beinhalten und den Mitarbeiter in die Lage versetzen, eine Vertrauensperson hinzuzuziehen.

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 27.10.2011, 38 Ca 10928/11
   

Lan­des­ar­beits­ge­richt

Ber­lin-Bran­den­burg

 

Verkündet

am 30. März 2012

Geschäfts­zei­chen (bit­te im­mer an­ge­ben)

10 Sa 2272/11

38 Ca 10928/11
Ar­beits­ge­richt Ber­lin  

H., GB
als Ur­kunds­be­am­ter/in
der Geschäfts­stel­le


Im Na­men des Vol­kes

 

Ur­teil

In Sa­chen

pp

hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt Ber­lin-Bran­den­burg, 10. Kam­mer,
auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 30. März 2012
durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Lan­des­ar­beits­ge­richt W. als Vor­sit­zen­dem
so­wie die eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Herrn L. und Herrn N.

für Recht er­kannt:

I.
Die Be­ru­fung der Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Ber­lin vom 27. Ok­to­ber 2011 - 38 Ca 10928/11 - wird zurück­ge­wie­sen.

II.
Die Kos­ten der Be­ru­fung trägt die Be­klag­te.

III.
Der Wert des Be­ru­fungs­ver­fah­rens wird auf 13.280,00 EUR fest­ge­setzt.

IV.
Die Re­vi­si­on wird nicht zu­ge­las­sen.

 

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T a t b e s t a n d

Die Par­tei­en strei­ten um die Wirk­sam­keit ei­ner außer­or­dent­li­chen, hilfs­wei­se or­dent­li­chen Kündi­gung vom 29. Ju­ni 2011 bzw. 27. Ju­li 2011.

Die mit ei­nem Grad der Be­hin­de­rung von 80 als schwer­be­hin­der­ter Mensch an­er­kann­te Kläge­rin ist 46 Jah­re alt (…… 1965) und bei der Be­klag­ten als Sach­be­ar­bei­te­rin seit dem 1. Fe­bru­ar 1992 mit ca. 3.200 EUR brut­to/mtl. beschäftigt. Die Be­klag­te ist ei­ne Woh­nungs­ge­nos­sen­schaft, die in Ber­lin 6.500 Woh­nun­gen ver­wal­tet. Es wer­den rund 125 Ar­beit­neh­mer beschäftigt, da­von ca. 50 in der Ver­wal­tung.

Bei der Be­klag­ten be­steht seit 1. Mai 2005 ei­ne vom Ar­beit­ge­ber er­las­se­ne Be­triebs­richt­li­nie, die in ers­ter Li­nie Re­ge­lung zur Ar­beits­zeit be­inhal­tet.

Im Teil B Zif­fer XI ist zur Ar­beits­zeit­er­fas­sung fol­gen­des ge­re­gelt:

1. Die Ar­beits­zeit ist durch die Mit­ar­bei­terIn­nen mit Hil­fe der durch die Per­so­nal­ab­tei­lung zur Verfügung ge­stell­ten Da­tei­en täglich selbst zu er­fas­sen. Der Er­fas­sungs­zeit­raum ist der je­wei­li­ge Ka­len­der­mo­nat.

2. …

3. Der / Die zuständi­ge Vor­ge­setz­te wer­tet mo­nat­lich die Er­fas­sungsbögen der Mit­ar­bei­terIn­nen - mit Hil­fe der ihm dafür zur Verfügung ge­stell­ten und auf Ab­tei­lungs­ebe­ne zu­sam­men­ge­fass­ten Da­tei - aus. Nach er­folg­ter Prüfung und Kon­trol­le un­ter­zeich­net sie / er den ent­spre­chen­den Aus­druck und lei­tet ihn an die Per­so­nal­ab­tei­lung wei­ter.

Im Teil B Zif­fer III ist un­ter der Über­schrift „Miss­brauch“ fol­gen­des ge­re­gelt:

Je­der Miss­brauch, der im Zu­sam­men­hang mit die­ser Gleit­zeit­re­ge­lung - ins­be­son­de­re un­rich­ti­ges Er­fas­sen des Ar­beits­be­ginns oder -en­des oder der Pau­sen­zei­ten - fest­ge­stellt wird,

 

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stellt ei­nen Grund zur frist­lo­sen Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses dar.

Kon­kret wird zur Zeit­er­fas­sung jah­res­wei­se ei­ne per­so­nen­be­zo­ge­ne nicht schreib­geschütz­te Mi­cro­soft-Ex­cel-Ta­bel­le mit 12 ka­len­der­mo­nats­be­zo­ge­nen Ar­beits­blättern ver­wen­det. Die­se wei­sen ne­ben ein­zel­nen Sum­men- und Sal­den­spal­ten in ers­ter Li­nie ver­schie­de­ne be­ar­beit­ba­re Spal­ten für den Ar­beits­be­ginn und das Ar­beits­en­de so­wie die je­wei­li­ge Ge­samt­dau­er von bis zu drei Pau­sen­zei­ten auf. Hier­zu hat die ein­zel­ne Mit­ar­bei­te­rin zei­len­wei­se die Da­ten zu er­fas­sen, wo­bei die ein­zel­nen Zei­len mit dem je­wei­li­gen Da­tum und Wo­chen­tag vom Mo­nats­ers­ten bis zum Mo­nats­letz­ten ver­se­hen sind.

Am Diens­tag, dem 31. Mai 2011 trug die Kläge­rin als Ar­beits­en­de 16.00 Uhr ein. Tatsächlich be­en­de­te sie ih­re Ar­beits­zeit be­reits um 15.30 Uhr. Am Mitt­woch, dem 1. Ju­ni 2011 trug die Kläge­rin als Ar­beits­en­de 16.30 Uhr ein. Tatsächlich be­en­de­te sie ih­re Ar­beits­zeit be­reits um 15.30 Uhr.

Nach­dem die Kläge­rin am Don­ners­tag und Frei­tag nicht im Dienst war, über­prüften Mit­ar­bei­ter der Be­klag­ten dar­auf­hin ab Mon­tag, dem 6. Ju­ni 2011 die Ar­beits­zeit der Kläge­rin. Da die Be­klag­te da­von aus­ging, dass sie wei­te­re Ab­wei­chun­gen zwi­schen den ein­ge­tra­ge­nen und den tatsächli­chen Ar­beits­zei­ten fest­ge­stellt ha­be, fand am 14. Ju­ni 2011 von 10:40 Uhr bis 11:08 Uhr ein Per­so­nal­gespräch statt, zu dem die Ar­beit­ge­be­rin ein Pro­to­koll fer­tig­te. An die­sem Gespräch nah­men auf Sei­ten der Be­klag­ten zwei Vor­stands­mit­glie­der, ein Ab­tei­lungs­lei­ter und ei­ne Per­so­nal­sach­be­ar­bei­te­rin teil. Der The­men­kom­plex des Gespräches wur­de der Kläge­rin zu­vor nicht mit­ge­teilt. Ob die Kläge­rin ei­ne Ge­le­gen­heit ein­geräumt wur­de, ei­ne Ver­trau­ens­per­son (Be­triebs­rat) hin­zu­zu­zie­hen, ist strei­tig. Je­den­falls ist ein sol­cher Hin­weis in dem Gesprächs­pro­to­koll nicht ent­hal­ten.

In die­sem Gespräch wur­de der Kläge­rin vom Vor­stands­mit­glied O. mit­ge­teilt, dass auf­grund des An­fangs­ver­dach­tes we­gen der Ab­wei­chun­gen von 30 Mi­nu­ten bzw. ei­ner St­un­de am 31. Mai 2011 und 1. Ju­ni 2011 ei­ne tägli­che Prüfung er­folgt sei und es tägli­che Ab­wei­chun­gen ge­ge­ben ha­be. Da­zu wur­den der Kläge­rin ein­zel­ne Ta­ge und Ar­beits­zei­ten auf­gezählt.

 

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Die Kläge­rin be­strei­tet das Fehl­ver­hal­ten mit Aus­nah­me der Ab­wei­chun­gen am 31. Mai und 1. Ju­ni 2011. Im Übri­gen sei ei­ne Ma­ni­pu­la­ti­on der er­fass­ten Zei­ten durch an­de­re nicht aus­zu­sch­ließen. Nach dem 31. Mai und 1. Ju­ni 2011 sei die Kläge­rin stark be­ein­träch­tigt ge­we­sen, da sie nach ei­ner über­stan­de­nen Krebs­er­kran­kung am 31. Mai um 17:15 Uhr im Rah­men ei­ner Nach­un­ter­su­chung er­neut ei­nen un­kla­ren Be­fund mit­ge­teilt be­kom­men ha­be. Am 1. Ju­ni 2011 ha­be sie be­reits zum Ar­beits­be­ginn das an­ge­dach­te Ar­beits­en­de er­fasst. Auf die Bit­te ei­ner Kol­le­gin ha­be sie dann ih­re Tätig­keit früher be­en­det, um beim Ber­li­ner Fir­men­lauf als Hel­fe­rin das Fir­men­team der Be­klag­ten zu un­terstützen. Die Verände­rung der be­reits er­fass­ten Zeit ha­be sie eben­so wie für den Vor­tag ver­ges­sen. Sie ha­be Ar­bei­ten auch an an­de­ren Or­ten im Be­trieb zu er­le­di­gen. Teil­wei­se sei sie auch vor den von der Be­klag­ten an­ge­nom­me­nen Zei­ten be­reits an ih­rem Ar­beits­platz ge­we­sen. Zu den von der Be­klag­ten be­an­stan­de­ten An­fangs­zei­ten erklärt die Kläge­rin

• Mon­tag, den 6. Ju­ni 2011 ha­be sie die Ar­beit um 7:55 Uhr mit „fir­men­in­ter­nen Ab­spra­chen im Haus“ be­gon­nen.
• Diens­tag, den 7. Ju­ni 2011 sei sie tatsächlich um 8:00 Uhr an ih­rem Ar­beits­platz ge­we­sen
• Mitt­woch, den 8. Ju­ni 2011 erklärt die Kläge­rin sich nicht zum Ar­beits­be­ginn.
• Don­ners­tag, den 9. Ju­ni 2011 sei sie tatsächlich um 7:45 Uhr an ih­rem Ar­beits­platz ge­we­sen
• Frei­tag, dem 10. Ju­ni 2011 er­in­ne­re die Kläge­rin nicht mehr den Ar­beits­be­ginn, ha­be aber de­fi­ni­tiv kei­ne fal­sche Zeit er­fasst.
• Diens­tag, dem 14. Ju­ni 2011 ha­be sie ih­re Ar­beits­zeit um 7:45 Uhr be­gon­nen und so­gleich auch mit der Mie­te­rin Ach­ter­berg vor 8 Uhr be­reits 10 Mi­nu­ten te­le­fo­niert.

Zu den von der Be­klag­ten be­an­stan­de­ten Pau­sen­zei­ten erklärt die Kläge­rin
• Diens­tag, dem 7. Ju­ni 2011 ha­be sie von 13:00 Uhr bis 13:30 Pau­se ge­macht und an­sch­ließend Ko­pi­en ge­fer­tigt.
• Mitt­woch, dem 8. Ju­ni 2011 ha­be sie nur 25 Mi­nu­ten Pau­se ge­macht und an­sch­ließend Ko­pi­en außer­halb ih­res Büros ge­fer­tigt.

 

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Zu den von der Be­klag­ten be­an­stan­de­ten End­zei­ten erklärt die Kläge­rin
• Diens­tag, den 7. Ju­ni 2011 ha­be sie sich bis 16:15 Uhr an ih­rem Ar­beits­platz auf­ge­hal­ten.
• Don­ners­tag, den 9. Ju­ni 2011 ha­be sie sich bis um 16:00 Uhr an ih­rem Ar­beits­platz auf­ge­hal­ten.

In dem sehr kon­fron­ta­ti­ven Gespräch am 14. Ju­ni 2011 sei ihr kei­ne Zeit ein­geräumt wor­den, die Dif­fe­ren­zen auf­zuklären. Die Kläge­rin ha­be es als Über­rum­pe­lung emp­fun­den. Es ha­be sich nicht um ei­ne er­geb­nis­of­fe­ne Be­fra­gung ge­han­delt.

Die Be­klag­te trägt vor, dass die Kläge­rin kurz nach dem Gespräch am 14. Ju­ni 2011 die Per­so­nal­sach­be­ar­bei­te­rin und den Ab­tei­lungs­lei­ter ge­fragt ha­be, wes­halb sie die Kläge­rin nicht vor­ge­warnt hätten. Sie trägt wei­ter vor, dass die Kläge­rin am

• Mon­tag, dem 6. Ju­ni 2011 7:55 Uhr als Ar­beits­be­ginn er­fasst ha­be, tatsächlich aber erst um 8:09 Uhr am Ar­beits­platz er­schie­nen sei. Um 8:00 Uhr ha­be in ih­rem Zim­mer we­der ih­re ty­pi­scher­wei­se ab­ge­stell­te Ta­sche ge­stan­den noch sei­en das Licht an­ge­schal­tet und/oder der Com­pu­ter hoch­ge­fah­ren ge­we­sen.
• Diens­tag, dem 7. Ju­ni 2011 8:00 Uhr als Ar­beits­be­ginn er­fasst ha­be, tatsächlich aber erst um 8:05 Uhr am Ar­beits­platz er­schie­nen sei, wo­bei sie ge­se­hen wor­den sei.
• Mitt­woch, dem 8. Ju­ni 2011 7:50 Uhr als Ar­beits­be­ginn er­fasst ha­be, tatsächlich aber erst um 7:57 Uhr ihr Büro be­tre­ten ha­be, wo­bei sie ge­se­hen wor­den sei.
• Don­ners­tag, dem 9. Ju­ni 2011 7:45 Uhr als Ar­beits­be­ginn er­fasst ha­be, tatsächlich aber erst um 7:53 Uhr die Zen­tra­le der Be­klag­ten be­tre­ten ha­be.
• Frei­tag, dem 10. Ju­ni 2011 7:50 Uhr als Ar­beits­be­ginn er­fasst ha­be, tatsächlich aber erst um 8:00 Uhr die Trep­pe zu ih­rem Büro her­auf­ge­kom­men sei.

Nach­dem die Kläge­rin am Mon­tag, dem 13. Ju­ni 2011 nicht im Dienst war, er­fass­te sie nach dem Vor­trag der Be­klag­ten am
• Diens­tag, dem 14. Ju­ni 2011 7:45 Uhr als Ar­beits­be­ginn, sei aber

 

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erst um 8:02 Uhr an ih­rem Ar­beits­platz an­ge­trof­fen wor­den.

Wei­ter meint die Be­klag­te, dass die Kläge­rin teil­wei­se feh­ler­haf­te Pau­sen­zei­ten er­fasst ha­be. So ha­be sie am
• Diens­tag, dem 7. Ju­ni 2011 ei­ne Pau­sen­zeit von 30 Mi­nu­ten er­fasst, tatsächlich aber von 13:00 Uhr bis 13:42 ei­ne Pau­se wahr­ge­nom­men. Um 13:39 Uhr sei sie noch nicht wie­der an ih­rem Ar­beits­platz ge­we­sen und um 13:42 Uhr in der Küche ge­se­hen wor­den.
• Mitt­woch, dem 8.6.2011 ei­ne Pau­sen­zeit von 30 Mi­nu­ten er­fasst, tatsächlich aber ei­ne Pau­sen­zeit von 13:01 Uhr bis 13:40 wahr­ge­nom­men, da sie erst um 13:40 Uhr an ih­ren Ar­beits­platz zurück­ge­kehrt sei.

Sch­ließlich meint die Be­klag­te, dass die Kläge­rin zeit­wei­se auch das Ar­beits­en­de feh­ler­haft er­fasst ha­be. so ha­be sie am
• Diens­tag, dem 7. Ju­ni 2011 ein Ar­beits­en­de um 16:15 Uhr er­fasst, tatsächlich aber den Ar­beits­platz um 16:05 Uhr ver­las­sen, wo­bei sie ge­se­hen wor­den sei.
• Don­ners­tag, dem 9. Ju­ni 2011 ein Ar­beits­en­de um 16:00 Uhr er­fasst, tatsächlich aber das Gebäude um 15:43 Uhr über das Nottrep­pen­haus ver­las­sen ha­be.

Es han­de­le sich um ei­nen Ar­beits­zeit­be­trug, da die Fal­schein­tra­gun­gen zu ei­nem Vermögens­scha­den bei der Be­klag­ten geführt hätten.

Das Ar­beits­ge­richt hat der Kla­ge mit Ur­teil vom 27. Ok­to­ber 2011 statt­ge­ge­ben. Zur Be­gründung hat es aus­geführt, dass der Kündi­gungs­grund für bei­de Kündi­gun­gen iden­tisch sei. Sie sei­en le­dig­lich we­gen der je­weils vor­he­ri­gen Zu­stim­mung des In­te­gra­ti­ons­am­tes mit zwei Schrei­ben zu un­ter­schied­li­chen Da­ten aus­ge­spro­chen wor­den. Es lie­ge aber we­der ein hin­rei­chen­der Grund für ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung gemäß § 626 BGB noch für ei­ne or­dent­li­che Kündi­gung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG vor. Je­den­falls führe die er­for­der­li­che In­ter­es­sen­abwägung da­zu, dass die Kündi­gun­gen, auch die or­dent­li­che, un­verhält­nismäßig sei­en.

 

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So­weit die Kündi­gun­gen als „Ver­dachtskündi­gung“ zu ver­ste­hen sei­en, sei­en sie un­wirk­sam, weil ei­ne im Rechts­sin­ne er­for­der­li­che Anhörung der Kläge­rin nicht statt­ge­fun­den ha­be. Die Kläge­rin sei zwar am 14. Ju­ni 2011 zu ei­nem Gespräch ein­be­stellt wor­den, da­bei ha­be es sich aber nicht um die im Rechts­sin­ne er­for­der­li­che „Anhörung“ ge­han­delt. Bei der Anhörung han­de­le es sich nicht nur um ei­ne bloße For­ma­lie, son­dern die Anhörung die­ne der Aufklärung des Sach­ver­halts. Die Anhörung der Kläge­rin sol­le die­ser die Möglich­keit ge­ben, den ge­gen sie be­ste­hen­den Ver­dacht zu ent­kräften. Die­ses set­ze so­wohl die Be­nen­nung kon­kre­ter An­halts­punk­te ei­nes be­stimm­ten Ver­dach­tes straf­ba­ren oder je­den­falls ver­trags­wid­ri­gen Ver­hal­tens als auch die Möglich­keit der Hin­zu­zie­hung ei­nes Rechts­an­wal­tes vor­aus. Die Be­klag­te ha­be die Kläge­rin nicht vor­ab über das The­ma des Gespräches in­for­miert und ihr auch nicht die Möglich­keit ein­geräumt, ei­ne Per­son ih­res Ver­trau­ens ge­schwei­ge denn ein Be­triebs­rats­mit­glied oder ei­nen Rechts­an­walt zu Ra­te zu zie­hen. Die Kläge­rin ha­be auf sich al­lei­ne ge­stellt vier vor­ge­setz­ten Per­so­nen ge­genüber ge­stan­den, de­ren An­lie­gen es of­fen­sicht­lich nicht ge­we­sen sei, un­vor­ein­ge­nom­men den Sach­ver­halt auf­zuklären, son­dern le­dig­lich for­mal dem Anhörungs­er­for­der­nis genüge zu tun. Von ei­ner an­ge­mes­se­nen Anhörung oh­ne Vor­lie­gen ei­ner „Druck­si­tua­ti­on“ könne nicht aus­ge­gan­gen wer­den.

Auch als Tatkündi­gung sei­en die Kündi­gun­gen nicht ge­recht­fer­tigt, ob­wohl ei­ne vorsätz­li­che feh­ler­haf­te Zeit­er­fas­sung grundsätz­lich als Kündi­gungs­grund ge­eig­net sei. Hier sei aber be­reits nicht ge­si­chert, dass die Ein­träge in der Zeit­er­fas­sung von der Kläge­rin stamm­ten und die Be­klag­te kein ma­ni­pu­la­ti­ons­frei­es Zeit­er­fas­sungs­sys­tem ein­set­ze. Auch könne nicht aus­ge­schlos­sen wer­den, dass die Kläge­rin die feh­ler­haf­ten Ein­träge noch kor­ri­giert hätte. Ab­ge­se­hen vom 31. Mai 2011 und 1. Ju­ni 2011 sei nicht aus­zu­sch­ließen, dass die Kläge­rin zwar nicht an ih­rem Ar­beits­platz, aber den­noch im Haus ge­we­sen sei. Feh­ler­haf­te Pau­sen­zei­ten könn­ten durch die man­geln­de Er­fas­sungsmöglich­keit von An­fangs- und End­zei­ten ver­an­lasst ge­we­sen sein. Ob Auf- und Ab­run­dun­gen zulässig sei­en, sei eben­falls un­klar.

Sch­ließlich sei un­ter Be­ach­tung des Verhält­nismäßig­keits­grund­sat­zes ei­ne Ab­mah­nung der Kläge­rin aus­rei­chend, da Kündi­gun­gen nicht durch

 

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Fehl­ver­hal­ten in der Ver­gan­gen­heit, son­dern le­dig­lich im Hin­blick auf das Pro­gno­se­prin­zip be­gründet sein könn­ten, dass ver­gleich­ba­res Fehl­ver­hal­ten in der Zu­kunft wei­ter auf­tre­te. We­der sei das Fehl­ver­hal­ten der Kläge­rin so er­heb­lich, dass ei­ne Ab­mah­nung ent­behr­lich sei, noch ge­be es An­halts­punk­te, dass ei­ne Ände­rung des Ver­hal­tens in der Zu­kunft aus­ge­schlos­sen sei.

Letzt­lich fal­le auch die In­ter­es­sen­abwägung zu Guns­ten der Kläge­rin aus, da sie mit 19 Jah­ren be­an­stan­dungs­frei­er Be­triebs­zu­gehörig­keit ei­ne große Loya­lität zu ih­rem Ar­beit­ge­ber be­wie­sen ha­be. Der durch die Fal­schein­tra­gung ein­ge­tre­te­ne Ver­trau­ens­ver­lust sei des­halb nicht so er­heb­lich. Sch­ließlich sei­en zu Guns­ten der Kläge­rin ih­re Schwer­be­hin­de­rung so­wie das Le­bens­al­ter von 45 zu berück­sich­ti­gen.

Ge­gen die­ses den Be­klag­ten­ver­tre­tern am 3. No­vem­ber 2011 zu­ge­stell­te Ur­teil leg­ten die­se am 14. No­vem­ber 2011 Be­ru­fung ein und be­gründe­ten die­se am 27. De­zem­ber 2011.

Die Be­klag­te ver­weist dar­auf, dass das ver­wen­de­te Zeit­er­fas­sungs­sys­tem ei­ne kla­re und feh­ler­freie Er­fas­sung der Zei­ten ermögli­che und An­halts­punk­te für ei­ne Ma­ni­pu­la­ti­on nicht ge­ge­ben sei­en. Die an­ge­nom­me­ne späte­re Kor­rek­turmöglich­keit der Fal­scher­fas­sun­gen sei spe­ku­la­tiv. Die An­nah­me vorläufi­ger und endgülti­ger Ein­tra­gun­gen er­ge­be sich nicht aus der Be­triebs­richt­li­nie. Das Ge­richt ha­be auch hin­sicht­lich der mögli­chen an­der­wei­ti­gen Ar­bei­ten im Be­trieb oh­ne ent­spre­chen­den Vor­trag der Kläge­rin spe­ku­liert. Denn für ein­zel­ne der be­an­stan­de­ten Ta­ge ha­be selbst die Kläge­rin ent­spre­chen­des nicht be­haup­tet. Die Häufig­keit der Fal­scher­fas­sung deu­te dar­auf hin, dass die Kläge­rin vorsätz­lich und sys­te­ma­tisch die Zei­ten falsch er­fas­se. Das sei ihr auch be­wusst ge­we­sen, wie die Fra­ge „War­um hast Du mich nicht ge­warnt?“ be­le­ge. Sch­ließlich sei auch die Anhörung am 14. Ju­ni 2011 kor­rekt er­folgt. Die vom Ar­beits­ge­richt auf­ge­stell­ten An­for­de­run­gen sei­en über­zo­gen. Ei­ne Ab­mah­nung sei ent­behr­lich, da das Fehl­ver­hal­ten er­heb­lich sei und die Be­triebs­richt­li­nie be­reits ei­ne an­ti­zi­pier­te Ab­mah­nung be­inhal­te. Die Schwer­be­hin­de­rung und das Le­bens­al­ter der Kläge­rin sei­en nicht als be­son­ders ungüns­tig ein­zu­stu­fen. Die langjähri­ge Loya­lität der Kläge­rin sei zu mas­siv

 

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erschüttert, zu­mal an­zu­neh­men sei, dass das Fehl­ver­hal­ten nicht erst­ma­lig auf­ge­tre­ten sei.

Die Be­klag­te und Be­ru­fungskläge­rin be­an­tragt,

un­ter Abände­rung des Ur­teils des Ar­beits­ge­richts Ber­lin vom 27. Ok­to­ber 2011, Ak­ten­zei­chen 38 Ca 10928/11, die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Die Kläge­rin und Be­ru­fungs­be­klag­te be­an­tragt,

die Be­ru­fung zurück­zu­wei­sen.

Die Kläge­rin räumt ihr Fehl­ver­hal­ten für zwei Ta­ge (31. Mai 2011 und 1. Ju­ni 2011) ein und be­gründet das ver­ges­se­ne Kor­ri­gie­ren der ursprüng­lich ge­plan­ten End­zei­ten mit ih­rer be­son­de­ren Si­tua­ti­on im Zu­sam­men­hang mit dem me­di­zi­ni­schen Be­fund vom 31. Mai 2011. An den an­de­ren Ta­gen würden ih­re Ein­tra­gun­gen dem tatsächli­chen Ar­beits­be­ginn und Ar­beits­en­de so­wie der Dau­er der Pau­sen ent­spre­chen. Sie ha­be Pau­sen­zeit so­gar zu Guns­ten der Be­klag­ten zu lang ein­ge­tra­gen. Die Vor­ga­ben zur Zeit­er­fas­sung sei­en un­klar und das Sys­tem ma­ni­pu­la­ti­ons- bzw. feh­ler­anfällig. Die Ar­beits­zeit be­gin­ne vor dem Hoch­fah­ren des Rech­ners und en­de nach des­sen Her­un­ter­fah­ren. Des­halb könn­ten Be­ginn und En­de der Ar­beits­zeit gar nicht je­weils so­fort mi­nu­ten­ge­nau er­fasst wer­den. Die Anhörung sei vom Ar­beits­ge­richt zu­tref­fend als nicht aus­rei­chend im Rechts­sin­ne be­wer­tet wor­den. Ei­ne an­ti­zi­pier­te Ab­mah­nung sei in der Rechts­ord­nung nicht vor­ge­se­hen und er­set­ze kei­ne ord­nungs­gemäße Ab­mah­nung. Die­se sei auch nicht ent­behr­lich ge­we­sen. Die In­ter­es­sen­abwägung ha­be das Ar­beits­ge­richt zu­tref­fend vor­ge­nom­men.

We­gen des wei­te­ren Vor­brin­gens der Par­tei­en in der Be­ru­fungs­in­stanz wird auf den vor­ge­tra­ge­nen In­halt der Be­ru­fungs­be­gründung der Be­klag­ten vom 27. De­zem­ber 2011 und des Schrift­sat­zes vom 19. März 2012 so­wie auf die Be­ru­fungs­be­ant­wor­tung der Kläge­rin vom 15. Fe­bru­ar 2012 so­wie den Schrift­satz vom 27. März 2012 und das Sit­zungs­pro­to­koll vom 30. März 2012 Be­zug ge­nom­men.

 

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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e


I.

Die nach § 64 Abs. 2 ArbGG statt­haf­te Be­ru­fung der Be­klag­ten ist form- und frist­ge­recht im Sin­ne der §§ 66 Abs. 1 ArbGG, 519, 520 Zi­vil­pro­zess­ord­nung (ZPO) ein­ge­legt und be­gründet wor­den.


II.

Im Er­geb­nis ist je­doch kei­ne an­de­re Be­ur­tei­lung als in ers­ter In­stanz ge­recht­fer­tigt. Die Be­ru­fung ist un­be­gründet und da­her zurück­zu­wei­sen. Die­ses gilt für die außer­or­dent­li­che und die or­dent­li­che Kündi­gung und zwar so­wohl, so­weit es sich um ei­ne Ver­dachtskündi­gung han­delt als auch so­weit es sich um ei­ne Tatkündi­gung han­delt. Die An­grif­fe der Be­ru­fung sind nicht ge­eig­net, die Rechts­la­ge an­ders zu be­ur­tei­len und ge­ben nur An­lass zu fol­gen­den An­mer­kun­gen:

1.
Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Ar­beits­verhält­nis aus wich­ti­gem Grund oh­ne Ein­hal­tung ei­ner Kündi­gungs­frist gekündigt wer­den, wenn Tat­sa­chen vor­lie­gen, auf­grund de­rer dem Kündi­gen­den un­ter Berück­sich­ti­gung al­ler Umstände des Ein­zel­falls und un­ter Abwägung der In­ter­es­sen bei­der Ver­trags­tei­le die Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses bis zum Ab­lauf der Kündi­gungs­frist nicht zu­ge­mu­tet wer­den kann.

1.1
Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sach­ver­halt oh­ne sei­ne be­son­de­ren Umstände „an sich“, das heißt ty­pi­scher­wei­se als wich­ti­ger Grund ge­eig­net ist. Als­dann be­darf es der Prüfung, ob dem Kündi­gen­den die Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses un­ter Berück­sich­ti­gung der kon­kre­ten Umstände des Falls und un­ter Abwägung der In­ter­es­sen bei­der Ver­trags­tei­le - je­den­falls bis zum Ab­lauf der Kündi­gungs­frist - zu­mut­bar ist oder nicht (BAG, Ur­teil vom 9. Ju­ni 2011 - 2 AZR 381/10). Ein wich­ti­ger Grund im Sin­ne von § 626 Abs. 1 BGB ist nur ge­ge­ben, wenn das Er­geb­nis die­ser Ge­samtwürdi­gung die Fest­stel­lung der Un­zu­mut­bar­keit ei­ner

 

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Wei­ter­beschäfti­gung des Ar­beit­neh­mers auch nur bis zum Ab­lauf der Kündi­gungs­frist ist.

Bei der Prüfung, ob dem Ar­beit­ge­ber ei­ne Wei­ter­beschäfti­gung des Ar­beit­neh­mers trotz Vor­lie­gens ei­ner er­heb­li­chen Pflicht­ver­let­zung je­den­falls bis zum Ab­lauf der Kündi­gungs­frist zu­mut­bar ist, ist in ei­ner Ge­samtwürdi­gung das In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers an der so­for­ti­gen Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses ge­gen das In­ter­es­se des Ar­beit­neh­mers an des­sen Fort­be­stand ab­zuwägen. Es hat ei­ne Be­wer­tung des Ein­zel­falls un­ter Be­ach­tung des Verhält­nismäßig­keits­grund­sat­zes zu er­fol­gen (BAG, Ur­teil vom 10. Ju­ni 2010 - 2 AZR 541/09).

Ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung kommt nur in Be­tracht, wenn es kei­nen an­ge­mes­se­nen Weg gibt, das Ar­beits­verhält­nis fort­zu­set­zen, weil dem Ar­beit­ge­ber sämt­li­che mil­de­ren Re­ak­ti­onsmöglich­kei­ten un­zu­mut­bar sind. Als mil­de­re Re­ak­tio­nen sind ins­be­son­de­re Ab­mah­nung und or­dent­li­che Kündi­gung an­zu­se­hen. Sie sind dann al­ter­na­ti­ve Ge­stal­tungs­mit­tel, wenn schon sie ge­eig­net sind, den mit der außer­or­dent­li­chen Kündi­gung ver­folg­ten Zweck - die Ver­mei­dung des Ri­si­kos künf­ti­ger Störun­gen - zu er­rei­chen.

Be­ruht die Ver­trags­pflicht­ver­let­zung auf steu­er­ba­rem Ver­hal­ten der Ar­beit­neh­me­rin, ist grundsätz­lich da­von aus­zu­ge­hen, dass ihr künf­ti­ges Ver­hal­ten schon durch die An­dro­hung von Fol­gen für den Be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses po­si­tiv be­ein­flusst wer­den kann (BAG, Ur­teil vom 10. Ju­ni 2010 - 2 AZR 541/09). Or­dent­li­che und außer­or­dent­li­che Kündi­gung we­gen ei­ner Ver­trags­pflicht­ver­let­zung set­zen des­halb re­gelmäßig ei­ne Ab­mah­nung vor­aus. Sie dient zu­gleich der Ob­jek­ti­vie­rung der ne­ga­ti­ven Pro­gno­se (BAG, Ur­teil vom 10. Ju­ni 2010 - 2 AZR 541/09; Ur­teil vom 23. Ju­ni 2009 - 2 AZR 283/08). Nach dem Verhält­nismäßig­keits­grund­satz ist ei­ne Kündi­gung al­so nicht ge­recht­fer­tigt, wenn es mil­de­re Mit­tel gibt, ei­ne Ver­tragsstörung zukünf­tig zu be­sei­ti­gen. Die­ser As­pekt hat durch die Re­ge­lung des § 314 Abs. 2 BGB iVm. § 323 Abs. 2 BGB ei­ne ge­setz­ge­be­ri­sche Bestäti­gung er­fah­ren. Ei­ner Ab­mah­nung be­darf es in An­se­hung des Verhält­nismäßig­keits­grund­sat­zes des­halb nur dann nicht, wenn ei­ne Ver­hal­tensände­rung in Zu­kunft selbst nach Ab­mah­nung nicht zu er­war­ten steht oder es sich um ei­ne so schwe­re Pflicht­ver­let­zung han­delt,

 

- 13 -

dass ei­ne Hin­nah­me durch den Ar­beit­ge­ber of­fen­sicht­lich - auch für den Ar­beit­neh­mer er­kenn­bar - aus­ge­schlos­sen ist (BAG, Ur­teil vom 10. Ju­ni 2010 - 2 AZR 541/09).

1.2
Der vorsätz­li­che Ver­s­toß ei­ner Ar­beit­neh­me­rin ge­gen ih­re Ver­pflich­tung, die ab­ge­leis­te­te Ar­beits­zeit kor­rekt zu do­ku­men­tie­ren, ist an sich ge­eig­net, ei­nen wich­ti­gen Grund zur außer­or­dent­li­chen Kündi­gung im Sin­ne von § 626 Abs. 1 BGB dar­zu­stel­len.

1.2.1
Dies gilt für ei­nen vorsätz­li­chen Miss­brauch ei­ner Stem­pel­uhr eben­so wie für das wis­sent­li­che und vorsätz­lich fal­sche Aus­stel­len ent­spre­chen­der For­mu­la­re und wie für mit Hil­fe des Ar­beits­platz­rech­ners in ei­ner elek­tro­ni­schen Zeit­er­fas­sung zu do­ku­men­tie­ren­de Ar­beits­zei­ten (vgl. BAG, Ur­teil vom 9. Ju­ni 2011 - 2 AZR 381/10). Da­bei kommt es nicht ent­schei­dend auf die straf­recht­li­che Würdi­gung an, son­dern auf den mit der Pflicht­ver­let­zung ver­bun­de­nen schwe­ren Ver­trau­ens­bruch (BAG, Ur­teil vom 24. No­vem­ber 2005 - 2 AZR 39/05). Der Ar­beit­ge­ber muss auf ei­ne kor­rek­te Do­ku­men­ta­ti­on der Ar­beits­zeit der am Gleit­zeit­mo­dell teil­neh­men­den Ar­beit­neh­mer ver­trau­en können. Überträgt er den Nach­weis der ge­leis­te­ten Ar­beits­zeit den Ar­beit­neh­mern selbst und füllt ei­ne Ar­beit­neh­me­rin die dafür zur Verfügung ge­stell­ten Ta­bel­len wis­sent­lich und vorsätz­lich falsch aus, so stellt dies in al­ler Re­gel ei­nen schwe­ren Ver­trau­ens­miss­brauch dar. Die Ar­beit­neh­me­rin ver­letzt da­mit in er­heb­li­cher Wei­se ih­re ihr ge­genüber dem Ar­beit­ge­ber be­ste­hen­de Pflicht zur Rück­sicht­nah­me (§ 241 Abs. 2 BGB).

1.2.2
Bei der Prüfung, ob der Ar­beit­ge­be­rin ei­ne Wei­ter­beschäfti­gung der Ar­beit­neh­me­rin trotz Vor­lie­gens ei­ner er­heb­li­chen Pflicht­ver­let­zung je­den­falls bis zum Ab­lauf der Kündi­gungs­frist zu­mut­bar ist, ist in ei­ner Ge­samtwürdi­gung das In­ter­es­se der Ar­beit­ge­be­rin an der so­for­ti­gen Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses ge­gen das In­ter­es­se der Ar­beit­neh­me­rin an des­sen Fort­be­stand ab­zuwägen. Es hat ei­ne Be­wer­tung des Ein­zel­falls un­ter Be­ach­tung des Verhält­nismäßig­keits­grund­sat­zes zu er­fol­gen (BAG, Ur­teil vom 10. Ju­ni 2010 - 2 AZR 541/09). Ei­ne

 

- 14 -

außer­or­dent­li­che Kündi­gung kommt nur in Be­tracht, wenn es kei­nen an­ge­mes­se­nen Weg gibt, das Ar­beits­verhält­nis fort­zu­set­zen, weil dem Ar­beit­ge­ber sämt­li­che mil­de­ren Re­ak­ti­onsmöglich­kei­ten un­zu­mut­bar sind (BAG, Ur­teil vom 16. De­zem­ber 2010 - 2 AZR 485/08). Die­se Grundsätze gel­ten un­ein­ge­schränkt selbst bei Störun­gen des Ver­trau­ens­be­reichs durch Straf­ta­ten ge­gen Vermögen oder Ei­gen­tum des Ar­beit­ge­bers (BAG, Ur­teil vom 10. Ju­ni 2010 - 2 AZR 541/09). Auch in die­sem Be­reich gibt es kei­ne „ab­so­lu­ten“ Kündi­gungs­gründe. Stets ist kon­kret zu prüfen, ob nicht ob­jek­tiv die Pro­gno­se be­rech­tigt ist, der Ar­beit­neh­mer wer­de sich je­den­falls nach ei­ner Ab­mah­nung künf­tig wie­der ver­trags­treu ver­hal­ten.

1.3
Es kann da­hin­ste­hen, ob die Kläge­rin „nur“ am 31. Mai 2011 und am 1. Ju­ni 2011 ih­re tatsächli­che Ar­beits­zeit feh­ler­haft do­ku­men­tiert hat oder auch in den fol­gen­den zwei Wo­chen. In je­dem Fall war ei­ne Ab­mah­nung hier nicht ent­behr­lich.

Auch wenn be­reits das Ver­hal­ten der Kläge­rin am 31. Mai 2011 und am 1. Ju­ni 2011 das Ver­trau­ens­verhält­nis zur Be­klag­ten be­las­tet hat und die­se Be­las­tung mit den ge­ge­be­nen­falls nach ei­ner Be­weis­auf­nah­me fest­zu­stel­len­den wei­te­ren Falschauf­zeich­nun­gen zur Ar­beits­zeit deut­lich an­ge­wach­sen wäre, er­ge­ben doch die für die Kläge­rin spre­chen­den Be­son­der­hei­ten das vor­he­ri­ge Ab­mah­nungs­er­for­der­nis selbst bei Zu­grun­de­le­gung des Vor­trags der Be­klag­ten. Die für ei­ne Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses er­for­der­li­che Ver­trau­ens­grund­la­ge er­scheint nach Aus­spruch ei­ner Ab­mah­nung noch wie­der­her­stell­bar.

Die Kläge­rin stand zum Zeit­punkt des Aus­spruchs der Kündi­gung be­reits mehr als 19 Jah­re in ei­nem bis da­hin be­an­stan­dungs­frei­en Ar­beits­verhält­nis mit der Be­klag­ten. An­ge­sichts der für al­le Mit­ar­bei­ter und Vor­ge­setz­ten ein­seh­ba­ren Zeit­er­fas­sungs­ta­bel­le so­wie der über­schau­ba­ren Or­ga­ni­sa­ti­ons­ein­heit in der Ver­wal­tung der Be­klag­ten han­del­te es sich nicht um ein heim­li­ches Ver­fah­ren, son­dern um ein - wie das Ver­hal­ten der Be­klag­ten nach dem 1. Ju­ni 2011 be­legt - je­der­zeit kon­trol­lier­ba­res Ver­hal­ten. Dass die Kläge­rin durch die feh­ler­haft do­ku­men­tier­ten Ar­beits­zei­ten ih­re Ar­beit nicht ge­schafft hätte bzw. Ar­beit lie­gen ge­blie­ben wäre, hat die Be­klag­te nicht vor­ge­tra­gen und war auch

 

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an­sons­ten nicht er­sicht­lich. Dem ent­spricht auch der Hin­weis der Be­klag­ten in der Be­ru­fungs­ver­hand­lung, dass sie kein an­de­res Zeit­er­fas­sungs­sys­tem einführen wol­le, weil sie grundsätz­lich ih­ren Ar­beit­neh­me­rin­nen ver­traue, dass sie die ih­nen über­tra­ge­nen Auf­ga­ben in der ver­trag­lich ge­schul­de­ten Ar­beits­zeit er­le­di­gen, oh­ne dass es be­son­de­rer Kon­troll­me­cha­nis­men bedürfe.

Auch wenn es ei­ne an­ti­zi­pier­te, al­so ei­ne vor­weg­ge­nom­me­ne Ab­mah­nung grundsätz­lich nicht gibt und die­se je­den­falls nicht die­sel­be Warn- und Rüge­wir­kung be­sitzt wie ei­ne ech­te Ab­mah­nung, kann sie den­noch im Ein­zel­fall bei der Prüfung der Er­folgs­aus­sich­ten ei­ner Ab­mah­nung ein der Ar­beit­neh­me­rin ungüns­ti­ges Er­geb­nis recht­fer­ti­gen (vgl. Ur­teil des LAG Ber­lin-Bran­den­burg vom 26. No­vem­ber 2010 - 10 Sa 1823/10). Die Zif­fer III im Ab­schnitt B der Be­triebs­richt­li­nie vom 1. Mai 2005 exis­tier­te zum Kündi­gungs­zeit­punkt al­ler­dings be­reits mehr als 6 Jah­re. Dass seit de­ren In­kraft­tre­ten die Be­klag­te ge­le­gent­lich noch wie­der auf et­wai­ge Miss­brauchs­fol­gen hin­ge­wie­sen hätte, ist we­der vor­ge­tra­gen noch er­sicht­lich. In­so­fern ist da­von aus­zu­ge­hen, dass die Miss­brauchs­re­ge­lung der Be­triebs­richt­li­nie der Kläge­rin bei den ihr vor­ge­wor­fe­nen Feh­ler­fas­sun­gen je­den­falls nicht ak­tu­ell präsent war. Hin­zu kommt, dass die Kläge­rin selbst be­reits vor Aus­spruch der Kündi­gung deut­lich ge­macht hat, dass sie bei ei­ner noch­ma­li­gen Er­in­ne­rung sich je­den­falls kor­rekt ver­hal­ten würde. Denn an­ders ist die Nach­fra­ge der Kläge­rin ge­genüber dem Ab­tei­lungs­lei­ter und der Per­so­nal­sach­be­ar­bei­te­rin, wes­halb sie die Kläge­rin nicht vor­ge­warnt hätten, nicht zu ver­ste­hen.

Das in mehr als 19 Jah­ren Beschäfti­gungs­zeit von der Kläge­rin er­wor­be­ne Maß an Ver­trau­en in die Kor­rekt­heit ih­rer Auf­ga­ben­erfüllung und in die Ach­tung der Vermögens­in­ter­es­sen der Be­klag­ten schlägt hoch zu Bu­che und ist höher zu be­wer­ten als der Wunsch der Be­klag­ten, nur ei­ne sol­che Ar­beit­neh­me­rin wei­ter­zu­beschäfti­gen, die in je­der Hin­sicht und aus­nahms­los oh­ne Fehl und Ta­del ist. Die­ser als sol­cher be­rech­tig­te Wunsch macht der Be­klag­ten die Wei­ter­beschäfti­gung der Kläge­rin trotz ih­rer Pflich­ten­verstöße mit Blick auf die bis­he­ri­ge Zu­sam­men­ar­beit nicht un­zu­mut­bar. Ob­jek­tiv ist das Ver­trau­en in die Zu­verlässig­keit der Kläge­rin nicht der­art erschüttert, dass des­sen vollständi­ge Wie­der­her­stel­lung und

 

- 16 -

ein künf­tig er­neut störungs­frei­es Mit­ein­an­der der Par­tei­en nicht in Fra­ge käme.

2.
Auch als außer­or­dent­li­che Ver­dachtskündi­gung ist die Kündi­gung nicht ge­recht­fer­tigt.

Für die Ver­dachtskündi­gung ist nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG, Ur­teil vom 23. Ju­ni 2009 - 2 AZR 474/07) da­von aus­zu­ge­hen, dass die Ar­beit­ge­be­rin auf Grund der ihr ob­lie­gen­den Aufklärungs­pflicht ge­hal­ten ist, die Ar­beit­neh­me­rin vor Aus­spruch ei­ner Ver­dachtskündi­gung zu den ge­gen sie er­ho­be­nen Ver­dachts­mo­men­ten zu hören. Die Erfüllung der Aufklärungs­pflicht ist Wirk­sam­keits­vor­aus­set­zung für ei­ne Ver­dachtskündi­gung (LAG Ber­lin-Bran­den­burg, Ur­teil vom 6.11.2009 - 6 Sa 1121/09).

Die Anhörung der Ar­beit­neh­me­rin hat im Zu­ge der ge­bo­te­nen Aufklärung des Sach­ver­halts zu er­fol­gen. Ihr Um­fang rich­tet sich nach den Umständen des Ein­zel­falls. Den­noch reicht es grundsätz­lich nicht aus, wenn die Ar­beit­ge­be­rin die Ar­beit­neh­me­rin im Rah­men ei­ner Anhörung zu ei­ner Ver­dachtskündi­gung le­dig­lich mit ei­ner all­ge­mein ge­hal­te­nen Wer­tung kon­fron­tiert. Die Anhörung muss sich auf ei­nen greif­ba­ren Sach­ver­halt be­zie­hen. Die Ar­beit­neh­me­rin muss die Möglich­keit ha­ben, be­stimm­te, zeit­lich und räum­lich ein­ge­grenz­te Tat­sa­chen zu be­strei­ten oder den Ver­dacht ent­kräften­de Tat­sa­chen zu be­zeich­nen und so zur Auf­hel­lung der für die Ar­beit­ge­be­rin im Dun­keln lie­gen­den Ge­scheh­nis­se bei­zu­tra­gen. Al­lein um die­ser Aufklärung wil­len wird der Ar­beit­ge­be­rin die Anhörung ab­ver­langt (BAG, Ur­teil vom 13. März 2008 - 2 AZR 961/06).

Das be­deu­tet in­halt­lich, dass der Ar­beit­neh­me­rin Ge­le­gen­heit ge­ge­ben wer­den muss, sich auf ei­ne Anhörung vor­zu­be­rei­ten. Dies gilt je­den­falls dann, wenn es sich - wie hier - um täglich mehr­fa­che Vorwürfe aus den ver­gan­ge­nen zwei Wo­chen han­delt. Denn nur dann wird die Ar­beit­neh­me­rin in den Stand ver­setzt, ge­ge­be­nen­falls zu re­cher­chie­ren, ob in den ver­gan­ge­nen zwei Wo­chen an den ein­zel­nen Ta­gen tatsächlich die An­nah­me der Ar­beit­ge­be­rin zu­trifft oder von ei­nem an­de­ren Sach­ver­halt aus­zu­ge­hen ist.

 

- 17 - 

For­mal be­deu­tet das, dass ein Anhörungs­gespräch im Rah­men ei­ner Ver­dachtskündi­gung nicht so aus­ge­stal­tet wer­den darf, dass ei­ne Ar­beit­neh­me­rin sich al­lein ei­ner größeren Grup­pe von Vor­ge­setz­ten ge­genüber sieht, oh­ne zu­vor auf das The­ma des Gespräches hin­ge­wie­sen wor­den zu sein. Die Ar­beit­ge­be­rin hat bei der Ein­la­dung zum Anhörungs­gespräch zu­min­dest auf den The­men­kreis wie et­wa „Anhörung im Vor­feld ei­ner be­ab­sich­tig­ten Kündi­gung we­gen fal­scher Ar­beits­zeit­auf­zeich­nun­gen“ hin­zu­wei­sen, da­mit die Ar­beit­neh­me­rin in den Stand ver­setzt wird, sich auch men­tal auf ein sol­ches Gespräch vor­zu­be­rei­ten und ge­ge­be­nen­falls ei­ne Ver­trau­ens­per­son wie bei­spiels­wei­se ein Be­triebs­rats­mit­glied oder ei­ne Rechts­anwältin hin­zu­zu­zie­hen.

3.
Die vor­ste­hen­den Ausführun­gen können grundsätz­lich auch im Zu­sam­men­hang mit der hilfs­wei­se or­dent­li­chen Ver­dachts- und Tatkündi­gung her­an­ge­zo­gen wer­den. Denn auch hier ist ei­ner­seits ei­ne Ab­mah­nung der Kläge­rin die ge­bo­te­ne mil­de­re Sank­ti­on und an­de­rer­seits ist auch die Anhörung der Kläge­rin durch die Be­klag­te im Zu­sam­men­hang mit der Ver­dachtskündi­gung ent­spre­chend un­zu­rei­chend. Der Prüfungs­maßstab ist in­so­weit bei der or­dent­li­chen Kündi­gung nicht an­ders als bei der außer­or­dent­li­chen.

 

III.

Die Kos­ten­ent­schei­dung folgt aus § 64 Abs.6 ArbGG in Ver­bin­dung mit § 97 ZPO. Als un­ter­le­ge­ne Par­tei hat die Be­klag­te die Kos­ten des Be­ru­fungs­ver­fah­rens zu tra­gen.

Die Zu­las­sung der Re­vi­si­on gemäß § 72 Abs.2 ArbGG kam nicht in Be­tracht, da die ge­setz­li­chen Vor­aus­set­zun­gen nicht vor­ge­le­gen ha­ben.

 

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R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g

Ge­gen die­se Ent­schei­dung ist kein Rechts­mit­tel ge­ge­ben. Die Be­klag­te wird auf die Möglich­keit der Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de gemäß § 72 a ArbGG hin­ge­wie­sen.

 

W.

L.

N.

 

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